Jede Geschichte, in der es um eine epische Suche oder Mission geht, etwa der „Hobbit“ oder der „Herr der Ringe“, beginnt mit einem Aufruf zum Handeln. Die Hobbits sind ein bisschen wie Studenten. Sie leben an einem geschützten Ort, sind nicht besonders groß oder schlau, und wissen nichts über die große, weite Welt, in der die Kräfte des Guten und Bösen miteinander ringen. Aus irgendeinem Grund wird ein Hobbit, der etwas abenteuerlustiger als die anderen ist, dazu aufgerufen, etwas zu tun. Ein Zauberer, also eine magische Figur, die sehr alt und sehr weise ist, die im Grunde genommen Gott sein könnte, sagt zu ihm: „Es ist an der Zeit, dass Du ein Dieb wirst.“ Was für eine seltsame Sache.
Im „Hobbit“ wird Bilbo dazu aufgerufen, einen Drachen zu suchen. Der Drachen hat einen Schatz. Auch das ist seltsam. Was ist mit den Drachen los? Sie bewachen entweder Jungfrauen, wie in der alten Legende von Sankt Georg, oder Gold. Das ist ein merkwürdiges Verhalten für eine Raubechse. Aber wir akzeptieren es einfach, ohne zu murren. Natürlich lebt ein Drachen in einem Berg, der von Zwergen ausgehöhlt wurde, und bewacht einen Schatz!
Warum haben wir kein Problem mit solchen Ideen? Selbstverständlich glaubt niemand wortwörtlich an den „Hobbit“. Aber wir lesen das Buch bis zum Ende. Oder gehen millionenfach ins Kino, um uns die Filme anzuschauen. Gleiches gilt für „Harry Potter“. Wieviel Geld hat dieses Phänomen eingespielt? Ich wette, Harry Potter hat mehr Gewinn gemacht, als die übrig gebliebenen britischen Stahlwerke.
Natürlich gibt es auch bei Harry Potter eine Raubechse. Sie kriecht unter dem Zauberinternat Hogwarts herum und verwandelt ihre Opfer mit einem Blick zu Stein. Bewacht diese Echse auch Jungfrauen? Naja. Wie heißt das Mädchen, das die Echse – der Basilisk – entführt? „Ginny“. Das ist die Kurzform von „Virginia“!
Harry rettet das Mädchen, in das er verliebt ist, vor einer verdammten Schlange, und wird dabei gelähmt. Was rettet Harry? Ein Phoenix! Der Basilisk beißt Harry, dieser droht, zu sterben, und ein Phoenix erscheint. Wem gehört der Phoenix? Dem Schulleiter, Dumbledore. Und was macht der Phoenix? Er weint in Harrys Wunden, der dadurch wieder zum Leben erwacht.
Eine Geschichte von Tod und Wiedergeburt
Harry Potter ist also eine Geschichte von Tod und Wiedergeburt. Der Charakter, der bereit ist, zu sterben und wiedergeboren zu werden, rettet die Jungfrau vor der Schlange. Ergibt das einen Sinn? Nun ja, Sie wissen, dass es Sinn macht, obwohl Sie nicht wirklich wissen, warum es Sinn macht.
Was passiert eigentlich mit dem Phoenix, nachdem er Harry gerettet hat? Er geht in Flammen auf und wird wiedergeboren. Die Geschichte wird also zweimal erzählt: Das Ding, das stirbt und wiedergeboren wird, ist das Ding, das die Schlange bezwingt und das „Feminine“ rettet.
Bei Harry Potter geht es nicht um Gold, aber das macht nichts, es ist dieselbe Geschichte. Es ist immer die gleiche Geschichte. Und was passiert, wenn man diese Geschichte nicht kennt? Etwa, weil man in einer Gesellschaft lebt, die einen nicht mit reichhaltigen Geschichten versorgt, die sich direkt aus ihrer kulturellen Tradition ableiten? Nun, dann wird die Geschichte, voll ausgeformt, in der Fantasie einer genialen Person erscheinen, zum Beispiel einer arbeitslosen Sozialhilfeempfängerin aus Großbritannien, die sieben Bücher raushaut und reicher als die Queen wird.
Die Geschichte von Joanne K. Rowling, der Autorin von Harry Potter, ist eine Aschenputtel-Story. Es ist ein unglaubliche Geschichte. Und jetzt haben Millionen Kinder mit Hilfe dieser Bücher lesen gelernt, und Millionen Menschen haben die Verfilmungen gesehen. Aber keiner versteht, was er da wirklich macht, wenn er Harry Potter liest oder schaut. Dass es der selben alten Geschichte folgt.
Dieser Beitrag ist ein Ausschnitt aus dem Vortrag „Personality Lecture 03: Mythological Elements of the Life Story – and Initiation“. Hier geht’s zum Original-Vortrag auf dem YouTube-Kanal von Jordan B. Peterson.
Beitragsbild: Creative Commons CC0 Pixabay
Am Ende des Artikel wird völlig zu recht erkannt: "Und jetzt haben Millionen Kinder mit Hilfe dieser Bücher lesen gelernt". Das ist doch erst mal gut und richtig. Für meine Kinder waren Herr der Ringe und Harry Potter ebenfalls lese-lern Bücher. Ich hoffe darauf, dass sich dieser lese Trend meiner Kinder nun auch auf weitere geschichtshistorische Bücher oder die Klassiker der Literatur ausdehnt. Schlimm ist, für mich, dass sich jetzt auch noch die vielbändige Karl May Triologie in das lese-lern Vergnügen eingeschlichen hat. Verbieten kann man Karl May ja nun auch nicht, nur weil es so unendlich viele Bände sind. Besser als Handy spielen, auf jeden Fall...... und die Hoffnung bleibt.
Ach Du meine Güte, Herr Peterson, wollen Sie etwa andeuten, Mittelerde würde es gar nicht geben? Da wissen Neuseeländer aber anderes zu berichten. Und daß Drachen Schätze bewachen, ist ein "alter Hut". Die Nibelungenlied - Gesellschaft weiß zu berichten ... muß Sigurd in der Edda auf der Gnitaheide den Drachen Fafnir töten, um das Gold an sich zu bringen ... . Und die Edda ist eine mündliche Weitergabe von Abenteuern und Heldentaten, die sich in vorchristlicher Zeit zutrugen, und immer phantastischer wurden, bis sie dann im 13. Jahrhundert niedergeschrieben wurde. Diese Erzählung diente dazu, die Welt zu erklären, die Phantasie zu beflügeln und spornte die Männer zum Nacheifern an. Nebenbei, für Drachen ist Gold, was der Speck in der Mausefalle ist. Das Drachenfutter kommt, aus Gier nach Gold, von selbst angelaufen und muß, fein durchgebraten, nur noch aus der Rüstung gepolkt werden. Und dieser Tolkien war ja nicht irgendein Phantast, sondern beschäftigte sich mit den Mythen und Legenden der nördischen Völker, weswegen ein Drache eben Gold hortet und nicht, sagen wir mal, Briefmarken sammelt oder Porzellanteller mit Katzenbildchen.
Lieber Herr Peterson, was macht Sie da so sicher, dass niemand - ausser Ihnen natürlich - versteht, worum es in diesen alten und immer neuen Geschichten geht?
ich habe als Kind Herr der Ringe gelesen und war damals bass erstaunt, dass das ein so geschätztes Buch war und ist. Dass Erwachsene Rowlings Märchen lesen, kann ich nicht nachvollziehen und jedes Mal, wenn ich im Flieger jemanden neben mir sitzen habe, der Kinderbücher liest, schäme ich mich für diese kindlichen Erwachsenen. Das ist Regression.
Liebe Frau Hirsch, ich kann mich nur anschließen. Ich wuchs atheistisch und ohne Vater auf und habe mich bei allen wichtigen Entscheidungen meines Lebens gefragt wie Tarzan in meiner Lage gehandelt hätte. Ich habe es nie bereut und und bin dankbar, dass ich durch den Autor Edgar Rice Burroughs prägende Werte wie Edelmut, Loyalität und Tapferkeit erfahren durfte. Tarzan war für mich immer mehr Religion als ein Abenteuer-Roman.
Ich empfehle dem geschätzten Autor mit seinen Kindern oder Enkeln "Tarzan" zu lesen. Er wird ganz schnell verzaubert sein und verstehen, dass die Tarzan-Romane jahrzehntelang die meistgelesen Bücher weltweit waren. Tarzan ist ein edler Held, dessen Handeln vorbildlich ist, während er zugleich seine wilde Natur auslebt.