Auch in der Wissenschaft bestimmen längst Ideologen, was diskutiert und erforscht werden darf. Es gilt als absolutes Tabu, unterschiedliche Stärken und Schwächen der Geschlechter als naturgegeben zu betrachten. Doch damit ist niemandem geholfen.
Die Schlacht um Wahrheiten wird seit jeher auf einem Schlachtfeld geschlagen, über dem der Zeitgeist schwebt. Exekutiert wird dieser Zeitgeist derzeit vorrangig von einer Allianz aus Linksintellektuellen in Wissenschaft und Medien, die mit nicht unerheblichem Erfolg kontrollieren, was als diskutabel oder schlicht als wahr zu gelten hat. Für den Wissenschaftsbetrieb bedeutet diese Re-Ideologisierung nicht selten, dass bestimmte Erkenntnisse, so fundiert sie auch sein mögen, als nicht mehr veröffentlichungs- oder förderungswürdig erachtet werden, bestimmte Forschungszweige verschwinden oder langsam austrocknen. Darüber hinaus führt es aber auch fast zwingend dazu, dass der Transfer von unerwünschten wissenschaftlichen Erkenntnissen in den gesellschaftlichen Diskurs ins Stocken gerät oder nur noch bruchstückhaft geschieht, was dann zu solchen Ergebnissen führen kann, um die es im Folgenden geht.
Eine gestandene Redakteurin aus dem Politik-Ressort der Welt zeichnete kürzlich für ein Stück mit dem Titel „Eklatante Schwäche von Mädchen in Mathematik“ verantwortlich. Es handelt davon, dass trotz verschiedener schulischer und außerschulischer naturwissenschaftlicher Förderprogramme für Mädchen die Dinge sich nicht so entwickelt haben wie erhofft. Und davon, dass es dafür nur einen Grund geben kann.
Lassen wir zunächst die Autorin des hier interessierenden Welt-Artikels, Sabine Menkens, zu Wort kommen:
„Eigentlich hatte man gehofft, diese Form von Geschlechterstereotypien zu überwinden: dass Jungs angeblich besser rechnen können und Mädchen besser reden, dass männliche Jugendliche sich eher für Mathe und Physik interessieren und weibliche für Deutsch und Gesellschaftswissenschaften. Es gibt Girls Days, MINT-Mädchenförderkurse und Initiativen wie Komm, mach MINT. Und trotzdem bleiben Frauen in den Berufen, die sich mit Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik – kurz: mit MINT-Fächern – befassen, aller guten Verdienstmöglichkeiten zum Trotz, unterrepräsentiert. Schlimmer noch: Schon in der Grundschule öffnet sich die Kluft zwischen Jungen und Mädchen im Fach Mathematik.“
Die Journalistin beschreibt das Problemfeld ja teils durchaus zutreffend. Als Ursache für die geschilderten Probleme kommt ihr aber nur die Geschlechterstereotypie in den Sinn. Sie hält also die von ihr beschriebenen Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Jugendlichen für eine bloße Zuschreibung, so dass die beklagten Unterschiede doch eigentlich durch Maßnahmen wie Girls Days oder auch etwas anspruchsvollere Aktivitäten veränderbar sein müssten. Die Tatsache, dass das trotz aller Bemühungen bisher nicht funktioniert hat, lässt sie ratlos zurück. Zumal alles noch viel schlimmer ist, denn: „Dieser Trend hat sich sogar verschärft“, ungeachtet aller gegenteiliger Bemühungen. Es sei nicht gelungen, „die Benachteiligung der Mädchen im Fach Mathematik zu überwinden“.
Ein beunruhigender Trend
Der hinzugezogene Experte stößt in das gleiche Horn: Die sich weiter öffnende Kluft zwischen den Geschlechtern sei „beunruhigend“ und „wir haben noch nicht den Königsweg gefunden, wie wir mehr Mädchen für MINT-Ausbildungen und MINT-Studiengänge gewinnen können“, meint Olaf Köller, ein hochrangiger Professor der Pädagogischen Psychologie am Leibniz Institut für Bildungsforschung, etwas beschönigend. Denn offenbar wurde bisher überhaupt kein Weg gefunden, wenn sich der beklagte Trend zwischenzeitlich auch noch „verschärft“ hat.
Aber Olaf Köller hat nicht resigniert und kommt der wackeren Redakteurin mit seiner neuen Idee: „Wir müssen Lehrerinnen und Lehrer dafür sensibilisieren, mit welchen mathematischen Aufgabenstellungen man Mädchen kognitiv aktivieren kann.“ Und er weiß auch schon wie: „Das sind typischerweise Kontexte aus dem sozialen Umfeld der Mädchen, wo sie lernen, dass sie zur Lösung gesellschaftlicher Probleme beitragen (…).“ Leider wird diese interessante Perspektive – im Matheunterricht etwas für die Lösung gesellschaftlicher Probleme zu tun – nicht weiter ausgeführt. Der Artikel mäandert dann etwas ziellos dem Ende entgegen, um schließlich bei einer anderen Problemgruppe zu landen: den Jugendlichen mit Migrationshintergrund.
Jeder zweite von denen, so Köller bemerkenswert direkt, gehe nach der Sekundarstufe II nicht in eine berufliche Ausbildung, „sondern ins Übergangssystem. Wenn es dort gut läuft, endet das in einer wenig qualifizierenden Ausbildung, wenn es schlecht läuft, gleich auf dem Sozialamt“. Damit will der Bildungsforscher offensichtlich darauf hinweisen, dass von den Jugendlichen mit Migrationshintergrund an der MINT-Front noch deutlich weniger zu erwarten ist als von den deutschen Mädels. Im Zusammenspiel von niedrigen Kompetenzniveaus in den MINT-Fächern und der demographischen Entwicklung erwartet er zukünftige „dramatische“ volkswirtschaftliche Folgen.
Erhebliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern
In seiner zwar bereits 2009 erschienenen, aber im Kern immer noch aktuellen und sehr lesenswerten Monographie Intelligenz – Fakten und Mythen hat der Hochbegabungsforscher Prof. Detlef H. Rost bereits seinerzeit festgestellt: „Die Erörterung von Unterschieden in der intellektuellen Leistungsfähigkeit zwischen Jungen bzw. Männern und Mädchen beziehungsweise Frauen birgt gesellschaftlichen Sprengstoff.“ Aber, er traute sich und bereitete den einschlägigen Forschungsstand unvoreingenommen auf: Demnach gehört zu den immer wieder bestätigten Unterschieden zugunsten des männlichen Geschlechts zunächst die Tatsache, dass diese im Bereich der mathematischen Hochbegabung – drei Standardabweichungen über dem Mittelwert – stark überrepräsentiert sind, etwa im Verhältnis 8:1.
Außerdem schneiden Jungen/Männer vor allem in den folgenden zwei, eng mit mathematischen Fähigkeiten verbundenen, Intelligenzaspekten sehr viel besser ab als Mädchen/Frauen. Das ist zum einen die Mentale Rotation, also eine gedankliche Operation, die aus der Betrachtung zwei- oder dreidimensionaler Objekte eine Vorstellung entwickelt, welchen Anblick sie nach einer Drehung bieten würden. Zum anderen Mathematisches Denken, also im Wesentlichen logisches Schlussfolgern. Diese Fähigkeiten sind zwar durchaus gezielt trainierbar. Es konnte bisher aber nicht gezeigt werden – und das ist der entscheidende Punkt –, dass davon Mädchen/Frauen systematisch stärker profitieren als Jungen/Männer. Der Unterschied zwischen den Geschlechtern verringert sich also durch ein Training nicht.
Neuere Forschungsergebnisse
Apparative Studien mittels zeitlich hochauflösenden bildgebenden Verfahren – also fMRT oder PET – haben (u.a.) gezeigt, dass Männer und Frauen bei der Informationsverarbeitung und beim Problemlösen unterschiedliche Netzwerke des Gehirns benutzen. Mehrere aktuelle, groß angelegte Studien am US-amerikanischen National Institutes of Health ergaben übereinstimmend zwischen Männern und Frauen ein konstantes Muster von Unterschieden im Volumen der grauen, nervenzellhaltigen Substanz der Hirnrinde beziehungsweise des Kortex. Außerdem fand sich ein weiterer, sehr interessanter Befund: Das räumliche Muster dieser Volumenunterschiede entsprach genau dem räumlichen Muster der Genexpression der Geschlechtschromosomen. Dabei zeigte sich, dass in Bereichen mit hoher Expression von geschlechtschromosomalen Genen die Männer größere kortikale Volumina aufwiesen als die Frauen.
Diese und ähnliche Befunde weisen zunächst einmal sehr deutlich darauf hin, dass es zwischen Männern und Frauen – auf unterschiedlichen Ebenen – ausgeprägte und gut belegte Hirnunterschiede gibt. Es wäre hochgradig naiv, zu erwarten, dass diese ohne relevante Auswirkungen auf das Verhalten im weiteren Sinne bleiben. Zu berücksichtigen bleibt ferner das bereits seit längerem etablierte psychologische Lehrbuchwissen, nach dem die Intelligenz – wenig überraschend – das Produkt von genetischer Anlage und Umwelteinflüssen ist. Weit weniger bekannt dürfte dagegen sein, dass der genetische Einfluss in den ersten beiden Lebensjahrzehnten dramatisch zunimmt, von geschätzten 20 Prozent in der frühen Kindheit auf bis zu 70 Prozent im späten Jugendalter – obwohl es sich dabei ebenfalls um Lehrbuchwissen handelt (vgl. z.B. Neyer u. Asendorpf: Psychologie der Persönlichkeit. 2018, S. 319).
Dabei stellt der erwähnte genetische Einfluss von 20 Prozent in der frühen Kindheit nur eine recht grobe Schätzung dar, weil in diesem Lebensalter eine wirklich zuverlässige und valide Messung beziehungsweise Testung einzelner Intelligenzaspekte oft noch gar nicht möglich ist. Auch deshalb gibt es noch viele wissenschaftliche Leerstellen zu der Frage, wann genau und in welchem Tempo sich einzelne Intelligenzaspekte im Kindes- und Jugendalter mehr und mehr abkoppeln von Umwelteinflüssen, und ob das zwischen den Geschlechtern immer gleichsinnig verläuft.
Selbstverständlich bedeutet sogar eine stärkere genetische Verankerung nicht automatisch auch Unveränderbarkeit durch Umwelteinflüsse, zumal auch Geschlechtsunterschiede in Interessen eine Rolle spielen, die ihrerseits aber wiederum abhängig sind von Fähigkeiten und Leistungserfolgen. Wissenschaftler wie der oben genannte Prof. Köller sind aber sicherlich sicherlich gut beraten, einer solchen Ausgangssituation mit einer gewissen Demut zu begegnen. Salopp formuliert: in Bezug auf das eingangs erörterte Mathe-Problem zwischen den Geschlechtern erst mal ganz kleine Brötchen zu backen und dann weiter zu sehen. Außerdem sollten sie es doch wohl als ihre Pflicht verstehen, unwissenden Journalistinnen ein klein wenig auf die Sprünge zu helfen, anstatt sie in ihrer ideologischen Fehlhaltung auch noch zu bestärken.
Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Wolfgang Meins ist Neuropsychologe, Arzt für Psychiatrie und Neurologie, Geriater und apl. Professor für Psychiatrie. In den letzten Jahren überwiegend tätig als gerichtlicher Sachverständiger im sozial- und zivilrechtlichen Bereich.