Es sind Progressive und Sozialisten, die von den USA und Kanada bis Spanien und Frankreich Kernkraftwerke stilllegen wollen. Sie sagen von sich selbst, dass sie zutiefst um das Klima besorgt seien. Warum wollen ausgerechnet sie Kernkraftwerke schließen – und nicht etwa die konservativen Klima-Skeptiker?
Die größten Erfolge bei der Kernenergie haben ja gerade Schweden und Frankreich zu verzeichnen, zwei Nationen, die von Sozialdemokraten und Sozialisten jahrzehntelang als Vorbild einer gewünschten Gesellschaftsform gehandelt wurden. Nur die Kernenergie, nicht etwa Solar und Wind, hat die Energieversorgung radikal und schnell dekarbonisiert, zugleich für steigende Einkommen gesorgt und den Wohlstand der Gesellschaft vermehrt. Und nur die Kernenergie hat auch den Verkehr dekarbonisiert, nämlich durch den Antrieb von Hochgeschwindigkeitszügen, etwa in Frankreich, Japan oder China. Der Verkehrssektor trägt etwa ein Drittel zu den von der Menschheit insgesamt verursachten Emissionen bei.
Warum also aus der Kernenergie aussteigen? Bei vielen Menschen liegt die Antwort auf der Hand: Unkenntnis. Nur wenige wissen, dass Kernenergie die sicherste aller Energiequellen ist. Oder dass niedrige Strahlendosen harmlos sind. Oder dass Atommüll die beste Abfallart von allen ist. Dieser Auffassung stimme ich weitgehend zu. Um weit verbreiteten Ängsten und der Unwissenheit zu begegnen, haben meine Kollegen und ich „The Complete Case for Nuclear” („Eine umfassende Argumentation für die Kernenergie“) erstellt, wo wir die aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse zusammenfassen.
Aber Unwissenheit kann nicht alles erklären. Schließlich sind die führenden Vertreter der Anti-Atombewegung in den USA öffentlich bekannte Intellektuelle – Al Gore, Bill McKibben, Naomi Klein. Sie sind hochgebildet, forschen gründlich und veröffentlichen in seriösen Publikationen wie The New Yorker, The Nation und The New York Times. Besteht das Problem etwa darin, dass Progressive die Kernenergie bewusst oder unbewusst immer wieder mit Atombomben in Verbindung bringen? Ja, das ist zweifellos ein wichtiger Faktor. Psychologen dokumentieren seit den siebziger Jahren, wie Menschen ihre Angst vor der Atombombe auf Kernkraftwerke übertragen. Aber Anti-Atom-Millennials wie Alexandria Ocasio-Cortez, 29, sind eher in Angst vor dem Klimawandel aufgewachsen als in Atomangst. Und nur wenig hat sich als schlimmer für das Klima erwiesen als die Stilllegung von Kernkraftwerken.
Sonne, Wasser und Wind wirken so natürlich
In Meinungsforschungen geben die meisten Befragten an, erneuerbare Energien zu bevorzugen. Und zwar aus demselben Grund, aus dem sie auch Bio-Produkte kaufen: Dahinter steckt ein sich auf die Natur berufender Irrtum. Der Trugschluss besteht darin, die Welt in „natürliche“ und „unnatürliche“ Dinge einzuteilen. „Natürliches“ scheint besser, sicherer oder sauberer zu sein als „Unnatürliches“. Tatsächlich aber benötigen Solarkraftwerke hundertmal mehr Landfläche als Kernkraftwerke und die zehnfache Menge an Rohstoffen. Und sie erzeugen hundertmal so viel Abfall. Windparks töten hunderttausende gefährdete Vögel bedrohter Arten und tragen zur Ausrottung der Fledermäuse bei. Sie führen sogar zum Tod von mehr Menschen, als es Kernkraftwerke tun.
Aber weil Sonnenschein, Wasser und Wind uns ein gutes Gefühl vermitteln und weil wir sie aus irgendeinem Grund für natürlicher halten als Uran, gehen wir unbewusst davon aus, dass erneuerbare Energien besser für die Umwelt seien. Andererseits wissen Investoren und Befürworter erneuerbarer Energien sehr wohl, dass Solar- und Windparks enorme Umweltauswirkungen haben. Leute wie Gore, McKibben, Klein oder die Verantwortlichen von Sierra Club und NRDC müssen sich Tag für Tag mit öffentlicher Kritik auseinandersetzen.
Googeln Sie mal ein paar Minuten, und Sie werden auf einen weit verbreiteten Widerstand an der Basis gegen Solar- und Windparks stoßen. Es ist genau die Art von Widerstand, die Gore, McKibben und Klein toll finden – aber nur dann, wenn dieser Widerstand gegen Kernkraftwerke und fossile Energien geht. Nehmen wir einmal den Widerstand gegen einen für Virginia vorgesehenen Solarpark aufgrund von Umweltbedenken:
„Die Anwohner brachten erneut ihre Bedenken zum Ausdruck, dass Unwetter die Paneele beschädigen könnten und dass dadurch Cadmiumtellurid in den Boden oder ins Wasser gelangen könnte. Das Unternehmen wies darauf hin, dass die Paneele für extreme Wetterbedingungen ausgelegt seien und dass ‚unsere Echtzeit-Überwachungssysteme es uns ermöglichen, beschädigte Paneele sofort zu identifizieren und zu ersetzen.‘“
Solar- und Windindustrie reagieren genau so, wie es Marketingexperten oft tun, wenn sie mit Umweltproblemen konfrontiert werden: Sie beharren darauf, dass es keine Probleme gebe. So betont die Solarlobby gern, dass gebrauchte Paneele gewinnbringend recycelt werden können und dass dies auch tatsächlich geschehen werde. Der Windlobby ist die Feststellung wichtig, dass gewöhnliche Hauskatzen mehr Vögel töten als Windkraftanlagen. Doch solche Behauptungen sind irreführend. Hauskatzen töten kleine, häufig vorkommende Vögel wie Rotkehlchen und Spatzen, aber keine großen, gefährdeten Vogelarten wie Adler oder Rotmilane. Und die Fachleute sind sich einig, dass es sich wirtschaftlich nicht lohnt, Solarmodule zu recyceln. Der Kauf von Neuware ist billiger.
Ja, viele Befürworter erneuerbarer Energien sind nur des Geldes wegen dabei und haben auch keinerlei Skrupel, Bündnisse mit Erdgas-Interessen einzugehen. Auch Amory Lovins wurde durch seine Arbeit für Großunternehmen reich. Doch die meisten EE-Befürworter und auch progressive, sozialistische Führungspersonen lassen sich durch tiefe, innere Überzeugungen motivieren, nicht nur durch Geld. Worum geht es dabei?
Atomkraft-Lügen
Nach dem Zweiten Weltkrieg gelangte die Arbeiterklasse in den entwickelten Ländern zu materiellem Wohlstand, was die Auffassung widerlegte, nur eine radikale, sozialistische Gesellschaftstransformation könne die Armut beenden. Radikale Kapitalismuskritiker verlagerten daraufhin ihren Blickwinkel: Das Problem sei nun nicht mehr, dass der Kapitalismus in Armut führe, sondern dass er die Umwelt zerstöre.
„Die Bedürfnisse von Industrieanlagen stehen über den Bedürfnissen des Menschen nach sauberer Luft“, schrieb der sozialistisch orientierte Umweltschützer Murray Bookchin in seinem Buch “Our Synthetic Environment” („Unsere künstliche Umwelt“) von 1962.
Der Kapitalismus schaffe Widersprüche nicht nur zwischen Menschen, sondern auch zwischen Mensch und Natur. Die „verhängnisvollen Gesetze des Marktes haben Vorrang vor den zwingendsten Gesetzen der Biologie“, schrieb Bookchin. Aber die Kapitalismuskritiker hatten da ein Problem: die Kernenergie. Denn seit den 1940er Jahren wusste jeder, dass Kernenergie die Industriegesellschaft voranbringen und dabei gleichzeitig die Luftverschmutzung reduzieren und den ökologischen Fußabdruck der Menschheit verringern konnte. In den 1970er und 1980er Jahren zeigten Frankreich und Schweden, dass sie die Luft- und Wasserverschmutzung von der Stromerzeugung entkoppeln konnten. Dies geschah einfach durch den Bau von Kernkraftwerken, die Kohle- und Ölkraftwerke ablösten.
Das „Problem“ mit der Kernenergie war also dieses: Kernenergie stellte unter Beweis, dass wir die Gesellschaft keineswegs radikal umorganisieren müssen, um Umweltprobleme zu lösen. Wir brauchen lediglich Kern- statt Kohlekraftwerke zu bauen. Daher attackierten die Umweltschützer der Neuen Linken die Kernenergie als irgendwie schlecht für die Umwelt. Es gab nicht viel, worauf sie sich dabei berufen konnten, aber sie arbeiteten mit dem, was sie hatten. Sie machten ein großes Theater um das leicht erwärmte – und saubere – Wasser, das aus Kernkraftwerken kommt. Sie brachten die Öffentlichkeit zu der Annahme, Atommüll sei flüssig, grün und gefährlich, obwohl er in Wirklichkeit fest und metallisch ist und noch nie jemandem geschadet hat.
Umfassende erneuerbare Agenda
Vor allem aber zeigten sie den Babyboomern in den USA, die in den fünfziger und sechziger Jahren durch Zivilschutzübungen und endlose Atomwaffentests traumatisiert wurden, einen Weg, ihren latenten Wunsch nach einer Abrechnung mit den Nuklearwaffen zu erfüllen: durch Verhinderung und Stilllegung von Kernkraftwerken.
In angesehenen liberalen Publikationen wie The New Yorker und Foreign Affairs setzten sie sich für erneuerbare Energien ein. Die seien nicht nur besser für die Umwelt, sondern auch für die Gesellschaft. Dabei verwendeten sie genau dieselben Argumente, die heute in den USA für den Green New Deal vorgebracht werden.
„Selbst wenn Kernenergie sauber, sicher, wirtschaftlich, mit reichlich Brennstoff versorgt und sozial unbedenklich wäre“, sagte der Gottkönig der Erneuerbaren, Amory Lovins, im Jahr 1977, „wäre sie immer noch ungeeignet, nämlich wegen der politischen Bedeutung der Art von Energiewirtschaft, in die sie uns hinein zwingen würde.“ Welche Art von Energiewirtschaft wäre das denn? Eine florierende, saubere und energiereiche. „Wenn Sie mich fragen, käme es für uns einer Katastrophe gleich, eine Energiequelle zu erschließen, die sauber, billig und reichlich vorhanden wäre, weil wir so viel damit erreichen könnten“, erklärte Lovins.
Vor acht Jahren brachte die sozialistisch und ökologisch orientierte Schriftstellerin Naomi Klein die gleichen Argumente wie Bookchin und Lovins in ihrem langen Beitrag „Capitalism vs. the Climate” („Kapitalismus gegen Klima“) in The Nation. „Echte Klimalösungen“, betont sie, „sind diejenigen, die … Einfluss und Kontrolle auf die Gemeindeebene verlagern, sei es durch kommunal kontrollierte erneuerbare Energien, lokale ökologische Landwirtschaft oder Verkehrssysteme, die ihren Nutzern gegenüber wirklich verantwortlich sind.“ Klein weitete ihr Argument zu einem Buch aus. Um zu unterstreichen, wie umfassend sie ihre Agenda sieht, gab sie ihrem Buch den Titel “This Changes Everything” („Dies ändert alles“).
„Kurz gesagt“, erläutert Klein, „überdeckt der Klimawandel den bestehenden Argumentationsansatz für praktisch alle lehrbuchmäßigen progressiven Forderungen und fasst diese zu einer kohärenten Agenda zusammen, die auf einem klaren wissenschaftlichen Gebot basiert.“
Deutsche Energiewende kostet 580 Milliarden Dollar
Kein Wunder also, dass der Green New Deal sämtliche progressiven Forderungen aufgreift: Nachrüstung von Gebäuden und Stromnetzen, Subventionierung nachhaltiger Landwirtschaft in Familienbetrieben, öffentlicher Nahverkehr, Wiederherstellung von Ökosystemen, Entsorgung gefährlicher Abfälle, internationale Hilfe, Arbeitnehmerschulungen. Und die Liste geht noch viel weiter.
„Das ist überhaupt kein ‚Programm‘“, bemerkt Charlie Cook im National Review. „Es handelt sich vielmehr um eine allumfassende Wunschliste, einen Lieber-Weihnachtsmann-Brief ohne Form, Zweck, Grenzen oder Orientierung an der Wirklichkeit.”
Richtig! Und diese Wunschliste ist schlichtweg überflüssig, um die Treibhausgasemissionen zu reduzieren – nämlich dann, wenn man Kernenergie einsetzt. Man vergleiche nur Deutschland und Frankreich! Deutschland hat bereits viel von dem umgesetzt, was der Green New Deal vorsieht. Bis 2025 wird das Land 580 Milliarden Dollar für erneuerbare Energien und die damit zusammenhängenden Ausrüstungsinvestitionen ausgegeben haben, während zugleich die Kernkraftwerke stillgelegt werden.
Und was bekommt Deutschland für seine „Energiewende“? Um 50 Prozent höhere Strompreise, stagnierende Emissionen und eine Stromversorgung, die 10-mal CO2-intensiver ist als die Frankreichs. Frankreich hingegen hatte einfach Kernkraftwerke gebaut. In den letzten zehn Jahren aber versuchte Frankreich, Deutschland nachzuahmen. Was war die Folge? Frankreich gab 30 Milliarden Dollar für erneuerbare Energien aus, die CO2-Intensität seiner Stromerzeugung stieg, und die Strompreise stiegen auch. Frankreich, Deutschland und alle anderen konkreten Fälle zeigen, dass Kernenergie der einzige Weg ist, um die Energieversorgung signifikant, nachhaltig und kostengünstig zu dekarbonisieren und damit dem Klimawandel entgegenzuwirken.
Das Problem mit der Kernenergie ist, dass sie ohne die radikale Gesellschaftstransformation auskommt, die die erneuerbaren Energien fordern. Kernenergie kommt auch ohne die grandiosen Phantasien einer Menschheit aus, die eins ist mit der Natur. Kernenergie braucht auch keine Umverteilung von Milliardenbeträgen an progressive Interessengruppen – im Namen kommunaler erneuerbarer Energien, lokaler ökologischer Landwirtschaft oder öffentlicher Verkehrssysteme. Was die Kernenergie tut, ist folgendes: Sie steigert den gesellschaftlichen Wohlstand, erhöht die Einkommen und entkoppelt die Wirtschaft von Umweltverschmutzung und Umweltzerstörung. Kein Wunder, dass sie so sehr gehasst wird!
Dieser Beitrag erschien im englischen Original bei Forbes. Die deutschsprachige Übersetzung erschien zuerst auf nuklearia.de.
Michael Shellenberger ist Gründer und Präsident der US-Umweltorganisation Environmental Progress. Er setzt sich weltweit für Umweltschutz durch Kernenergie ein. Sein Engagement trug 2017 maßgeblich zum Erhalt der Kernkraftwerke in den US-Bundesstaaten New York und Illinois bei. Sein TED-Talk „How fear of nuclear power is hurting the environment” wurde über 1 Million Mal abgerufen.