Viel mehr als die meisten glauben, sind Fußballergebnisse ein Produkt des Zufalls.
Stellen Sie sich vor, Sie würfeln. Bei „gerade“ erhalten Sie das Bundesverdienstkreuz, bei „ungerade“ verlieren Sie ihren Job. Das ist grob gefasst die Situation eines Fußballtrainers. Nach dem ersten WM-Spiel Spaniens, dem 7:0 gegen Costa Rica, wurde der arme Louis Enrique vom eigens angereisten König Felipe persönlich zum besten Fußballspiel beglückwünscht, das er, Felipe, jemals im Leben gesehen hätte. Eine Woche später war er arbeitslos.
Viel mehr als die meisten glauben, sind Fußballergebnisse ein Produkt des Zufalls. Man frage nur die Leute, die damit ihr Geld verdienen, die Wettanbieter. Vor dem Japan-Deutschland-Spiel wurde die Wahrscheinlichkeit für einen Japan-Sieg auf 12 Prozent geschätzt, das heißt in ein bis zwei von zehn Fällen passiert so etwas eben. Da kann der gute Hansi Flick machen, was er will. Hätte Takumo Asano nach der viel kritisierten Herausnahme von Ilkay Gündogan nur einige Zentimeter weiter rechts geschossen, wäre Flick noch heute der Liebling der Nation. Und würde womöglich wegen der weisen und vorausschauenden Schonung seines Spielmachers Gündogan sogar gelobt.
Louis Enrique hätte sich im verlorenen Japan-Spiel verzockt, nur seine B-Elf aufgestellt, daher die Niederlage und der Bruch im Spielverständnis hinterher. Beim ersten deutschen WM-Sieg 1954 hatte Sepp Herberger im ersten Ungarn-Spiel auch seine B-Elf aufgestellt und 3:8 verloren. Das wurde ihm später als genialer Schachzug ausgelegt.
Dieses hinterher-alles-besser-wissen erinnert an die abendlichen Kommentare von Börsenexperten, warum der DAX gefallen ist: Der Ölpreis ist gestiegen/gefallen oder gleich geblieben, der Sultan von Brunei hat sich das Bein gebrochen und dergleichen. Das ist eine tief verankerte menschliche Sehnsucht, in den Vorfällen des Lebens eine Erklärung, einen Sinn zu sehen. Und wenn keiner da ist, wird eben einer hineinprojeziert.
Hätte der Schweizer Schiedsrichter seine Brille aufgehabt...
Der Zufall im Sport wirkt umso mächtiger, je homogener das Leistungsniveau. Der Boxer Rocky Marciano konnte 49 Kämpfe hintereinander gewinnen. Das passiert im Fußball weder Bayern München noch Real Madrid. Hier sind die Spitzenteams sehr homogen. Auf jeden Fall auf Länderebene, wo man sich keine gute Mannschaft zusammenkaufen kann. Wer wurde Fußball-Europameister 2004? Am Start waren alle großen Teams des Kontinents, aber gewonnen hat letztendlich Griechenland. Was ausnahmsweise mal korrekt als Zufall angesehen worden ist.
Aber das gilt genauso auch für uns. Neben dem ersten waren auch alle drei weiteren Deutschen WM-Erfolge, wie auch die vier Endspiel-Niederlagen, zum guten Teil Zufallsprodukte. Der Sieg gegen die Niederlande 1974 war womöglich die Folge eines zu Unrecht gegebenen Elfmeters, die beiden 1 : 0 gegen Argentinien 1990 und 2014 hätten genausogut auch spiegelbildlich ausfallen können. Und das verlorene Endspiel 1966 wäre vielleicht gewonnen worden, hätte der Schweizer Schiedsrichter seine Brille aufgehabt.
Es wird daher immer wieder versucht, diese Macht des Zufalls im Fußball zu brechen, etwa durch Vergrößerung des Tores. Dann gewönne, was auch stimmt, die bessere Mannschaft mit größerer Wahrscheinlichkeit. Wie etwa im Handball. Da sind Spielergebnis von 34 : 21 keine Seltenheit, und der deutsche Meister 2021/22, der SC Magdeburg, hatte 32-mal gewonnen, kein Unentschieden und nur zweimal verloren. Davon kann selbst Bayern München nur träumen.
Aber wollen wir das? Genau diese Überraschung kreiert doch einen guten Teil der Fußballfaszination. Und auch das Verstoßen der Zufalls-Verlierer hat eine lange Tradition. Das Volk will Brot und Spiele, und da wird eben der unterlegene Gladiator den Löwen vorgeworfen. Insofern ist der arme Oliver Bierhoff ein unschuldiges Opfer archaischer Verhaltensweisen. Hätte man ihn wirklich feuern wollen, dann nicht wegen einiger zufälliger Pfostentreffer, die nicht im Tor gelandet sind, sondern weil er 2018 für den Schwachsinnsspruch „Best never rest“ verantwortlich gewesen ist. Und dass unsere Jungs mit „Germany“ auf den Trainingswesten aufgelaufen sind. Bei den Endspielteams war dagegen „France“ und „Hrvatska“ zu lesen. Auf Deutsch heißt das Kroatien.