Warum Frau Merkel meine letzte Hoffnung war

Auf eine lebenslange Laufbahn als Sänger bin ich bereits im Kindergarten geraten. In den ging ich nämlich lange Zeit, weil meine Mutter arbeitete und mein Vater als Kriegsgefangener bis 1950 ostwärts vom Ural Bäume fällte. Den Kindergarten führten sangesfreudige Diakonissen. Sie brachten mir von „Am Brunnen vor dem Tore“ bis „Lustig ist das Zigeunerleben“ viel von dem bei, was mein Leben begleiten sollte. Diese Lieder sang ich dann auch – sofern ich nicht damit beschäftigt war, Motorengeräusche zu erzeugen – während meiner ersten Flugstunden: Neben den Schienen beim Luckauer Bahnhof lagen damals von Geschossen durchlöcherte Tragflächen und Flugzeugrümpfe zum Abtransport bereit, deren Kanzeln und Steuersäulen fast unversehrt waren. Ein wunderbarer Spielplatz. Wochenlang glitt ich singend im Tiefflug über den Stadtgraben, zog eine Schleife um den Kirchturm und flog dann mit donnernden Motoren weit in die Welt hinaus.

Die Schulzeit brachte kaum neue Lieder. Gesungen wurde im Chor, ich war unaufmerksam und begann früh damit, den rätselhaften Elfen vor mir auf die Zöpfe zu starren. Dauerhaft blieb hingegen die Erinnerung an einen sonnigen Septembertag 1955. Wir saßen mit den Nachbarn im Garten um das Radio herum und hörten Wagners „Meistersinger von Nürnberg“. Das war die Wiedereröffnung der Staatsoper Unter den Linden, und Vater sagte: „Diesen Tag wirst du nie vergessen.“ Er gehörte zum Jahrgang 1920, war also neunzehn, als der Krieg begann und dreißig, als er heimkehrte. Ich muss immer daran denken, wenn die Freitagskinder plärren, wir hätten ihnen die Kindheit gestohlen. Vaters Bemühen um eine musische Bildung, für die es in seinem Leben wenig Gelegenheit gab, habe ich schon als Junge bewundert.

Einem von ihm nur zögernd unterschriebenen Einverständnis – einer seiner Brüder war während des Krieges abgestürzt und in den Trümmern verbrannt – verdankte ich dann meine nächsten Flugabenteuer: Ich wurde Segelflieger. Das klingt verwegen, aber wir hüpften zunächst nur im Schulgleiter, „Fliegender Drahtverhau“ genannt, wie Frösche vom Steilhang am Saarmunder Flugplatz. Später kam endlich die Doppelsitzerschulung. Da saß nun ein Fluglehrer hinter mir und brüllte beim ersten Mal aus gutem Grund: „Menschenskind! Fliegen heißt landen!“

Das habe ich mir gut gemerkt – es ist eine tiefsinnige und brauchbare Lebensweisheit. Auf dem Flugplatz oder vor der Scheune, in der wir auf Strohsäcken schliefen, brannten an den Wochenenden zu jeder Jahreszeit Lagerfeuer. Denn auch im Winter mussten Baustunden geleistet werden, die ebenso wie Flugstunden in das Flugbuch eingetragen wurden. An diesen Feuern habe ich viele neue Lieder kennengelernt. Neben „Flieger, grüß' mir die Sonne“ („Dein Leben, das ist das Schweben ...“) waren das mehrere aus dem Russischen übertragene Volkslieder wie „Herrlicher Baikal“, das uns besonders gefiel („Auf einer Lachstonne will ich dich zwingen ...“) oder „Lagerfeuer leuchten ferne“.

Im letzten Moment eine Lehrstelle

Unsere Weltanschauung berührte das nicht. Zum einen hatten wir die Woche über die Köpfe tief im Radio und hörten AFN oder die „Schlager der Woche“ im RIAS. Zum anderen waren da unsere häufigen Ausflüge in das Amerikahaus am Bahnhof Zoo – wegen der dort ausliegenden Zeitschrift AVIATION – oder zum Flugplatz Berlin-Tempelhof, um Flugzeuge zu fotografieren und Lockheeds Super Constellation zu sehen, das schönste Passagierflugzeug, das je gebaut wurde. Sicherlich auch wegen der dort umherlaufenden Stewardessen, besonders jener der SAS, damals durchweg blonde Schönheiten auf langen Beinen. Obwohl einer wie der andere von uns wie Elvis aussah – mit Brylcreem aufgetürmte Stirntolle, lange Koteletten, rotes oder schwarzes Feincordhemd, Jeans – waren wir ihnen keinen Blick wert. Vielleicht mochten sie Elvis nicht.

Die abweichende Weltanschauung wurde bald von den Mitgliedern einer Kommission bemerkt, die darüber entschied, ob man künftig dem Motorflugsport und schließlich den Luftstreitkräften der DDR angehören dürfe. Damit endeten meine Luftfahrten und Lagerfeuergesänge. Mit der Hilfe eines Kriegskameraden im Verkehrsministerium gelang es meinem Vater im letzten Moment – alle anderen Schüler meines Jahrganges hatten längst einen Lehrvertrag –, mir eine Lehrstelle bei der Handelsmarine zu verschaffen. Er hatte die Welt zur See ja nur als Angehöriger der Kriegsmarine erfahren können und wünschte mir eine bessere Jugend. Ich bin ihm unendlich dankbar.

Während der Matrosenlehrzeit trafen wir uns auf dem Deck des Schulschiffes. „Luke vier“ nannte sich unser Chor, die musikalische Begleitung übernahm jemand mit einem sogenannten Schifferklavier, das dort Quetschbüdel hieß. „Rolling Home“, „Magelhan, du oolen Kassen“ oder „Good night, Ladies“ wurde da gesungen. Nein, „Whisky, Johnny“ war nicht dabei, denn wir bekamen neben unserem Lehrlingsentgelt nur zweieinhalb Dollar im Monat, das waren derzeit zehn harte Mark. Whisky war dafür dauerhaft nicht zu haben. Nun gut, jene Lieder werden auf deutschen Handelsschiffen ohnehin nicht mehr gesungen. Der Beruf des Vollmatrosen hat sich gewandelt und ist selten geworden. Decksbesatzungen kommen inzwischen aus der Südsee und anderen Weltteilen und bringen bestenfalls ihre eigenen Lieder mit.

Kummer mit Seefahrtschülern gewohnt

Als ausgelernter Vollmatrose galt mein Interesse nun meist den Hafenvierteln und den leichtfertigen Frauenzimmern, die auf der Suche nach Abenteuern dort umherstreunten und an Bord kamen. Ausschweifend gesungen wurde dann freilich auch. Es gab regelrechte Gesangswettbewerbe, bei denen die männlichen Teilnehmer meist vergeblich versuchten, den Tisch zu erklimmen, während die weiblichen einen sicheren Schoß bevorzugten. Seither geht es sittsam zu, denn die Mädchen würden sich heute zwischen Containerbergen verirren.

Derlei Lotterleben endete mit der ersten Studienzeit an der Seefahrtschule. Nicht gänzlich, denn die dort herrschende Sangesfreude brachte mich und einen meiner Freunde sogar an den Rand der Kriminalität. Damals stiegen wir – nachdem wir in einer Rumflasche Platz für ein Buddelschipp geschaffen hatten – auf der Feuerleiter vom Wustrower „Strandhotel“ bis zum Dach hinauf. Unter dem Dach wohnte nämlich das Zimmermädchen Blondie, dem wir, auf der Leiter stehend, ein Ständchen darbrachten und zuriefen, wie glücklich sie mit uns beiden sein würde. Blondie war offenbar anderer Meinung und telefonierte mit dem Dorfpolizisten. Der war Kummer mit Seefahrtschülern gewohnt und beließ es bei einer Verwarnung.

Das Patent für die Kleine Fahrt geriet also nicht in Gefahr, und bald bewahrte mich ein Lied vor einer bedeutenderen Dummheit. Gemeinsam mit meiner Verlobten besuchte ich damals Großvater – stolz, weil meine Ärmel gerade die ersten goldenen Streifen trugen. Großvater war Witwer und hatte in seinem achtzigsten Jahr das Geigenspiel erlernt. Er spielte und sang uns vor: „Ich ging durch einen grasgrünen Wald“ („Sing' mir es so hübsch, sing' mir es so fein: Heut' Abend, da will ich bei ihr sein ...“). Er ist meiner Großmutter dann auch bald gefolgt. Der Bogen kratzte, Großvaters Stimme war brüchig, und ihm rann eine Träne über das Gesicht. Die junge Frau neben mir konnte ihr Lachen nicht unterdrücken. Das war il resto di niente, das Ende unserer Beziehung.

Der Wandel der Solidarität

Während jener Zeit als Nautischer Offizier war an gemeinsam gesungene Seemannslieder nicht mehr zu denken. Gleich am Beginn nahm mich ein väterlicher Kapitän beiseite und sagte: „Machen Sie sich nicht mit den Jungs gemein. Sie werden das bereuen, wenn Sie sich künftig durchsetzen müssen.“ Damit endeten sowohl die Chorgesänge als auch die Lustbarkeiten mit liederlichen Frauenzimmern. Stattdessen folgten noch einmal zwei Jahre Studium an der Seefahrtschule mit wahren Gesangsorgien in dem von uns bevorzugten Lokal. Sie glauben nicht, was Sie da versäumt haben – zum Beispiel „Auf einem Seemannsgrab, da blühen keine Rosen ...“.

Vermutlich gibt es solche Gesangsrunden von Seefahrtschülern längst nicht mehr. Stattdessen diskutieren sie nunmehr wohl im Stuhlkreis über die Häfen, in denen sie zum Schiffbruch entschlossene Afrikaner absetzen sollten. Neben den vom Seerecht gebotenen sind die moralischen Anforderungen an Nautische Wachoffiziere ja inzwischen ungeheuer gewachsen. Nebenher: Der dreiköpfige „Verein zur Beobachtung vorpommerscher Sonnenuntergänge“ hat späterhin versucht, die Gesangstradition Wustrower Seefahrtschüler zu bewahren. Doch unsere Bemühungen bescherten dem Verein ein Lokalverbot, und inzwischen bin ich das letzte lebende Mitglied.

Auch unter uns kam während des Studiums Interesse an Politik und Moral auf. Wir hörten und sangen viel von Joan Baez („Long Black Veil“ blieb eines meiner drei Lieblingslieder – ich weiß, Cash und andere konnten das auch ganz gut), Pete Seeger („Little boxes ...“) und natürlich Bob Dylan – die Schallplatten gab es ja auch in der DDR zu kaufen. Wir spendeten Blut, von dem man uns versicherte, dass es die Kämpfer in Vietnam erreichen würde. Freunde und Kameraden fuhren derweil schwere grüne Kisten zum Hafen Haiphong, obwohl sie wussten, dass es dort außer Granatsplittern und einer Malaria – bisweilen auch einem Leninorden posthum – nichts zu holen gab. Das nur am Rande, denn in den Geschichtsbüchern erscheinen nur noch jene, die während dieser Jahre in der Mensa oder auf dem Kurfürstendamm „Ho, ho, Ho-tschi-minh“ skandierten. Seither haben die Vorstellungen von Verbundenheit, von Solidarität sich offenkundig verändert: Solidarität bedeutet inzwischen nicht mehr, selbst einen Beitrag zu erbringen, sondern diesen Beitrag öffentlich lautstark von anderen zu fordern.

Im Weinberg neben uns hockte schon der Tod

Es wurde Zeit, dass ich der Frau begegnete, die nicht lachen wird, wenn ich wie Großvater mit der Fiedel dasitze und „Those were the days my friend ...“ singe. Wir liefen von Wustrow nach Born, um dort, von Sängern ungestört, Wein zu trinken. Auf dem Rückweg bat sie mich nach der ersten Strophe vom „Hamborger Veermaster“, nun still zu sein und schloss mir den Mund. Sie hat auf mancherlei Weise auch späterhin noch einige meiner Gesangsauftritte verhindert. Allein am Rande von Geburtstagsfeiern wurde mir künftig Höheres gestattet: so Schuberts „Winterreise“ mit Wilhelm Müllers schrecklich traurigen Texten („… Eine Straße muss ich gehen, die noch keiner ging zurück“) oder bei Waldspaziergängen mit Freunden vielleicht eine Arie aus dem „Freischütz“ („Was gleicht wohol auf Ehrdenn dem Jähägervergnühühühügenn …“).

Es stimmt nicht ganz, was ich da schreibe. Während unserer gemeinsamen Jahre auf See sangen wir gar nicht so selten – mit Griechen, Russen und natürlich auch mit Landsleuten. Als das vorbei war, folgten glückliche, liederreiche Sommer in Bulgarien mit festlichen Mahlzeiten und bewegenden Gesängen. Nicht nur Sommer – wir stahlen uns Jahr für Jahr monatelang davon. Der Aufenthalt war eigentlich eingeschränkt, aber niemand kam auf die Idee, den mit den Stempeln der Grenzwächter übersäten Zettel zu prüfen, den wir statt eines Passes vorlegen mussten. Wenn wir dort lebten, fühlten wir uns frei von allem, das uns bedrückte und sahen nicht, dass im Weinberg neben uns schon der Tod hockte und darauf wartete, dass die Trauben reifen würden.

Zuerst holte er Boris, unseren Gastgeber, den in Spanien entlaufenen Schiffskoch und sesshaft gewordenen Fischer. Die Lieder verstummten gänzlich, als auch Karl davonging, der mich soeben noch auf dem Klavier begleitet hatte, wenn ich wie Hans Albers „Im Hafen von Tikita“ schluchzte („Denn ich bin ja ein Seemann, der von Treue nichts weiß ...“). Der Absatz von Slatna Kotwa, einem bulgarischen Weinbrand, den man auch als Kommodenlack benutzen kann, ging damals schlagartig zurück.

Reinhard Mey im Wechsel mit deutschen Schlagern

Es hat mir das Singen ziemlich vergällt. Bis mich Torschlusspanik auf hohe Berge in Ostafrika trieb. Damals habe ich nach dem Abstieg unter dem Einfluss von Bananenbier am Marangu Gate „In einem kühlen Grunde“ gesungen und damit internationale Aufmerksamkeit erregt. Allerdings blieben die Gipfeltouren wohl nicht folgenlos – es wird ja nicht umsonst vor Hirnödemen gewarnt –, denn zehn Jahre später buchte ich bei einem russischen Reisebüro „Bergwandern auf Kamtschatka“. Eine tolle Unternehmung: Wenn wir morgens aus den verschneiten Zelten krochen, dann musste zunächst einmal der Eimer hartgefrorener Graupensuppe mit der Lötlampe aufgetaut werden. Danach ging es stundenlang durch Schneetreiben, und jeden dritten Tag jagte uns ein gnadenloser Bergführer mit Steigeisen auf einen Dreitausender.

Selbst Wodka der Marke Pjotr Welikij hielt uns kaum noch auf den Beinen, aber was half es: Mein Gott, ich war sechzig, der älteste in der Gruppe, und ich konnte doch nicht weinend bei den leeren Flaschen zurückbleiben. Unsere Hoffnungen richteten sich also auf Nalytschewo, ein besonntes Tal mit Hütten und heißen Quellen. Auf dem Weg dorthin durch mannshohes, von Schneewasser triefendes Kraut hörten wir plötzlich Gesang. Da standen wir in unserer teuren wasserdichten Goretexkleidung und sahen eine Gruppe junger Russen, fröhlich singend, durchnässt bis auf die Haut. Lediglich die Frauen hatten sich schützende Plastikbahnen um die Hüften gewickelt. „Die gefürchteten sibirischen Regimenter“, flüsterte jemand neben mir.

Mehrere Burschen aus dieser Gruppe kamen am Abend an unser Lagerfeuer: mit zwei Mundharmonikas und einem Plastikkanister, in dem fünf Liter Pjotr Welikij oder etwas ähnliches schwappten. Weitere fünf Liter enthielten sie bereits selbst. Sie stimmten bald ihre schwermütigen Gesänge an, deren Ursprung man freilich nicht auf Flaschenböden, sondern wohl eher in ihrer Geschichte suchen sollte. Vielleicht auch am russischen Himmel. Wir wurden aufgefordert, ein deutsches Lied beizusteuern. Ich schämte mich für meine Begleiter: Keiner kannte ein geeignetes Lied. Obwohl ich unter einer geradezu krankhaften Bescheidenheit leide, muss ich es hier erwähnen: Mein „Herrlicher Baikal“, das russische Lied vom Lagerfeuer der Segelflieger, rief eine Völker umspannende Begeisterung hervor. Und als Peter der Große endlich den Kanisterboden erreichte, erschallte nun auch von unserer Seite laut und anhaltend etwas von Reinhard Mey im Wechsel mit deutschen Schlagern.

Wenn Grönemeyer die gewünschte Parole brüllt

Ich habe übrigens nichts gegen Schlager, obwohl wir unseren Sohn schon früh an Heavy Metal und schließlich an Zappelgruppen verloren. Zuvor spielte er noch ohne Tadel „Ännchen von Tharau“ auf der Geige. Da kann man kaum etwas tun, und es war vielleicht gut so, denn er diente später bei der Bundeswehr. Hätte er dort etwas vom Liedgut der Deutschen – womöglich sogar das aus Ostpreußen stammende „Ännchen“ – gespielt oder gesungen, so wäre seine Einheit gewiss sofort aufgelöst worden. Bei unseren Straßenfesten, die wir hier mit drei Dutzend trotzig um ein Spanferkel gescharten Altbürgern feiern, singen die Frauen oft Schlager. (Ich finde es anziehend, dass Frauen, gleichgültig in welchem Landstrich, eher und fröhlicher als Männer ein Lied anstimmen. Vieleicht dachte der Schöpfer unserer Nationalhymne daran, als er dichtete: „Deutsche Frauen, deutsche Treue, deutscher Wein und deutscher Sang ...“)

Und es hat mich bewegt, als während einer Potsdamer Schlössernacht mehrere hundert Menschen „Über sieben Brücken musst du geh'n“ sangen und alle Strophen kannten. Freilich waren das Menschen, die – zum Teil unfreiwillig – schon über mehrere Brücken gegangen waren. Das unterscheidet sie vom Publikum nuschelnder älterer Herren, die ihre Fans mit vertonter Ideologie begeistern. „Keinen Millimeter nach rechts!“, schrie da einer von ihnen kürzlich bei einem Münchner Konzert. Seine Zuhörer tobten zustimmend und hätten jeden geteert und gefedert, der anders denkt.

Ich glaube, so haben es auch die Jugendgarden in China oder Kambodscha begonnen: Eines Tages brachten sie jeden um, wenn er nicht bereit war, irgendeine Schuld zu bekennen oder nicht rechtzeitig die Faust reckte und die gewünschte Parole brüllte: „Keinen Millimeter nach rechts!“ Sind die vielen Einschränkungen unserer demokratischen Freiheiten – in der Sprache, in der Meinung und den Medien, im öffentlichen Leben, im Hinblick auf mehrere Grundrechte bis hin zur freien Wahl eines Ministerpräsidenten –, ist die Entmachtung des Parlamentes, ist der mehrfache Bruch der Verfassung in den letzten Jahren etwa von Rechten betrieben worden?

Merkel im Teatro San Carlo in Neapel

Ja, wir nähern uns nun dem Grund, aus dem heraus ich diese Nabelschau veranstalte. Manchmal höre ich, deutsches Liedgut sei verschwunden, weil wir vom Einfluss fremder Kulturen überschwemmt werden. Soll das ein Witz sein? Eine Überschwemmung findet wahrhaftig statt, aber doch keine kulturelle. Was den Gesang betrifft, so gab es die letzten Begegnungen mit den Liedern fremder Menschen in jener Zeit, als Italiener, Griechen oder Flüchtlinge vom Balkan uns noch einluden. Später kamen vielleicht ein paar orientalische Hüpftänze hinzu, keine Lieder. Nein, wir sind es selbst, denen die eigenen kulturellen Wurzeln gleichgültig, ja peinlich geworden sind.

Hoffend richtete ich den Blick auf hochrangige Politiker und ihr Gesinde. Hatte nicht Bundespräsident Walter Scheel „Hoch auf dem gelben Wagen“ gesungen und aufnehmen lassen, war nicht Frank-Walter Steinmeier mit dem Rapper Muhabbet aufgetreten? Nun gut, der Mann, der nur mit gebrochenem Herzen an Deutschland denken kann, hatte bei der Auswahl von Sängern noch nie eine glückliche Hand. Muhabbet zum Beispiel soll die Ermordung Theo van Goghs gerechtfertigt haben.

Doch vielleicht war von der Kanzlerin Beistand zu erwarten? Auf kulturellem Pfad hatte ich sie zuvor nur im Fernsehen wahrgenommen: mit verlorenem Grinsen den Bayreuther Hügel hinaufsteigend, große Schweißflecken unter den Achseln, ein Täschchen in der Hand mit den abgenagten Fingernägeln. Aber dann diese Begegnung: Vor sechs Jahren sah ich sie mit ihrem Mann im Teatro San Carlo in Neapel. Offenkundig war Merkel auf eigenen Wunsch wegen Verdis „Otello“ von Ischia herübergekommen. Eine Neigung, die ich dieser eiskalten Person nicht zugetraut hätte.

Ach, wenn es nur die Lieder wären ...

Ich habe ja nicht erwartet, dass sie öffentlich das Lied der Deutschen singen würde – wobei mir die zweite Strophe die liebste wäre. Inzwischen verhehlt die Kanzlerin schließlich ihre Verachtung für alles Deutsche – und sei es auch nur ein Papierfähnchen – längst nicht mehr. Dennoch, auf dem CDU-Parteitag 2016 ertönten erlösende Worte, schien ein Lichtlein inmitten der sauertöpfischen Politikerkaste auf, als sie vorschlug, Zettel mit Liedertexten zu kopieren und Gesang mit der Blockflöte zu begleiten: „Ich meine das ganz ehrlich. Sonst geht uns ein Stück Heimat verloren.“

Die Delegierten lachten. Es war eine der wenigen Gelegenheiten, bei denen sie ihre Unterwürfigkeit vergaßen. Und das angesichts einer Aussage, die ihre Identität berührt und in Zeiten, in denen hunderttausende illegale Einwanderer samt Familiennachzug, deren kulturelle Eigenheiten wehrhafter als die der Deutschen daherkommen, dieses Land nach und nach bevölkern. Schade. Die Kanzlerin, ansonsten an der Meinung von Parteitagsdelegierten wenig interessiert, ließ in dieser Frage keinen Beschluss fassen.

Es war wohl auch der falsche Ort. Man hätte dorthin blicken sollen, wo einst meine Sängerlaufbahn begann: in die Kindergärten. Allerdings gibt es für ein solches Vorhaben kaum Möglichkeiten, sofern die von der Amadeu-Antonio-Stiftung (geleitet von einer ehemaligen Stasi-Spitzelin) herausgegebene Handreichung zum Umgang mit Rechtspopulismus in Kitas, gefördert von Familienministerin Giffey, befolgt wird: Sie soll unter anderem „Kinder aus völkischen Elternhäusern“ sowie ihre Angehörigen bloßstellen. So etwas geht nun zum dritten Mal in Deutschland um und wird von der Politik finanziert und von den Medien blindlings begünstigt. Wer möchte da noch sein Kind mit „völkischem Liedgut“ belasten? Ach, wenn es nur die Lieder wären ...

Foto: Bundesregierung/Bergmann

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Sabine Heinrich / 03.11.2020

Kurz vor Schluss noch schnell ein Nachtrag in Form eines Hinweises auf einen Film (auf DVD erhältlich) : “Sound of Heimat” (Untertitel: Deutschland singt!) Tut immer wieder gut - und in dieser Zeit ganz besonders!! Viel Freude beim Sehen und Lauschen!

Christian Speicher / 03.11.2020

“Meine letzte Hoffnung: MERKEL.” History repeats itself as farce.

Sabine Heinrich / 03.11.2020

@Kurt Müller: Ich höre Zorn, Verzweiflung und Resignation. Kann ich verstehen. Nun das große ABER: Gerade in Bayern und Österreich habe ich so eine bewusste Pflege auch des musikalischen Kulturgutes erlebt, in das Kinder und Jugendliche fest einbezogen SIND, dass ich keine Sorge habe, dass die alten Lieder und Weisen verlorengehen könnten. Sie werden von modernen Gruppen oft verfremdet, aber diese Musiker - wie z.B. La Brass Banda - sind hervorragende Musiker, die zwar Traditionalisten erschrecken mögen - aber andererseits dafür sorgen, dass die “Urmusik” erhalten bleibt. Und noch etwas: Bei meinen Aufenthalten vor vielen Jahren in Irland war ich begeistert, dass abends oft noch im letzten Pub plötzlich 2, 3 Männer ein Instrument hervorholten und zu spielen begannen. Und schon gesellte sich der erste - von zahlreichen nachfolgenden Männern - zu ihnen und sang. Sang - aus voller Kehle - mit viel Gefühl und Inbrunst - Balladen oder Sauflieder, die 10 oder mehr Strophen hatten. Und alle sangen mit! Jeder konnte viele Lieder mit unzähligen Strophen auswendig! Und bei uns? Da hat man Glück, wenn die Kinder noch “Hänschen klein” auswendig können. “Die Gedanken sind frei” - da stimme ich einem Kommentator zu - wird wohl bald auf dem Index stehen.

Kurt Müller / 03.11.2020

Mal sehen ob der erste Kommentar durchgegangen sein wird. Ich habe für Interessierte etwas später geschriebene Volksmusik; aber ich befürchte, das ist für die Menschen heute ‘zu viel’. Ich kenne außer mir, meiner leider schon längst verstorbenen Oma, die mir das eingepflanzt hat (zusammen angehört und z’amm fröhlich gewesen), und einem Bekannten niemandem, der unverkrampft ist und dem das aufrichtig gefällt. (Ein musikalisch gebildetes Ohr hört, das hier Meister am Werk waren - ich kenne niemanden, der das heutzutage ohne Elektronik und Vorgaben nachmachen kann.) Auf die Gefahr hin, sich lächerlich zu machen, lasse ich noch einen Testballon für Interessierte steigen, vielleicht springt der Funke über. Hier zwei Lieder einer früheren Lieblingsplatte, die ich huete noch auf CD in der dunklen Jahreszeit gerne höre. Das hat mich stark gemacht vor linksgrünen Verhetzung und Verächtlichmachung von Heimat, und es ist nicht ‘rechts’ und was alles noch hineingedichtet wird. In erzgebirgischer Mundart - ist auch deutsche Sprache, wer versteht’s? :-) Wenn man bei Youtube exakt so eingibt und dann den ersten Treffer nimmt: ‘Bleibn mer noch a wing do’, und ‘Wenn es Raachermannel naabelt (Gahr vür Gahr gieht’s zen Advent)’, oder ‘Dr Schwarzbarger Weihnachtsmark (In Schwarzenbarg zen Weihnachtsmark)’. Viel Vergnügen; wird immer weniger wie dat Plattdüütsch. Kümmert euch, Mensch! Laßt die in Berlin von linksrotgrün bis rechtsbraun quatschen, die wollen nur euer Geld und euch euer Frohgemüt mießmachen, und nehmt euch Zeit, für das was mindestens genauso wichtig ist wie die neueste Rede von XYZ - e u r e Kultur. Die Musikindustrie und ihre Musiker haben kein Interesse daran, daß man selber Kultur pflegt, die wollen, dass man inkompetent und unwissend bleibt, damit sie mehr Platten und Konzerte verkaufen. Wer keine Hausmusik oder Volksmusik kann, muss sein Leben lang Dieter Bohlen hören und kennt nur ‘d’schdegge d’schdegge d’schdegge’ (Tischdecke).

S.Niemeyer / 03.11.2020

Danke für dieses Lesevergnügen!

Esther Burke / 03.11.2020

Ich LIEBE den “Lindenbaum” , auch das Heideröslein, Freiheit. die ich meine, Und in dem Schneegebirge , Die Gedanken sind frei - und so viele andere mehr. Auch “Wachauf, wach auf, du deutsches Land, du hast genug geschlafen…” aus dem Evang. Gesangbuch . Als das los ging mit den Corona-Kontaktbeschränkungen im Frühjahr entschloss ich mich spontan, das Fenster zur Straße aufzumachen und hin und wieder diese Lieder (auf dem Klavier) zu spielen - einfach, damit die Erinnerungen - wenigstens an die Melodien - nicht ganz verschwinden mögen. - Wunderbare Geschichten, P.Werner Lange ! Herzlichen Dank !

Hermine Mut / 03.11.2020

“Ich meine das ganz ehrlich. Sonst geht uns ein Stück Heimat verloren.” - Deshalb hat “unsere ” Regierung jetzt ein Büchlein mit “100 Heimatliedern” herausgebracht . Das einzige der Lieder mit DEUTSCHEM Text kommt aus Rumänien (deutschsprachige Siebenbürger , immerhin !).

Rolf Lindner / 03.11.2020

Würde mich nicht wundern, wenn demnächst Chöre, die deutsches Liedgut pflegen, auf subversive Elemente - pardon, so hieß das in der DDR - also auf rechtspopuläres/-extremes Gedankengut tragende Mitglieder überprüft werden.

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