Egal ob Nahostkonflikt, Ukrainekrieg oder der Einfluss der Weltmächte USA, Russland und China: Europa kann sich seine idealistische Kuschelpolitik nicht mehr leisten und muss dringend wieder für eigene Interessen streiten.
Der westliche Werte-Universalismus ist in der islamischen Welt gescheitert. Die Interventionen von Afghanistan bis Mali haben Chaos und – darauf folgend – eine Stärkung des Islamismus hervorgerufen. Durch eine ungebremste Massenmigration und islamistischen Terror fällt der Fluch der Irrtümer heute auf Europa zurück. Die Logiken beider Kulturkreise, universelle Menschenrechte hier und Gottesrechte dort, sind unvereinbar.
Aus dem Zusammenprall und den Verstrickungen beider Kulturen erwachsen bis in die Strukturen von Nato und EU Fremdheit und Missverständnisse. Das Nato-Mitglied Türkei unterstützte die Eroberungen des muslimischen Aserbaidschans in Armenien. In Syrien verhalf Erdogan Islamisten zur Macht und bedroht die Kurden im Osten des Landes. Religiöse und neo-osmanische Motive haben den Verteidigungsaufgaben innerhalb des Nato-Bündnisses längst den Rang abgelaufen.
Schon der nach dem Ende des Osmanischen Reiches von den westlichen Siegermächten in die Levante implantierte Nationalstaat rief heillose Zustände hervor. Er ließ sich angesichts der multireligiösen Stammeskulturen jahrzehntelang nur mit massivster Unterdrückung behaupten. Heute ist er im Irak, im Libanon und Syrien am Ende. Diese Länder werden längst nur noch zwischen Anarchie und Islamismus hin und her gerissen. Wer sich wie die US-Armee im Irak zwischen die Fronten stellt, droht zerrieben zu werden.
Der umgekehrte Universalismus von offenen Grenzen droht unterdessen das westliche Europa nach und nach zu destabilisieren. Die Integration islamischer Kulturen droht nach dem Scheitern der Integration des Westens im Orient ebenfalls zu scheitern. Heute steht auch Europa einer wachsenden islamistischen Bedrohung gegenüber.
It's the religion, stupid!
Kulturrelativisten vermögen nicht, in religiösen Kategorien zu denken. Ihnen fehlt jeder Sinn für geokulturelle Bruchlinien. Schon aus den Balkankriegen hätten die Europäer lernen können, dass radikalisierte Muslime ab einer bestimmten Zahl die Sezession oder – wie im Falle des Libanons – die Herrschaft im Staat einfordern.
Ihre Herrschaftsansprüche beruhen im Kern darauf, dass sie Rechtgläubige und andere eben nur „Ungläubige“ sind. Ihre meist schwache soziale Stellung wird in der islamischen Welt aus der Existenz Israels und in Europa aus der „Diskriminierung“ durch ihre Gastgeber erklärt. Für die allmähliche Machtübernahme werden ihnen im weltoffenen und bis zur Selbstaufgabe toleranten Westen alle Wege der Mission und der Ausnutzung sozialer und rechtlicher Ansprüche angeboten. Ihre Trumpfkarte ist jedoch die Gebürtigkeit. Die deutsch-palästinensische Staatssekretärin a. D. Sawsan Chebli drückte es unverblümt aus: „Demographie wird Fakten schaffen.“
Das Vordringen der Migranten in die Sozialsysteme schwächt schon heute die gesellschaftliche Infra-Struktur. Von Kindergärten, Schulen, Krankenkassen bis zum Wohnungsmarkt belasten die zu großen Teilen nicht in den Arbeitsmarkt integrierbaren Migranten damit das heutige Europa. Auf das Scheitern des kulturellen Universalismus nach außen folgte sein Scheitern nach innen. Die Regenbogenideologie einer bunten Ergänzung vielfältiger Kulturen entpuppt sich als Fata Morgana.
Israel als Menetekel und Modell für Europa
Die Zugehörigkeit Israels zum Westen und dessen jüdisch-christlichen Zivilisation kann nur derjenige bestreiten, der noch nie eine Bibel in der Hand gehabt hat. Israel ist in seiner permanenten Bedrohung durch islamische Nachbarstaaten für die Europäer ein Menetekel. Auch das Schicksal der weitgehend aus dem Nahen Osten vertriebenen Christen sollte eine deutliche Warnung sein, dass es mit der Toleranz des Islams spätestens dann vorbei ist, wenn die politischen Umstände es erlauben.
Mit seiner wehrhaften Innen- und Außenpolitik ist Israel aber auch ein Modell für das postheroische Europa, welches seine Wehrhaftigkeit neuerdings nur auf Russland konzentriert und die schleichender, aber viel größere Bedrohung aus dem Süden darüber verdrängt.
Israels Politik gegenüber der muslimischen Welt beruht seit Jahrzehnten auf einem „Teilen und Bestehen“. Sie unterscheidet zwischen den heute oft gemäßigteren arabischen Staaten und den vom Iran ausgehenden islamistischen Bewegungen. Statt einer größenwahnsinnigen „Universalisierung der Menschenrechte“ betreibt Israel eine realistische „Balance of Power“, welche zwischen kleineren und größeren Übeln, zwischen gemäßigten islamischen Staaten und islamistischen Akteuren unterscheidet.
Keine Aussicht auf dauerhaften Frieden
Die einzige multireligiöse Demokratie im Nahen Osten zeigt auch erfolgreiche Wege zur inneren Integration auf. Die knapp zwei Millionen meist muslimischen Palästinenser sind in Israel kaum in die Sozialsysteme, wohl aber in die Bildungssysteme und in die Arbeitswelt integriert. Bei voller Religionsfreiheit leben sie in Koexistenz zur jüdischen Leitkultur. Ihre Loyalität gegenüber den Leitstrukturen des Staates wird nach dem Prinzip Gegenseitigkeit eingefordert.
Spätestens seit dem 7. Oktober 2023 macht sich niemand in Israel mehr Illusionen über die Art der Herausforderung, der das Land dauerhaft und in wechselnden Gestalten gegenübersteht. Auch wenn es gelungen ist, die Hamas und die Hisbollah empfindlich zu schwächen und der zur Achse des Irans gehörende Assad fliehen musste – solange der religiös fundierte Hass nicht eines fernen Tages endet, hat Israel keine Aussicht auf dauerhaften Frieden. Es wird nur in ständiger Wehrbereitschaft existieren können.
Aber das Gleiche gilt langfristig auch für Europa. Doch weder die kulturellen noch die sicherheitspolitischen Eliten Europas wollen davon viel wissen. Statt von der geokulturellen und letztlich religiös motivierten Bedrohung Israels zu lernen, versuchen westliche Moralisten Israel auf eine humane Kriegsführung gegenüber der Hamas zu verpflichten. Sie fordern eine „Zwei-Staatenlösung“, obwohl viele Palästinenser von national-territorialen Ansprüchen zu einer islamistischen Vertreibungspolitik gewechselt sind. Damit fordern europäische Gutmenschen nicht weniger als die Bereitschaft Israels zur Selbstauflösung.
Kampf für die Zivilisation
Bis 2022 waren die Bedrohungen durch den Islam in Europa weit präsenter als die russische Gefahr. Dabei ist selbst die autoritäre Oligarchie Russlands das kleinere Übel gegenüber dem totalitären Islamismus. Die Ablenkung durch eine direkte, aber kleinere Gefahr von einer indirekten Gefahr ist kaum zu übersehen.
Tatsächlich kann nur ein Wunder, in moderner Sprache, ein Paradigmenwechsel, Israel und langfristig auch Europa aus der Umklammerung durch den Islamismus befreien. Dieser Wechsel deutet sich zaghaft an in der Abkehr von den ideellen Identitäten der Kulturen und Systeme zu den Strukturen und Funktionen einer wissenschaftlich-technischen Zivilisation.
Israel ist es gelungen, auf dieser Ebene Bündnispartner in seiner Nachbarschaft anzulocken. In den Friedensverträgen mit Jordanien und Ägypten und den unter der ersten Präsidentschaft von Donald Trump schon ausgehandelten Abraham-Abkommen soll eine Handels- und Know-How-Partnerschaft auf den Weg gebracht werden.
Europa muss seine Würde und seinen Eigenwillen bewahren
Dieser Paradigmenwandel entspräche einem neuen weltweiten Trend. Im Staatenbündnis BRICS-plus spielt die Unterschiedlichkeit politischer Systeme keine Rolle mehr. Ob China, Russland oder Indien und Saudi-Arabien: es geht den Mitgliedern um eine intensivere gegenseitige Vernetzung zugunsten der eigenen Entwicklung. Für barbarische Attacken oder Kämpfe der Kulturen und Systeme ist in diesem Kampf für die Zivilisation keine Aufmerksamkeit vorgesehen.
Mit dieser Zivilisation bricht aber keine Idylle aus, wie uns David Engels verdeutlicht. Heute befinden sich die weltweit größte Medienplattform, die Automobilindustrie der Zukunft, die Mittel zur Eroberung des Weltraums, die Satellitenkontrolle über die Erde und die Technologie zur Verbindung des menschlichen Gehirns mit Computern in einer Hand. Und diese Hand arbeitet im Verbund mit einer anderen, welche die militärische und finanzielle Macht der Vereinigten Staaten, das enorme Gewicht des Dollars, das größte nukleare Arsenal und die Begeisterung der breiten Massen kontrolliert – zumindest vorübergehend, womit er natürlich das Duo Trump und Musk meint.
Ob wir wollen oder nicht, früher oder später würden Medien, Kultur, Politik, Wirtschaft und Finanzen ein einziges großes System bilden, das der Machterweiterung eines Einzelnen oder zumindest einer kleinen Elite dient. Europa könne demgegenüber nur seine Würde und seinen Eigenwillen bewahren, wenn es sich denn einig zeige.
Selbstbegrenzung nach außen und Selbstbehauptung nach innen
Am 7. Oktober 2023 genügte ein Tag der Unaufmerksamkeit, um Israel in eine Katastrophe zu stürzen. Die andauernde Realitätsverweigerung Europas droht mit immer neuem Terror Europa zu destabilisieren. Die Reaktionen – etwa auch auf Hunderte von angezündeten Kirchen in Frankreich – ähneln einer schleichenden Kapitulation vor einer religiös legitimierten Barbarei.
Im Regenbogendenken durfte es Grenzen nur als „offene Grenzen“ geben. Statt um Universalismus und Globalismus geht es in Zukunft um Koexistenz und Eindämmung. Auch beim Aufbau einer neuen Nahost-Politik werden Strategien des Kalten Krieges wieder aktuell. Koexistenz und Konnektivität, wo immer möglich, Abgrenzung und Eindämmung, wo immer nötig.
In der Strategie der Selbstbegrenzung nach außen und der Selbstbehauptung nach innen hängt alles zunächst an der Erkenntnis der eigenen Grenzen, die es nach außen nicht zu überschreiten und nach innen zu halten gilt. Der Abschied von einer erfolglosen Interventionspolitik, geht heute ausgerechnet von den USA aus, die in den vergangenen Jahrzehnten unablässig auf weltweite Hegemonie gedrängt hatten und das NATO-Bündnis dafür in die Pflicht nahm.
Neuer multipolarer Imperialismus
Donald Trump hat demgegenüber eine neue Realpolitik im Sinn. Die Sicherung der eigenen Grenzen und der eigenen Hemisphäre müsste darin einhergehen mit der Anerkennung der Macht- und Interessensphäre anderer Weltmächte. Er will die Interessen der USA nicht am Hindukusch, sondern an den eigenen Grenzen und in der amerikanischen Hemisphäre, zu der er Panama und Grönland hinzurechnet, verteidigen. Dieser neue Imperialismus könnte mit einem dementsprechend defensiven Imperialismus auf russischer und chinesischer Seite kompatibel sein, wenn sich alle Mächte mit ihrer Selbstbehauptung zufrieden geben.
Seine neue Nahostpolitik ist noch unklar. Schon vor seinem Amtsantritt zwang er Israel zu einem Abkommen, welches im Austausch für Geiseln auch Terroristen der Hamas freilassen muss und dessen Waffenruhe die definitive Vernichtung der Hamas verhindert. Andererseits wollen die USA künftig die UN-Flüchtlingsorganisation für Palästinenser UNRWA, die der Beihilfe zum Terror bezichtigt wird, nicht weiter finanziell unterstützen. Eine Anknüpfung an die von Trump initiierten Abraham-Abkommen ist wahrscheinlich.
Dekadente Form von Demokratie
Vor allem die NATO-Außenpolitik wird zum Spaltpilz an den Rändern der EU. Jedenfalls in Georgien, Serbien, Moldawien und zuletzt in Rumänien wenden sich Wähler bereits eher nach Osten als nach Westen. Deshalb wurden die Wahlen in Georgien und Rumänien von der Neo-Aristokratie Brüssels, die noch in den Kategorien der gebotenen Universalität des Westens denkt, umgehend in Frage gestellt.
Die Mitteleuropäer bestehen als gebrannte Kinder von Utopien auf gesundem Menschenverstand. Dem Niedergang bürgerlicher Selbstbehauptungswerte zugunsten woker Werte im Westen verweigern sich die mitteleuropäischen Staaten, insbesondere Ungarn und die Slowakei. Polen und Ungarn kontrollieren ihre Grenze und differenzieren damit nach denjenigen, die kommen sollen oder nicht kommen dürfen. Selbst das heute eher „progressiv“ regierte Polen verweigert sich der Zuwanderung aus dem islamischen Kulturkreis. Zumindest in einigen Staaten Mitteleuropas darf man darauf hoffen, dass dort das alte Europa des Christentums, der Aufklärung und bürgerlicher Lebensformen weiterbestehen wird.
Die Ängste vor Niedergang und Untergang gelten vor allem Westeuropa, welches eine dekadente Form von Demokratie praktiziert. Dekadenz heißt, nicht mehr kämpfen zu wollen. Der Wind des Wandels weht heute sowohl aus den USA als auch aus Mitteleuropa in die westeuropäischen Häuser hinein. Es gibt nichts Mächtigeres als eine Idee, deren Zeit gekommen ist. Die amerikanische und mitteleuropäische Idee heißt, sich von einer Politik der Überdehnung und Selbstauflösung zu einer Politik der Verteidigung der eigenen Landes und der eigenen Hemisphäre zu bewegen.
Vor allem die Regenbogen-Romantiker in Deutschland wollen ihre alten Träume – und neuen Pfründe – nicht loslassen. Wer nicht lernen will, muss leiden. Womöglich wird der Abschied vom Regenbogen nur über eine Unzahl von Terrorattacken und weitere Demütigungen unseres Stolzes vor sich gehen.
Im Zusammenprall mit ihren Feinden müssen Nationen sich behaupten – oder sie werden wie so viele Staaten in der Geschichte von ihren Feinden verdrängt werden. Die vielen Nationen der Europäischen Union müssen sich über ihre Grenzen gegenüber der russischen Hemisphäre einigen. Weiterhin müssen sie sich sowohl gegenüber der technologischen Dominanz der USA als auch gegenüber den eindringenden Invasoren aus dem Süden auf eine Politik der Selbstbehauptung einigen.
Heinz Theisen ist Professor für Politikwissenschaft. Seine neueste Veröffentlichung, gemeinsam mit Chaim Noll: „Verteidigung des Zivilisation. Israel und Europa in der islamistischen Bedrohung“, Reinbek, Lau-Verlag, 2024.
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