Im Windschatten der Trump-Wahl in den USA und der deutschen Regierungskrise wurde hierzulande nur beiläufig wahrgenommen, dass Israel mitten im Krieg den Verteidigungsminister ausgewechselt hat. Dabei ist das eine einschneidende Entscheidung. Ein Blick auf die Gründe.
Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu hat seinen Verteidigungsminister Yoav Gallant gefeuert. Mitten im Krieg mit der Hamas und der Hisbollah, in dessen Zuge die Führung dieser Terrororganisationen erfolgreich eliminiert wurde. Und kurz vor einem erwarteten weiteren Angriff des Iran. Netanyahu erklärte:
„Mitten im Krieg ist mehr denn je volles Vertrauen zwischen dem Premierminister und dem Verteidigungsminister erforderlich.“
Dieses Vertrauen sei in den letzten Monaten „erschüttert“ worden. Zwischen ihm und Gallant gebe es „erhebliche Meinungsverschiedenheiten“. Es habe „Aussagen und Handlungen“ Gallants gegen, die im Widerspruch gestanden hätten zu den Entscheidungen der Regierung. Die „Vertrauenskrise“ sei „öffentlich bekannt“ geworden und behindere nun den Krieg.
Netanyahu hat seinen wichtigsten internen Kritiker aus dem Amt entfernt und dadurch seine Macht kurzfristig gestärkt. Dadurch fällt es ihm aktuell leichter, die Kriegspolitik zu bestimmen. Aus Sicht derer, die nicht zu seinem Lager gehören, steht er nun aber noch mehr als jemand da, für den die eigenen Interessen im Vordergrund stehen – vor denen des Landes – und der Kritik von sich fern hält.
Worum geht es? Das größte und schwer zu lösende Problem ist, dass die Haredim („die [vor Gott] zittern“), also die Ultraorthodoxen, vom Wehrdienst freigestellt sind. Diese Gruppe macht etwa 1,3 Millionen Menschen aus – jeder siebente Israeli. Mehr als 60.000 Haredim sind derzeit wehrpflichtig. Auf gerichtliche Anweisung hat die Armee in den letzten Monaten Tausende zur Wehrpflicht aufgefordert, aber praktisch niemand ist dieser Aufforderung nachgekommen – während Reservisten derzeit praktisch als reguläre Kampfsoldaten dienen. Und während jeden Tag Soldaten fallen und verwundet werden.
Wie kam es dazu?
1949 verabschiedete die Knesset das Wehrdienstgesetz. Es führte die Wehrpflicht ein, für alle israelischen Bürger ab dem 18. Lebensjahr. In den folgenden Jahrzehnten wurde die Dauer der Wehrpflicht geändert, der Kern des Gesetzes aber blieb. Ausgenommen sind arabische Bürger, die in der Regel keinen Wehrdienst leisten, abgesehen von den Drusen und Tscherkessen, von denen 80 Prozent Wehrdienst leisten und die man auch in den obersten Rängen der Streitkräfte findet. Ausgenommen von der Wehrpflicht sind ferner religiöse, schwangere und verheiratete Frauen.
Eine weitere Ausnahme sind ultraorthodoxe Juden. Während des israelischen Unabhängigkeitskrieges von 1948 hatte sich der erste israelische Ministerpräsident David Ben-Gurion mit den Führern der Haredi-Gemeinde darauf verständigt, diejenigen, die gerade in Vollzeit die Thora studieren, vorübergehend von der Wehrpflicht zu befreien, solange ihr Studium dauert.
Diese Regelung wurde als torato omanuto bekannt, was übersetzt „seine Thora ist sein Beruf“ bedeutet. Sie wurde nicht durch ein Gesetz, sondern durch eine Verordnung des Verteidigungsministeriums umgesetzt.
Dies ermöglicht es ultraorthodoxen Männern, den Wehrdienst „aufzuschieben“, indem sie ab dem 18. Lebensjahr in einer Religionsschule (Jeschiwa) studieren, bis sie ein Alter erreichen, ab dem die Wehrpflicht nicht mehr gilt. 1948 ging es um etwa 400 Männer, deren Ausfall für die Streitkräfte zu verschmerzen war.
Doch die ultraorthodoxe Bevölkerung hat die höchste Geburtenrate, und ihr Anteil an Israels Bevölkerung ist immer weiter angestiegen. Die Folge: Weniger als 70 Prozent der jungen Männer und 60 Prozent der Frauen werden zum Wehrdienst eingezogen. Das war immer schon ungerecht, ist aber in einem Krieg, der an vielen Fronten geführt wird, ein noch größeres Problem.
Die Last des Krieges ruhe auf den Schultern von 150.000 Reservisten, 1,5 Prozent der Bevölkerung, schreibt Yaakov Katz in der Jerusalem Post. Seit letztem Oktober wurden über 730 Soldaten getötet und weitere 11.000 verwundet. Solche Zahlen, so Katz, habe die israelische Armee noch nie erlebt.
„Und es ist kein Geheimnis mehr: Die israelische Armee hat zu wenig Soldaten. Deshalb leisten einige der Reservisten dieser 1 bis 2 Prozent jetzt ihren vierten oder fünften Dienst. Die Situation ist beispiellos. Aber was noch wichtiger ist: Sie ist unhaltbar. Wie lange erwarten wir noch, dass diese 150.000 Männer und Frauen die Last der Nation allein tragen? Wie lange wird es dauern, bis die 18-Jährigen, die sich bei den israelischen Streitkräften gemeldet haben, anfangen, sich zu fragen, warum sie dienen sollen, wenn sie wissen, dass Zehntausende andere wie sie sich nicht melden? Glauben wir wirklich, dass das so weitergehen kann?“
Die Regierung glaube das offenbar.
Rücksicht auf die Koalitionspartner
Ministerpräsident Benjamin Netanyahu hat ein anderes Problem: Ihm fehlt es an möglichen Koalitionspartnern. Im Lauf der Jahre hat er sich mit vielen zerstritten. Seine loyalsten Verbündeten sind die religiösen Parteien: die Partei Vereinigtes Thora-Judentum und die Schas-Partei. Für die ist vor allem wichtig, die Interessen ihrer Klientel zu bedienen, der Ultraorthodoxen. Sie werden u.a. dafür gewählt, zu verhindern, dass die Ultraorthodoxen Wehrdienst leisten müssen.
Die Ausnahme ist nicht nur ein politisches und militärisches Thema, sondern auch ein ethisches und juristisches. Israels Oberster Gerichtshof urteilte 1998, dass der Verteidigungsminister keine rechtliche Befugnis habe, ultraorthodoxe Männer von der Wehrpflicht zu befreien.
Der Präsident des Obersten Gerichtshofs, Aharon Barak, schrieb in der Urteilsbegründung, das torato omanuto verstoße gegen das Gleichheitsprinzip.
„Die gegenwärtige Situation, in der ein erheblicher Teil dieser Personen im wehrfähigen Alter ihr Leben nicht für die Sicherheit des Staates riskiert, ist sehr diskriminierend.“
Der Gerichtshof forderte die Knesset auf, eine gerechte Gesetzgebung zu finden. Seither sind 26 Jahre vergangen, und nach dieser Lösung wird immer noch gesucht. Alle Gesetze der Vergangenheit basierten im Wesentlichen auf Freiwilligkeit der Ultraorthdoxen statt auf Zwang. Kaum nötig zu sagen, dass der Erfolg ausblieb. Die Ultraorthodoxen bei der Armee blieben die Ausnahme.
Ein wichtiges Motiv ist die Angst vor Säkularisierung. Israels Armee gilt als „Schmelztiegel“, und genau davor haben die Haredim Angst: dass ihre Söhne zur Armee gehen und als Zionisten oder moderate Juden zurückkommen. Das ist auch der Grund, warum die Ultraorthodoxen in New York in den 1970er Jahren in großer Zahl in das staatlich geförderte damalige Armenviertel Williamsburg zogen. Unter Schwarzen und Puerto-Ricanern fühlten sie sich wohl, weil von diesen keine gefährlichen Einflüsse ausgingen, wie sie das von jenen Juden befürchteten, die nicht ultraorthodox waren – diese hätten sie ja mit ihrem modernen Lebensstil anstecken können.
Vergebliche Versuche
Nach den Wahlen im Januar 2013 bildete Netanyahu eine Koalition mit der neuen zentristrischen Partei Yesh Atid des ehemaligen Fernsehmoderators Yair Lapid und der rechten säkularen Partei Yisrael Beitenu. Es war seit einem Jahrzehnt die erste ohne Beteiligung der religiösen Parteien.
Im März 2014 gelang es der Koalition, ein Gesetz zu verabschieden, das die israelische Armee verpflichtete, den Prozentsatz wehrpflichtiger Haredi-Männer jährlich zu erhöhen. Wenn die Quote von 60 Prozent bis 2017 nicht erreicht würde, müssten sich alle wehrfähigen Haredi-Männer melden und müssten mit strafrechtlichen Konsequenzen rechnen, wenn sie dies nicht täten. In den ersten drei Jahren aber sollten die Quoten nicht mit Strafen durchgesetzt werden. Doch Israels Regierungen halten oft nicht so lange. Schon 2015 kehrten Schas und Vereinigtes Thora-Judentum nach Neuwahlen in die Regierung zurück – und alles blieb beim Alten, die Strafen für Wehrdienstverweigerer wurden gestrichen.
2017 nahm der Oberste Gerichtshof Anstoß an dem Gesetz von 2014, da dieses weiter keine Gleichbehandlung vorsah. Das Gericht räumte der Regierung aber immer wieder Zeit ein, ein neues Gesetz vorzulegen.
Bis zum 31. Juli 2023 erlaubten die Verlängerungen des Gerichts dem Verteidigungsminister vorübergehend, Haredi-Männer weiterhin vom Militärdienst zu befreien. Dieses vorübergehende System erforderte, dass Haredi-Männer den Wehrdienst aufschieben, indem sie so lange in der Jeschiwa blieben, bis sie ab dem Alter von 26 dauerhaft vom Militärdienst befreit sind.
Zur Armee gehen die Ultraorthodoxen auch weiterhin nicht. In großer Zahl könnte die Armee sie auch gar nicht aufnehmen, heißt es. Weil man für sie Geschlechtertrennung in einer ansonsten gemischten Armee herstellen muss, wäre das mit großem Aufwand und Kosten verbunden.
Eine Reihe ultraorthodoxer Politiker, wie etwa Yitzhak Goldknopf, der Vorsitzende der Partei Vereinigtes Thora-Judentum und Wohnungsbauminister, äußerten im Frühjahr ihre Bereitschaft, über die Einziehung junger Haredi-Männer zu sprechen, die keine Thora-Studenten sind. Allerdings drohten sie damit, dass es keine Regierung mehr geben werde, wenn auch nur „ein einziger echter Jeschiwa-Student seinen Talmud zuklappen muss“.
Dieser Konflikt zwischen den Parteien der ultraorthodoxen Juden auf der einen Seite und den säkularen Parteien und dem Obersten Gerichtshof auf der anderen bildet auch eine Ursache für die Justizreform und den durch sie ausgelösten gesellschaftlichen Konflikt. Die Justizreform würde den Einfluss des Obersten Gerichtshofs auf die Gesetzgebung stark verringern. Die Folge wäre wahrscheinlich, dass allen Versuchen, mehr Gerechtigkeit beim Wehrdienst einzuführen, ein Riegel vorgeschoben würde.
Gallants letzte Amtshandlung
Am Montag, dem 4. November, ließ Verteidigungsminister Gallant 7.000 Ultraorthodoxe zur Armee einberufen. Er erklärte:
"Der Krieg und die Herausforderungen, vor denen wir stehen, zeigen, dass die israelischen Streitkräfte mehr Soldaten brauchen. Das ist ein echter operativer Bedarf, der eine breite nationale Mobilisierung aller Teile der Gesellschaft erfordert.“
Kurz zuvor am selben Tag hatte Generalstabschef Herzi Halevi über den Stand der Vorbereitung bei der Aufstellung einer Haredi-Brigade mit dem Namen „Hashmonayim“ berichtet. Diese Brigade soll es Haredim ermöglichen, sich für den Wehrdienst zu melden und gleichzeitig ihren Lebensstil beizubehalten. Am Dienstag feuerte Netanyahu seinen Verteidigungsminister.
Der Streit über den Wehrdienst für Ultraorthodoxe ist nicht der einzige zwischen den beiden. Ein anderer Konfliktpunkt sind die 97 Geiseln, die noch im Gazastreifen sind.
Gallant drängt darauf, ihrer Rückkehr Priorität einzuräumen, selbst wenn dies ein Ende des Krieges bedeuten würde. Er argumentiert, dass Israel in Zukunft noch einmal gegen die Hamas vorgehen könnte und dies wahrscheinlich auch tun werde. Netanyahus andere Koalitionspartner – nicht die Religiösen, sondern die radikalen Nationalisten – lehnen eine solche Vereinbarung jedoch entschieden ab und haben wiederholt damit gedroht, aus der Koalition auszutreten, sollte es ein solches Abkommen mit der Hamas geben.
Und da ist noch ein Punkt. Gallant forderte öffentlich die Einrichtung einer staatlichen Untersuchungskommission zu den Ereignissen rund um das Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023. Diese soll die politischen und militärischen Versäumnisse untersuchen, die schuld daran sind, dass es dazu kommen konnte. Netanyahu verweigert eine solche Untersuchung – aus Angst vor dem, was dabei herauskommen würde, sagen seine Kritiker.
Die Ankündigung vom Dienstag ist das zweite Mal, dass Netanyahu Gallant aus dem Amt entlassen hat. Im März 2023 entließ er Gallant, nachdem der Verteidigungsminister dazu aufgerufen hatte, die umstrittenen Justizreformpläne der Regierung auf Eis zu legen, da dieser seiner Meinung nach zu Spaltungen der Gesellschaft geführt habe, die eine Bedrohung für die nationale Sicherheit darstellten.
In einer Rede an die Nation nach seiner Entlassung bekräftigte Gallant, was seiner Meinung nach für das Überleben Israels entscheidend sei:
„Es gibt keine Wahl – jeder muss in der israelischen Armee dienen und an der Mission zur Verteidigung des Staates Israel teilnehmen. Wir dürfen nicht zulassen, dass in der Knesset ein diskriminierendes und korruptes Gesetz verabschiedet wird, das Zehntausende Bürger von dieser Last befreien würde. Die Zeit für Veränderungen ist gekommen.“
Das zweite Thema sei die „moralische Verpflichtung und Verantwortung, unsere entführten Söhne und Töchter so schnell wie möglich, möglichst viele lebend, zu ihren Familien nach Hause zu bringen“. Aufgrund seiner „Rolle, Erfahrung und der militärischen Erfolge des vergangenen Jahres“ stelle er fest, dass dies erreichbar sei, aber „schmerzhafte Kompromisse“ erfordere, die Israel tragen und die israelische Armee bewältigen könne.
„Wir können die Geiseln, die gestorben sind, nicht zurückbringen. Es gibt und wird keine Sühne dafür geben, die Gefangenen im Stich gelassen zu haben. Es wird ein Kainsmal auf der Stirn der israelischen Gesellschaft und derjenigen sein, die diesen falschen Weg einschlagen.“
Das dritte Thema sei die „Notwendigkeit, Lehren aus einer gründlichen und relevanten Untersuchung zu ziehen“. Dafür bedürfe es einer staatlichen Untersuchungskommission.
Kritiker werfen Netanyahu vor, dass er an solch einer Aufklärung kein Interesse hat.
Stefan Frank, geboren 1976, ist unabhängiger Publizist und schreibt u.a. für Audiatur online, die Jüdische Rundschau und MENA Watch. Buchveröffentlichungen: „Die Weltvernichtungsmaschine. Vom Kreditboom zur Wirtschaftskrise“ (2009); „Kreditinferno: Ewige Schuldenkrise und monetäres Chaos“ (2012)