Angesichts der Beileidsbekundungen für den umgekommenen iranischen Präsidenten stellt sich die Frage, welches Verhalten der Westen gegenüber dem Bösen pflegt – und ob beispielsweise Deutschland sich überhaupt noch verteidigen kann und will.
„Die EU drückt ihr aufrichtiges Beileid zum Tod von Präsident Raisi und Außenminister Amir-Abdollahian sowie weiteren Mitgliedern ihrer Delegation und der Besatzung bei einem Hubschrauberabsturz aus“, so der EU-Ratsvorsitzende Charles Michel. Ähnliche Worte findet der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell. Der bei einem Hubschrauberabsturz ums Leben gekommene iranische Präsident Raisi von der Partei „Vereinigung der kämpfenden Geistlichkeit” ist kein unbeschriebenes Blatt, manche bezeichnen ihn als „handelsüblichen terroristischen Massenmörder”.
Zweifellos hatte er reichlich Blut an den Händen. Schon bei den Massenhinrichtungen 1988 spielte er eine maßgebliche Rolle; er wurde deshalb der „Schlächter von Teheran” genannt. Danach wurde es nicht besser. Auf sein Konto gehen ca. 26.000 Tote, er hat Frauen und Kinder exekutieren lassen, 7 Millionen Syrer vertrieben, Terroristen im Jemen, dem Irak und in Gaza unterstützt. Auch das brutale Massaker vom 7. Oktober in Israel wäre ohne iranische Zustimmung und Unterstützung nicht möglich gewesen. Also warum diese warmen Worte?
Sie passen zu denen des russischen Präsidenten Putin, der Raisi als „herausragenden Politiker” und „wahren Freund Russlands” würdigt, sein Tod sei „ein unersetzlicher Verlust”. Chinas Präsident Xi Jinping hat den Tod als „großen Verlust für das iranische Volk“ bezeichnet, eine Einschätzung, die viele Iraner wohl kaum teilen dürften. Reza Pahlevi, der Sohn des verstorbenen ehemaligen Schahs, sagt, dass das iranische Volk nicht um den brutalen Massenmörder Raisi trauere, die Beileidsbekundungen vielmehr eine Beleidigung seiner Opfer sowie der iranischen Nation seien.
Ist es nicht eigenartig, wie positiv das Verhältnis führender EU-Politiker zu totalitären und grausamen Regimen ist? Und nicht nur mancher EU-Politiker, ganz spontan fällt mir der Name Steinmeier ein. Richtig und falsch, gut und böse zu unterscheiden, dazu fehlt vielen in der politischen Führung offenbar der moralische Kompass.
Die UN hat deutlich gemacht, wo sie steht
Dies scheint ein weltweites Problem zu sein. Der UN-Sicherheitsrat hat auf Antrag von Mosambique eine Schweigeminute für den „Schlächter von Teheran” eingelegt, die UN hat Halbmast geflaggt und damit auch deutlich gemacht, wo sie steht.
Dass die UN (vorsichtig formuliert) sehr einseitige Ansichten vertritt und Antisemitismus sich dort wohlfühlt, ist bekannt. Zeitgleich mit den unsäglichen Beleidsbekundungen für den Schlächter von Teheran hat nun der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs das Ansehen des Gerichtshofs beschädigt, indem er nicht nur gegen Hamas-Führer Sinwar, sondern auch gegen den israelischen Premierminister Netanjahu und dessen Verteidigungsminister Galant Haftbefehle beantragt hat. Diese Gleichsetzung ist durch nichts, wirklich gar nichts zu rechtfertigen.
Sämtliche inter- oder supranationalen Institutionen versagen. Um meinen Schweizer Kollegen Emrah Erken zu zitieren: „Der Westen braucht neue politische Führungspersönlichkeiten...”
Eine Frage der Persönlichkeitsmuster?
Alexander Wendt hat kürzlich in dem sehr lesenswerten Essay „Voyeure der Gewalt” die Frage aufgeworfen, ob die Rechtfertigung selbst extremer Gewalt nicht in erster Linie einer Ideologie entspringt, sondern einem bestimmten Persönlichkeitsmuster.
Er nennt als Beispiele die Ausführungen des FAZ-Redakteurs Patrick Bahners, es gäbe nur eine Lösung für Israel, nämlich “intifada, revolution”, wobei er später hinzufügte, dass es ja nicht zwingend genozidale Auslöschung sein müsse. Wie großzügig von ihm! Russell Rickford, Geschichtsprofessor an der Cornell Universitiy (USA), fühlte sich „berauscht” und „energetisiert” von der Nachricht über das Massaker des 7. Oktober. Als Applaus aufbrandete, versicherte er vorsorglich, Gewalt zu verabscheuen. Ähnlich Judith Butler, die Grande Dame des Wokismus, die das Massaker für einen Fall des legitimen bewaffneten Widerstands hält, aber natürlich hinzufügt, dass ihr diese Gewalt nicht gefiele.
Offenbar „berauscht” sich der eine oder andere an Gewalt wie ein Voyeur, auch wenn er diese selbst nicht ausübt. Wendt hält das aber nicht für ein rein aktuelles Phänomen: „Die Praxis von Intellektuellen, die persönlich kein Blut sehen können und deshalb die eigentliche Arbeit von Subunternehmern erledigen lassen, reicht weit in die Vergangenheit.”
Er nennt als Beispiel Jean-Paul Sartre, der eigentlich als Linker bekannt ist und die UdSSR toll fand, besonders lobend die dortige Freiheit der Kritik erwähnte. Während der NS-Zeit war er eher ein Anhänger der Nazis, obgleich er ab 1944 die Legende verbreitete, er habe mit seinen Theaterstücken versteckten Widerstand geleistet. Seine NS-Kritik war so gut verborgen, „dass sie eine bewundernde Besprechung in der Zeitschrift Das Reich erhielt, die Goebbels persönlich herausgab“. Damit war er nicht der einzige, viele Intellektuelle fanden Hitler und später Stalin ganz in Ordnung. Seine Beobachtung fasst Wendt so zusammen:
„Das führt zu einer grundsätzlichen Frage: Könnte es sein, dass es sich bei der intellektuellen Rechtfertigung von Gewalt in vielen Fällen gar nicht um ein Mittel zum Zweck handelt, sondern um etwas Ursprüngliches? Ein bestimmter Typus europäischer Denker empfindet Bewunderung selbstredend für sich selbst, gleich danach aber für Gewalt, die andere ausüben, wobei offenbar die Regel gilt, dass die Faszination mit der Grausamkeit der unmittelbaren Täter zunimmt. Gegen wen sich die jeweilige Vernichtungsaktion richtet, ergibt sich eher als nachgelagertes Problem aus der jeweiligen Zeitströmung, als dass die Frage am Anfang der Wirkungskette stünde. Es besteht entfernte Ähnlichkeit zwischen diesem Persönlichkeitszug und dem Voyeurismus: Hier wie da geht der Reiz von dem aus, was andere tun, aber auch vom eigenen Abstand – nie so dicht, um selbst in die Handlung verwickelt zu werden, aber immer noch nah genug, um mit den anderen ein symbiotisches System zu bilden. Von den konventionellen Voyeuren unterscheiden sich die Intellektuellen in ihrer Distanzbeziehung zur Gewalt dadurch, dass sie nicht nur passiv zuschauen, sondern das Schauspiel der Grausamkeit begründen, verteidigen, stimulieren und in manchen Fällen überhaupt erst die Idee dazu liefern.
Die Geschichte der europäischen Wortführer, Ideenkonstrukteure und Ideologieschöpfer bietet eine Fülle von Beispielen für die innige Beziehung zwischen Edelsinn und Blutbad, angefangen von den Theoretikern und Antreibern des französischen Revolutionsterrors über die Bewunderer der kommunistischen Diktatur, des italienischen Faschismus und des Nationalsozialismus, des Maoismus, der killing fields von Pol Pot und der Rechtfertigung der Roten Brigaden wie der RAF bis zur Verklärung von Hisbollah und Hamas.”
Die These von Wendt hat viel für sich. Falls sie stimmt und diese mehr oder minder „Intellektuellen“ ein Persönlichkeitsmuster aufweisen, welches durch einen starken Hang zur Grausamkeit gekennzeichnet ist, würde das vieles erklären. Allerdings: Wer solche Führung hat, braucht keine Feinde mehr!
Verraten und verkauft
Das Problem ist, dass „Intellektuelle” aufgrund ihrer Stellung die Möglichkeit haben, ein Ideenkonstrukt zu entwickeln, welches eine Rechtfertigung für die Grausamkeiten bietet, dieses zu verbreiten und gesellschaftlich zu etablieren. Denn nur, wenn genügend mitmachen oder das Böse dulden, kann es funktionieren.
Da die meisten Menschen nicht böse sein wollen, bedarf es einer Ideologie, die, als politische Religion fungierend, das eigentlich als böse Erkannte umdefiniert: “Fair is foul and foul is fair” (Shakespeare).
Es bedarf der „Intellektuellen”, um ein gedankliches Gebäude wie Kommunismus, Sozialismus (international und national), Ökologismus, Wokismus und ähnliches zu konstruieren. Diese deuten bisherige Vorstellungen von Gut und Böse um und erlauben, die nunmehr als „böse” Definierten zu verfolgen oder gar zu vernichten. Ist im Christentum z.B. der Wert eines jeden Menschen diesem immanent und völlig unabhängig von der Größe seines Geldbeutels, wird dieses im Kommunismus ins Gegenteil verkehrt: Wer Geld hat, „Kapitalist” ist, ist böse und darf vernichtet werden. Neid und Habgier werden zu „sozialer Gerechtigkeit” umdefiniert, die Anhänger sind sich sicher, auf der „richtigen” Seite zu stehen. Und wenn man meint, etwas Gutes zu tun, fallen alle Hemmungen.
Hinzu kommt die publizistische Wirkmacht, welche die Kirchenkanzel ersetzt. Solche Ideologien sind abgrundtief böse und zerstörerisch.
Nicht nur Jean Raspail sah die Probleme, die deshalb auf den Westen zukommen, voraus und beschrieb die mittlerweile bekannten Folgen der Zuwanderung aus anderen, nicht westlichen Kulturkreisen. Auch der russische Politiker, Philosoph und früherer Ratgeber Präsident Putins Alexander Dugin erwartet den durch diese Ideologien herbeigeführten Untergang des Westens, allerdings begreift er ihn als Chance für Russland. In einem Fernsehinterview sagte er 2014:
„Wir müssen Europa erobern. Die europäische Elite hat bereits daran gedacht, Europa einem starken und selbstbewussten konservativen Russland auszuliefern. Wir können bereits mit einer europäischen fünften Kolonne rechnen. Das sind europäische Intellektuelle, die ihre europäische Identität festigen wollen. (...) Was die europäischen Streitkräfte betrifft, so sind sie gleich null, Europa ist schwach. Und was die NATO betrifft, so haben wir in Südossetien gesehen, dass sie im Falle eines harten Eingreifens nicht reagiert. Wir wollen nur ein Protektorat über Europa. Dafür müssen wir keinen Krieg führen. Soft Power wird ausreichen. Wir werden den Europäern anbieten, sie vor den Schwulen, Pussy Riot und Femen zu retten (...) Die Europäer erkennen, dass sie degeneriert sind. Europa hasst sich selbst und ist des Nihilismus überdrüssig. Wir werden den Europäern sagen: “Die Reue ist vorbei. Ihr schafft es nicht, mit der Einwanderung fertig zu werden, wir werden es für euch tun.” Europa wird in unsere Eurasische Union eintreten (...). Wir haben Erfahrung mit der Expansion in Europa, mit der Komintern und der Infiltration der europäischen Parlamente. Heute können wir andere Partner finden. (...) Europa zu annektieren ist ein großer Plan, der Russlands würdig ist. (...) Wir werden ihre Technologien auf einen Schlag übernehmen: kein Gas und Öl mehr, um sie tröpfchenweise zu bekommen. Das ist die Modernisierung und Europäisierung Russlands. Soft Power wird genügen: eine fünfte Kolonne finden, die Leute, die wir kontrollieren, an die Macht bringen, mit Gazproms Geld Spezialisten für Reklame kaufen (...). Wir werden NGOs einsetzen, wie sie es gegen uns tun (...). Der russische Zar oder der russische Präsident muss ein europäischer Zar oder ein Präsident Europas sein."
Die Befreiung des Westens von den unsäglichen politischen Religionen, die in den Abgrund führen, ist Putins Heilsversprechen. Es wird von vielen Verzweifelten tatsächlich geglaubt. Die politischen Kräfte des Westens sind entweder die „fünfte Kolonne” oder haben mit ihren zerstörerischen, totalitären Ideologien den Westen geschwächt, dass er kaum noch wehrhaft ist. Ein wesentlicher Teil der politischen Führung ist das Problem, nicht die Lösung.
Ironie der Geschichte
Aber es gibt noch Hoffnung, ganz scheint die Moral in Deutschland noch nicht gebrochen. Man kann es als Ironie der Geschichte bezeichnen, dass nun einige den Weg beschreiten, welchen die Klimapaniker eröffneten: Eine Gruppe von Rechtsanwälten will das Recht, verteidigt zu werden gerichtlich durchsetzen. Die Politik soll verpflichtet werden, die Bundeswehr verteidigungsfähig zu machen, damit sie Land und Leute gemäß ihres verfassungsmäßigen Auftrags aus Art. 87a GG schützen kann. Um es ganz deutlich zu sagen: Es gibt das verfassungsrechtliche Gebot, eine funktionsfähige Bundeswehr zu unterhalten und zwar auf einem Niveau, dass sie ihren Zweck der Landesverteidigung erfüllen kann. Das ist nicht optional! Landesverteidigung kann zwar auch asymmetrisch stattfinden, aber das ersetzt nicht eine funktionsfähige Streitkraft zur Verteidigung europäischen Bodens in einem herkömmlichen Krieg auf europäischem Boden. Die Kriegsgefahr wächst übrigens, wenn solche Streitkräfte nicht vorgehalten werden. Um es mit dem Vaterunser zu sagen: „Und führe uns nicht in Versuchung...”. Dieser Gedanke ist die Grundlage jeder Abschreckung.
Derzeit ist die Bundeswehr nicht in der Lage, einem annähernd gleichwertigen Gegner standzuhalten, tatsächlich kann sie nicht einmal einen schwachen Gegner erfolgreich bekämpfen. Die Regierungen unter Merkel haben nicht nur die Wehrpflicht ausgesetzt und die Bundeswehr kaputtgespart, sie haben zugleich die strukturellen Grundlagen für einen Wiederaufwuchs zerstört. So wie derzeit die AKW zerstört werden, um einen Weg zurück unmöglich zu machen, so ist die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands nachhaltig beschädigt worden. Das zu ändern, ist weder leicht noch billig. Was aber entscheidend ist: Es fehlt am politischen Willen. Es war von vornherein unrealistisch, den Ankündigungen von Kanzler Scholz über eine „Zeitenwende” Glauben zu schenken. Er kann nicht aus seiner Haut.
Gleichzeitig hat sich aber die Gefährdungslage dramatisch verschlechtert. Thorsten Jungholt schreibt in Die Welt:
„Pistorius kalkuliert aufgrund von Erkenntnissen des Bundesnachrichtendienstes und westlicher Verbündeter mit einem möglichen russischen Angriff auf Nato-Territorium in fünf bis acht Jahren. Sollte Donald Trump die nächste US-Präsidentschaftswahl gewinnen, könnte zudem die Beistandsbereitschaft der USA in der Allianz wanken....
Die Frage lautet mithin: Was können die Bürger tun, damit der Staat seinem Auftrag nachkommt, eine funktionsfähige Bundeswehr zu unterhalten? Gibt es ein Recht auf Verteidigung, das sich angesichts der Zögerlichkeit der Politik womöglich einklagen lässt?”
Dieses möchte eine Gruppe von Anwälten um den mit der Erstellung einer Verfassungsbeschwerde beauftragten Hamburger Rechtsanwalt Fabian Walden herausfinden, welche im Herbst die Beschwerde einreichen will. Sie selbst sind als Reservisten der Bundeswehr verbunden und suchen möglichst zahlreiche Unterstützer, nicht nur Soldaten oder Reservisten, sondern zum Beispiel auch Eltern, die ihre Söhne und Töchter gegebenenfalls vernünftig ausgerüstet sehen wollen. Die Hürden finanzieller und rechtlicher Natur sind hoch, denn grundsätzlich sind staatliche Gewährleistungsansprüche nicht indivduell einklagbar.
Diesen Grundsatz hat das Bundesverfassungsgericht aber mit seiner umstrittenen Klimaschutz-Entscheidung durchbrochen. Der in Art. 20a GG abstrakt enthaltene Staatsauftrag, in Verantwortung für die nächsten Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen zu schützen, wurde zu einem subjektiven Schutzanspruch des Einzelnen gegen den Staat „umfunktioniert”. Der Rechtsanwalt Patrick Heinemann fragte in einem Beitrag im „Verfassungblog”:
„Ist es abwegig einen in seiner Konstruktion entsprechenden Anspruch auf Gewährleistung einer funktionsfähigen Verteidigung aus einer Gesamtschau der Grundrechte in Verbindung mit dem objektiven Verfassungsauftrag des Artikels 87a herzuleiten?”
Das ist eine sehr berechtigte Frage. Wer weiß, vielleicht bringt die Klimaschutz-Entscheidung noch ungeahnten und nicht beabsichtigten Nutzen.
Annette Heinisch, Studium der Rechtswissenschaften in Hamburg, Schwerpunkt: Internationales Bank- und Währungsrecht und Finanzverfassungsrecht. Seit 1991 als Rechtsanwältin sowie als Beraterin von Entscheidungsträgern vornehmlich im Bereich der KMU tätig.