Manfred Kölsch, Gastautor / 09.10.2024 / 16:00 / Foto: Imago / 30 / Seite ausdrucken

War die einrichtungsbezogene Impfpflicht verfassungswidrig?

Von Manfred Kölsch und Karin Adrian.

Um es vorwegzunehmen: Diese Frage hat das Verwaltungsgericht Osnabrück in seinem Vorlagebeschluss mit einem eindeutigen „Ja“ beantwortet.

Die 3. Kammer des Verwaltungsgerichts Osnabrück hat nach Veröffentlichung der ungeschwärzten Protokolle des Robert-Koch-Instituts (RKI) bzw. von dessen damals eingerichtetem „Corona-Krisenstab“ die Entscheidung über eine bei ihr anhängige Klage (Fortsetzungs­feststellungs­klage) gemäß Artikel 100 Absatz 1 Satz 1 GG ausgesetzt und durch entsprechende Vorlage an das Bundesverfassungsgericht den bis zum Jahreswechsel 2022 geltenden § 20a Infektionsschutzgesetz (sog. einrichtungsbezogene Impfpflicht) erneut auf den Prüfstand gestellt.

War die einrichtungsbezogene Impfpflicht verfassungswidrig? 

Um es vorwegzunehmen: Diese Frage hat das Verwaltungsgericht Osnabrück in seinem Vorlagebeschluss mit einem eindeutigen „Ja“ beantwortet. Wie das Gericht zu dieser – aus Sicht der Autoren dieses Artikels in der „Corona-Rechtsprechung“ längst überfälligen – einmaligen Entscheidung gelangt ist, ist Gegenstand der nachfolgenden Darstellung.

Eine in einem Krankenhaus angestellte Pflegehelferin wurde im März 2022 von ihrem Arbeitgeber aufgefordert, einen Immunitätsnachweis gemäß §§ 20a, 22a Infektionsschutzgesetz (IfSG) vorzulegen. Dieser Aufforderung kam sie nicht nach, woraufhin ihr durch Bescheid der zuständigen Behörde vom 07.11.2022 untersagt worden war, weiter in dem Krankenhaus tätig zu sein.

Gegen diesen Bescheid hatte sie in zulässiger Weise Klage vor dem Verwaltungsgericht Osnabrück erhoben. Begründet wurde die Klage u. a. mit der Auffassung, der angefochtene Bescheid sei rechtswidrig, weil dessen Ermächtigungsgrundlage, § 20a IfSG, die Klägerin in ihren Rechten aus Artikel 2 Satz 1 und Artikel 12 GG verletze. 

Präsident des RKI als Zeuge vernommen

Das Verwaltungsgericht sah sich veranlasst, nicht nur die bekannt gewordenen RKI-Protokolle auszuwerten, sondern auch den heutigen Präsidenten des RKI als Zeugen dazu zu vernehmen, ob und welche Erkenntnisse zu welchem Zeitpunkt des Jahres 2022 zu der Möglichkeit einer Übertragung von SARS-CoV-2, trotz einer Impfung dagegen, bei dem RKI vorlagen und ob die vorliegenden Erkenntnisse dem Bundesministerium für Gesundheit (BMG) mitgeteilt worden seien. Der Zeuge, der 2022 Leiter des beim RKI eingerichteten „Corona-Krisenstabes“ war, wurde auch zur Erläuterung einiger Eintragungen in den RKI-Protokollen vernommen.

Das Verwaltungsgericht ist daraufhin zu der Auffassung gelangt, dass § 20a IfSG mit Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 GG (körperliche Unversehrtheit) und Artikel 12 Absatz 1 GG (Berufsfreiheit) unvereinbar gewesen ist. Jedenfalls sei dies, wie die Kammer präzisiert, ab Mitte des Jahres 2022, dem für die Klägerin maßgeblichen Zeitraum, der Fall gewesen.

Deshalb hat das Verwaltungsgericht – wie eingangs erwähnt – das Verfahren ausgesetzt und durch einen umfangreich begründeten Beschluss die Entscheidung des BVerfG darüber eingeholt, ob „§ 20a IfSG in der Fassung vom 18. März 2022 (BGBl. I S. 466) mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Art. 12 Abs. 1 GG im Zeitraum vom 07.11.2022 bis 31.12.2022 vereinbar gewesen ist.“ (Nachfolgende Angaben von Seitenzahlen beziehen sich auf diesen Beschluss.)

Die Beantwortung der Frage – so das VG Osnabrück im besagten Beschluss – sei entscheidungserheblich im Sinne von Artikel 100 Absatz 1 GG und § 80 Absatz 2 Satz 1 BVerfGG. Weiter heißt es, dass die Klage gegen das gegenüber der Pflegehelferin für die Zeit vom 07.11.2022 bis 31.12.2022 ausgesprochene Betretungs- und Tätigkeitsverbot bei Anwendung des § 20a IfSG zulässig sei, jedoch unbegründet. Begründet wäre die Klage allerdings, falls § 20a IfSG wegen eines Verstoßes gegen Artikel 2 und 12 GG nichtig sein sollte. 

Neue abweichende Einschätzung zur wissenschaftlichen Unabhängigkeit des RKI 

Das Verwaltungsgericht musste sich allerdings zunächst mit nach seiner Ansicht relevanten Fragen zur Zulässigkeit des Normen­kontroll­verfahrens befassen. In diesem Zusammenhang wurde die Frage geprüft, ob die jetzige Vorlage an das BVerfG unzulässig sein könnte, weil

1. das BVerfG in seinem Beschluss vom 27.04.2022 (1 BvR 2649/21) eine Verfassungsbeschwerde gegen § 20a IfSG bereits zurückgewiesen habe und

2. § 20a IfSG bereits mit Ablauf des 31.12.2022 außer Kraft getreten ist und das vorliegende Normen­kontroll­verfahren erst nach Außerkrafttreten dieser Vorschrift anhängig wird.

Zu der ersten Frage ist auszuführen, dass die durch das VG Osnabrück erfolgte erneute Vorlage nur dann nicht als unzulässig zu verwerfen ist, wenn sich, gemessen an der Begründung der Vorentscheidung des BVerfG vom 27.04.2022, neue Tatsachen ergeben haben oder neue rechtliche Gesichtspunkte aufgetreten sind (BVerfGE 94, 315 (323)). Das Vorliegen neuer Tatsachen bejaht das Verwaltungsgericht.

a) Neu ist die Tatsache, dass die Mitarbeiter des RKI nicht unabhängig waren

Das BVerfG hat in seiner Entscheidung vom 27.04.2022 unterstellt, dass das Bundes­gesundheits­ministerium (BMG) durch das RKI und das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) fachkundig beraten worden sei. In den beiden Gremien seien Sach- und Fachverstand gebündelt. Die dort arbeitenden Wissenschaftler seien entsprechend ihrer Qualifikation besonders geeignet, hochdynamische Veränderungsprozesse zu bewerten. Die Analyse langfristiger gesundheitlicher Trends in der Bevölkerung und die Bekämpfung von Infektionskrankheiten gehörten zum Kernbereich ihrer Arbeit. Das BVerfG begründet seine Entscheidung auch damit, dass die Mitarbeiter des RKI und des PEI nicht nur fachkundig seien, sondern auch in ihren Beurteilungen unabhängig gewesen seien (BVerfG, Beschluss vom 27.04.2022, 1 BvR 2649/21, Rn. 137 und 160). So handele es sich bei diesen Einrichtungen um „mit spezifisch wissenschaftlicher Fachkompetenz ausgestattete selbständige Bundesoberbehörden im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit“. Das BVerfG hinterfragt dabei nicht, ob das BMG den Empfehlungen des RKI Folge geleistet oder sogar Vorgaben dazu gemacht hat, was eventuell entgegen der Ansicht des RKI als sogenannte wissenschaftliche Erkenntnis nach außen kundgetan werden sollte. 

Nach Auffassung des VG Osnabrück erfordern zahlreiche Einträge in den RKI-Protokollen eine neue abweichende Einschätzung zu der von dem BVerfG vorausgesetzten wissenschaftlichen Unabhängigkeit des RKI. (Nebenbei bejaht das Gericht mit überzeugender Begründung die Echtheit dieser Protokolle.)

Kompetenzverlagerung auf die Exekutive

Anhand zahlreicher Zitate aus den Protokollen gewinnt das Gericht die Überzeugung, dass das RKI, entgegen der Annahme des BVerfG, gerade keine unabhängige wissenschaftliche Institution war (S. 17–19). Es hat nach Ansicht des Gerichts regelmäßig auf Weisungen des BMG und insbesondere des damaligen Gesundheitsministers Spahn gehandelt. Der von dem Gericht als Zeuge vernommene ehemalige Leiter des Corona-Krisenstabes habe diese Einschätzung im Rahmen seiner Zeugenvernehmung bestätigt. Bei seiner Vernehmung habe er bekundet, „dass sein Selbstverständnis der Wissenschaftsfreiheit des Instituts seinerzeit sich auf die Methodik bezogen habe, mit der Forschung betrieben worden sei, dass man aber selbstverständlich Weisungen entgegengenommen habe“ (S. 20). Die wissenschaftliche Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen sei nicht mehr Teil der Wissenschaft, sondern Teil der Politik gewesen. Nach Auffassung des VG Osnabrück ist diese Kompetenzverlagerung auf die Exekutive eine neue Tatsache, die erst durch den Inhalt der jetzt veröffentlichten Protokolle bekannt geworden ist. Die vom BVerfG in seiner Entscheidung vom April 2022 angenommene Unabhängigkeit des RKI gab es demnach nicht. 

b) Neu ist die Tatsache, dass die Impfung keinen Fremdschutz bietet

Nach der Gesetzesbegründung zu § 20a IfSG (BT-Drs. 20/188, S. 28 ff.) war der Schutz vulnerabler Personen vor einer Ansteckung durch ungeimpftes Personal der tragende Grund für die Einführung der einrichtungsbezogenen Impfpflicht:

„… Zur Prävention stehen gut verträgliche, hochwirksame Impfstoffe zur Verfügung. Impfungen gegen COVID-19 schützen nicht nur die geimpfte Person wirksam vor einer Erkrankung und schweren Krankheitsverläufen (Individualschutz), sondern sie reduzieren gleichzeitig die Weiterverbreitung der Krankheit in der Bevölkerung (Bevölkerungsschutz)“ (BT-Drs. 20/188, S. 28).

Die Impfung reduziere – so die Gesetzesbegründung – das Übertragungsrisiko, wovon besonders vulnerable ältere Personen profitieren würden. 

Diese Gesetzesbegründung, die angeblich auf wissenschaftlichen Erkenntnissen bzw. der Einschätzung des RKI beruht, wurde vom BVerfG in seiner Entscheidung vom 27.04.2022 (Rn. 160, 173 f.) unkritisch übernommen. 

Ein neuer Sachverhalt – so das VG Osnabrück – ergebe sich aus den nunmehr veröffentlichten RKI-Protokollen. Die zahlreichen einschlägigen Zitate aus den RKI-Protokollen, die hier nur beispielhafte Erwähnung finden, sind auf den Seiten 21–24 nachzulesen:

Aus dem Ergebnisprotokoll des Krisenstabes vom 

08.01.2021: „Impfstoffwirkung ist noch nicht bekannt“,

08.02.2021: „Es ist zu erwarten, dass durch die Impfung zwar schwere Verläufe vermieden werden können, nicht jedoch die lokale Vermehrung der Viren“,

27.08.2021: „Der eigentliche Effekt von 2G ist nicht ein größerer Fremdschutz, sondern ein größerer Selbstschutz“,

05.11.2021: „In den Medien wird von einer Pandemie der Ungeimpften gesprochen. Aus fachlicher Sicht nicht korrekt. Gesamtbevölkerung trägt bei (…)

Man sollte dementsprechend sehr vorsichtig mit der Aussage sein, dass Impfungen vor jeglicher (auch asymptomatischer) Infektion schützen …“.

Zugrunde gelegten Annahme war tatsächlich falsch

Diese Eintragungen in den Protokollen veranlassten das Verwaltungsgericht zu folgender zusammenfassenden Wertung: Die vom BVerfG in seiner Entscheidung vom 27.04.2022 zugrunde gelegten Annahme, Impfungen gewährleisteten in jedem Fall einen wirksamen Fremdschutz, war tatsächlich falsch. Dem RKI war, wie sich aus den Protokollen ergibt, bereits vor dem Erlass des § 20a IfSG bekannt, dass Fremdschutz durch Geimpfte nicht gewährleistet war. Diese durch den Inhalt der RKI-Protokolle bekanntgewordenen Tatsachen sind neu und rechtfertigen es nach Auffassung des Verwaltungsgerichts, die Verfassungsgemäßheit des § 20a IfSG erneut zu überprüfen. 

Der § 20a IfSG ist bereits mit Ablauf des 31.12.2022 außer Kraft getreten. Das Verwaltungsgericht verkennt nicht, dass für ein zeitlich danach angestrengtes Normenkontrollverfahren in der Regel kein über den Einzelfall hinausgreifendes Interesse besteht, seine Verfassungsmäßigkeit zu klären. Das BVerfG (BVerfGE 47, 46 (64)) habe jedoch entschieden, dass außer Kraft getretenes Recht zur Normenkontrolle vorgelegt werden kann, wenn es für das Ausgangsverfahren entscheidungserheblich bleibt. Die Voraussetzungen für die Überprüfung der Rechtsgültigkeit der außer Kraft getretenen Norm lägen dann vor, „wenn ein hinreichend gewichtiges, grundsätzliches Klärungsbedürfnis besteht“ (S. 25).

Die Voraussetzungen für eine konkrete Normenkontrolle sieht das Verwaltungsgericht im vorliegenden Fall als erfüllt an. Die Impfpflicht habe einen direkten Grundrechtseingriff dargestellt:

Die Impfpflicht war Gegenstand umfassender und kontrovers geführter gesellschaftlicher Diskussionen, im Rahmen derer die Glaubwürdigkeit und Funktionsfähigkeit des Staates und der handelnden Personen von Menschen aus allen Teilen der Gesellschaft massiv infrage gestellt worden sind.“ Das Verwaltungsgericht weist zutreffend darauf hin, dass die einrichtungsbezogene Impfpflicht auch zwei Jahre nach deren Außerkrafttreten – wie auch staatliches Handeln insgesamt während der Corona-„Pandemie“ – die Gesellschaft „insgesamt immer noch tief bewegt und spaltet“ (S. 25).  

Das Gericht hat die Statthaftigkeit der Klage für gegeben angesehen. Ebenso hat es das Fortsetzungs­feststellungs­interesse bejaht, weil für das am 07.11.2022 ausgesprochene Betretungs- und Tätigkeitsverbot bis zum Außerkrafttreten des § 20a IfSG am 31.12.2022 kein gerichtlicher Rechtsschutz in einem Hauptsacheverfahren zu erlangen gewesen sei.

„Dem schließt sich die Kammer überzeugt an“

Das Verwaltungsgericht Osnabrück durfte dem Bundesverfassungsgericht die Frage der Verfassungswidrigkeit von § 20a IfSG nur dann vorlegen, wenn diese Frage für die bei dem Gericht anhängige Klage entscheidungserheblich ist. Im Rahmen dessen hat das VG Osnabrück in seinem Vorlagebeschluss (Seiten 27–29) zunächst begründet, weshalb bei Wirksamkeit des § 20a IfSG die Klage unbegründet wäre. Sodann gelangt das Gericht zu der Auffassung, dass § 20a IfSG mit dem Recht auf körperliche Unversehrtheit (Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 GG) und der Berufsfreiheit (Artikel 12 Absatz 1 GG) – „jedenfalls ab Mitte des Jahres 2022“ – unvereinbar gewesen sei (S. 29).

Unbestritten sei, dass durch die Regelungen in §§ 20a, 22a IfSG zweifelsfrei ein erheblicher Eingriff in die beiden vorgenannten durch das Grundgesetz geschützten Rechte erfolgt sei. Das hat schon das BVerfG in seiner Entscheidung vom 27.04.2022 betont. Insofern folgt das Verwaltungsgericht dem BVerfG. Ebenso steht es hinter der Auffassung des BVerfG in dessen vorgenannter Entscheidung vom 27.04.2022, wonach § 28a IfSG dem Vorbehalt des Gesetzes genüge und auch dem Grundsatz der Normenklarheit entspreche. Das führt das Verwaltungsgericht im Einzelnen auf den Seiten 33–42 unter Bezugnahme auf die Ausführungen des  BVerfG in der zuvor zitierten Entscheidung aus. 

In Frage stellen könne man auch nicht, dass § 20a IfSG einem legitimen Zweck diente. Der Gesetzgeber habe mit dieser Regelung angestrebt, Gesundheit und Leben vulnerabler Menschen in besonderem Maße vor einer Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 zu schützen. Diese Einschätzung teilt das Verwaltungsgericht auf den Seiten 43–47 unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des BVerfG mit der zusammenfassenden Feststellung: „Dem schließt sich die Kammer überzeugt an“ (S. 47). 

Diese pauschale Zustimmung zu sämtlichen die Coronakrise betreffenden Bewertungen des Bundesverfassungsgerichts ist irritierend; denn nach Auffassung der Autoren setzt sich das Gericht damit teilweise in Widerspruch zu seiner eigenen Ansicht. Die angebliche Verschärfung der epidemischen Lage sowie der Lage in den Intensivstationen und die durch Förderung von Testungen erreichte hohe Zahl von angeblich an Corona Erkrankten wären zu hinterfragen. Der Glaube an einen Erkenntnisgewinn durch Testungen ist bei dem Gericht entgegen der vorliegenden Erkenntnisse ungebrochen. Eine detaillierte kritische Auseinandersetzung zu diesen und weiteren Aspekten des Vorlagebeschlusses ist allerdings nicht Gegenstand dieser Arbeit.

"Die Ansicht des Bundesministers für Gesundheit … teilt die Kammer nicht“

Das Verwaltungsgericht bekräftigt jedoch seine Überzeugung,  dass die in §§ 20a, 22a IfSG formulierte Nachweispflicht nicht geeignet gewesen sei, Leben und Gesundheit vulnerabler Personen zu schützen. „Die dem Gesetzgeber zustehende Einschätzungsprärogative war aufgrund dieser Umstände nachhaltig erschüttert bzw. erheblich verengt, woraus dieser jedoch während der Geltungsdauer der Vorschrift keine Konsequenzen gezogen hat“ (S. 63). Danach habe der Gesetzgeber § 20a IfSG in die Verfassungswidrigkeit hineinwachsen lassen. Für diese Ansicht stützt es sich auf die den RKI-Protokollen zu entnehmenden Erkenntnisse und das Ergebnis der Vernehmung des jetzigen Präsidenten des RKI als Zeugen. 

Es würde den Rahmen der Abhandlung sprengen, die umfangreichen Schlussfolgerungen, die das Verwaltungsgericht aus der Beweisaufnahme gezogen hat, darzustellen. Hervorzuheben sind aber die folgenden wesentlichen Erwägungen:

„Diesen, von fachkundigen Mitarbeitenden des E.s (1) im Rahmen vertraulicher Krisenstabsbesprechungen geäußerten Einschätzungen lässt sich entnehmen, dass der vom E. und auch dem Paul-Ehrlich-Institut in ihren jeweiligen Stellungnahmen gegenüber dem Gesetzgeber propagierte Fremdschutz, den Impfungen angeblich gewährleisteten, tatsächlich nicht bzw. spätestens nach Auftreten der Omikron-Variante des Coronavirus nur in geringem Ausmaß gegeben war und nicht signifikant höher war als der Schutz, den eine Testung gewährleistet hätte“ (S. 53).

Der Inhalt der RKI-Protokolle beweise, dass die offiziell von dem RKI getätigten Äußerungen (z. B. in Pressekonferenzen) „offenkundig auch aufgrund entsprechender Einflussnahmen des Bundesministeriums für Gesundheit entstanden“ seien (S. 54). Auch der Zeuge habe bei seiner Vernehmung die Einflussnahmen durch das BMG bestätigt. Aufgrund dieser Weisungen – so das VG Osnabrück weiter – seien Erklärungen an die Öffentlichkeit gegangen, die nicht in Einklang mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen der Mitarbeiter des RKI gestanden hätten. Die jeweils von der Politik getroffenen Entscheidungen, wie z. B. die Festlegung der maßgeblichen Inzidenz, die Reduzierung des Risikos bei Einreiseregelungen, die Empfehlungen zu Quarantäne und Isolation, seien keine bloßen Managemententscheidungen gewesen, wie der Zeuge habe glauben machen wollen. Diese Entscheidungen hätten vielmehr nach Ansicht des Verwaltungsgerichts „eine Bewertung des jeweiligen Risikos der aktuellen Situation auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse“ erfordert. Es laufe der Konzeption des RKI als wissenschaftlichem Beratungsgremium zuwider, „wenn ein Wert schlicht auf Wunsch oder auch Weisung eines fachfremden Ministers festgelegt wird. Dabei handelt es sich auch nicht um schlichte Fragen der Fachaufsicht des Bundesministers für Gesundheit über Bundesbehörden, sondern in Wirklichkeit um eine gesetzeswidrige Einmischung in die wissenschaftliche Unabhängigkeit des RKI“. Bei dieser Beweislage ist es konsequent, wenn das Verwaltungsgericht Herrn Lauterbach widerspricht, der immer noch behauptet, es habe keine politische Einmischung gegeben: „… die Ansicht des Bundesministers für Gesundheit, der eine politische Einflussnahme auf das E. verneint … teilt die Kammer nicht“ (S. 56).

"Tätigwerden des Gesetzgebers wäre möglich und erforderlich gewesen"

Damit nicht genug weist das VG Osnabrück auch auf den Umstand hin, dass dem Zeugen Professor Dr. Schaade im maßgeblichen Zeitpunkt bekannt gewesen sei, dass der von der Firma Biontech/Pfizer zum Einsatz gelangte Impfstoff überhaupt nicht zum Fremdschutz zugelassen war. Prof. Dr. Schaade hatte im Rahmen seiner Vernehmung ergänzend zu dem Inhalt der Protokolle bestätigt, dass zum Zeitpunkt der Notfallzulassung des Corona-Impfstoffes im Dezember 2020 keine gesicherten Daten des Herstellers Biontech/Pfizer zum Schutz der Impfung vor einer Übertragung des Virus durch eine geimpfte Person vorgelegen hätten. Die Zulassungsstudien dieser Hersteller, in der ein Übertragungs- oder Fremdschutz des Impfstoffes nicht thematisiert worden sei, sei ihm bekannt gewesen. 

Mit Blick auf die spätestens seit Spätsommer 2022 vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse, war die einrichtungsbezogene Impfpflicht zur Erreichung des Schutzzweckes von § 20a IfSG – Schutz vulnerabler Bürger – nach Auffassung des VG Osnabrück auch nicht mehr erforderlich gewesen. Das habe besonders wegen der seit Januar 2022 vorherrschenden Omikron-Variante gegolten (S. 59/60). Der Zeuge Schaade habe unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass offensichtlich der politische Wille für eine Aufhebung des § 20a IfSG gefehlt habe.  

Das Verwaltungsgericht stellt nach allem fest: „Zu einem Zeitpunkt im Jahre 2022, der deutlich vor dem Zeitpunkt des Erlasses des hier streitgegenständlichen Bescheides im November 2022 lag, wäre ein Tätigwerden des Gesetzgebers möglich und erforderlich gewesen, um Grundrechtseingriffe zu vermeiden“ (S. 58). § 20a IfSG sei im Jahre 2022 „in die Verfassungswidrigkeit hineingewachsen“, ohne dass der Gesetzgeber darauf reagiert habe. Es hätte eines Tätigwerdens und Gegensteuerns des Gesetzgebers bedurft, was aber „aus welchen Gründen auch immer“ unterblieben sei (S. 59). 

Von Anfang an grundrechtswidrig

Der als Zeuge vernommene jetzige Präsident des RKI hatte vergeblich versucht, den Inhalt der veröffentlichten Protokolle zu relativieren, um das ganze Ausmaß des Versagens zu verschleiern. Das Verwaltungsgericht lässt dessen Meinung, die Protokolle enthielten nur die persönlichen Meinungen einzelner Mitarbeiter und spiegelten deshalb nicht die Leitlinien des RKI wider und seien folglich ohne Erkenntniswert, nicht gelten. Dagegen spreche, so das Verwaltungsgericht, schon die gewählte Form als Protokoll. In Protokolle würden nur relevante Angaben aufgenommen, um sie für die Zukunft festzuhalten und ggf. nutzbar zu machen. Falls sie ohne Bedeutung gewesen wären, hätte man sie nicht mit VS-Vermerk (Verschlusssache nur für den internen Gebrauch) zu versehen brauchen (S. 54). 

Die Verfasser folgen dem Verwaltungsgericht insoweit, dass § 20a IfSG verfassungswidrig war. Sie sind jedoch der Auffassung, dass § 20a IfSG nicht erst im Jahre 2022 in die Verfassungswidrigkeit hineingewachsen ist, sondern angesichts des Inhalts der RKI-Protokolle von Anfang an grundrechtswidrig war. 

Die Entscheidung des VG Osnabrück ist dennoch nicht nur als Lichtblick in der sog. Corona-Rechtsprechung zu bezeichnen, sondern stellt einen Meilenstein dar auf dem Weg zu einer Aufarbeitung. Völlig zurecht legt das VG Osnabrück den Finger in die immer noch klaffende Wunde des Rechtsstaats, der aufgrund wissenschaftlich nicht gesicherter Erkenntnisse, allein politisch kalkuliert handelnd, seinen Bürgern derart massive Grundrechts­einschränkungen zugemutet hat und damit eine bislang nie erlebte Verletzlichkeit unseres Gemeinwesens offenbarte. Den Verantwortlichen ist bewusst, dass sie nicht nur die Bürger getäuscht haben, sondern auch die Justiz, die es abgesehen von der hier besprochenen Entscheidung bislang verabsäumt hat, die „Empfehlungen“ des RKI und sonstiger weisungsgebundener Oberbehörden näher zu hinterfragen. Es bleibt die Hoffnung, dass die Aufarbeitung endlich stattfindet und der Erosion des Rechtsstaates Einhalt gebietet. Zu dieser Aufarbeitung beizutragen hat nunmehr das Bundesverfassungsgericht Gelegenheit.

(1) Anmerkung der Redaktion: „E.“ bezeichnet in der anonymisierten Veröffentlichung des Gerichtsbeschlusses das Bundesinstitut für Infektionskrankheiten und nicht übertragbare Krankheiten, mithin das Robert-Koch-Institut (RKI).

Dieser Beitrag erschien zuerst bei KRiStA.

Dr. Manfred Kölsch war 40 Jahre lang Richter und gab im Mai 2021 aus Protest gegen die Corona-Maßnahmen sein Bundesverdienstkreuz zurück.

Karin Adrian praktiziert als Rechtsanwältin und ist Mitglied der Anwälte für Aufklärung (AfA). Außerdem ist sie Vorstandsmiglied des Beirates von KRiStA.

Foto: Imago

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Leserpost

netiquette:

Dirk Jungnickel / 09.10.2024

In diesem unserem Staat werden Staatsverbrechen vertuscht und der Klaubauterbach demnächst sicher mit einem Verdienstorden behängt ....

Bernd Fielitz / 09.10.2024

Ministerien, Behörden und Parlamente sitzen voll mit Juristen und trotzdem kriegen die nichts ordentlich “gebacken”. Besser als ‘ne Arschhochprämie wäre ‘ne Hirneinschaltgratifikation für unsere Staatsdiener.

kai marchfeld / 09.10.2024

Bevor man sich immer tiefer in die Feinheiten der Rechteleien begibt: Ein Grossteil der Bevölkerung hat nicht aufgemuckt, als die Hetztiraden gegen Ungeimpfte in der Politik und in den Qualitätsmedien mehr und mehr zunahmen - bis hin zu den bekannten Statements a la “Ihr seid jetzt raus aus dem gesellschaftlichen Leben”. Keiner hat sich öffentlich empört, als die Bediensteten im Gesundheitsbereich unter Androhung des Entzugs der Existenzgrundlage (nichts anderes ist ein Arbeitsverbot ohne Anspruch auf Arbeitslosengeld) gezwungen wurden, sich die Injektionen verabreichen zu lassen. Nicht wenige haben nicht nur geschwiegen sondern auch noch kräftig mitgegeifert. Jeder konnte z.B. in Wikipedia nachlesen, dass das RKI eine Behörde und kein unabhängiges Institut ist - Zeit genug war ja vorhanden im Lockdown, sofern man nicht mit der Jagd auf Klopapier beschäftigt war. Nach dem Contergan-Skandal und den dem bunten Treiben des Herrn Lauterbach in der Lipobay-Affäre hätte jeder ohne grössere Anstrengung dahinter kommen können, dass unser Land eine ganz besondere Beziehungstradition zur Pharmaindustrie pflegt - auch für diese Erkenntnis benötigt man weder Auslandsgeheimdienste noch Detektivbüros. Ich war der Meinung unser Land wäre weiter - bezogen auf den oft bemühten “mündigen Bürger”. Entnazifizierung und Jahrzehnte in demokratischer Freiheit haben anscheinend nichts gebracht. Und DAS ist die eigentlich schockierende Erkenntnis für mich.

jener ari / 09.10.2024

“Dr. Manfred Kölsch war 40 Jahre lang Richter und gab im Mai 2021 aus Protest gegen die Corona-Maßnahmen sein Bundesverdienstkreuz zurück.” Guter Mann! Vorbild für so Manchen, der zur Zeit noch mit sich und dem, was er im Spiegel gerne wieder sehen möchte, ringt.

Walter Weimar / 09.10.2024

Es gab was von der Kasse, gratis! Das Volk nahm das gerne an. Es bedurfte keines Zwang. Es wurde ‘hier!’ gerufen. Die Leute würden es jederzeit wieder tun. Noch nie war das deutsche Volk so dumm und einfälltig. Jeder, der sich hat impfen lassen. Es war gar keine Impfung, es war eine Gentherapie. Bringe morgen eine Impfung gegen Dummheit, die Leute stehen schlange.

Sepp Kneip / 09.10.2024

Wird die deutsche Justiz ihrer Aufgabe überhaupt noch gerecht? Man kann das sicher nicht so generell beantworten. Insbesondere bei Urteilen, bei denen der Staat involviert ist, muss man auf die Neutralität der Rechtsprechung achten. Die Ernennung der Richter durch die Politik lässt hier die übelsten Fehlurteile entstehen. Natürlich sind die Richter verpflichtet nach Recht und Gesetz zu urteilen. Aber die Dialektik lässt auch in der Jurisprudenz viele Interpretationen zu. Dennoch ist nicht zu verkennen, dass vor allem in den obersten Instanzen eine Vereinnahme der Gerichte durch die Politik unverkennbar ist. Das ist für einen Rechtsstaat unwürdig. Daher wäre es notwendig, dass der Staat der Aufarbeitung von Corona keine Steine in den Weg legen würde. Er muss hier, ohne Rücksicht auf Verluste und Personen, Farbe bekennen, wenn er glaubwürdig sein will.

Wilfried Cremer / 09.10.2024

Lauterbach z.B.

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