Gunter Weißgerber / 06.07.2024 / 06:00 / Foto: Montage achgut.com / 106 / Seite ausdrucken

Wann wird der „Genosse” verboten?

Dass deutsche Gerichte sich zu Verurteilungen möglicherweise „gemeinter“ Gedanken hergeben, ist für mich ein Rückfall in jene Zeiten, in denen Gedankenpolizisten Menschen in Zuchthäuser und Lager brachten.

Der Thüringer AfD-Vorsitzende Björn Höcke stand diese Woche ein zweites Mal vor Gericht. Im Mai 2021 skandierte er im Landtagswahlkampf Sachsen-Anhalt „Alles für unsere Heimat, alles für Sachsen-Anhalt, alles für Deutschland“. Dafür wurde er im Mai 2024 zu einer Geldstrafe von 100 Tagessätzen à 130 Euro, insgesamt 13.000 Euro verurteilt. 

Im Dezember 2023 rief Höcke auf einer AfD-Veranstaltung in Gera „Alles für… “ und ließ das Publikum mit „für Deutschland“ den Satz vollenden. Im Juli 2024 wurde er dafür erneut verurteilt. Der Vorwurf lautet in beiden Fällen Verwendung verfassungswidriger Symbolik. „Das Landgericht Halle an der Saale sah es als erwiesen an, dass der AfD-Politiker Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen verwendet hat. Dies ist nach Paragraf 86a des Strafgesetzbuchs verboten. Der Vorsitzende Richter Jan Stengel verurteilte Höcke deshalb zu einer Geldstrafe von 16.900 Euro.“ „Alles für Deutschland“ verwendeten nach Meinung der Gerichte vor allem die Schergen der paramilitärischen SA-Truppen der Nationalsozialisten vor und während des NS-Staates. 

Höcke, im bürgerlichen Beruf Geschichtslehrer, bestreitet, von der Verfassungswidrigkeit von „Alles für Deutschland“ gewusst zu haben. Für die Bevölkerung dürfte das sogar zutreffen. Im Falle eines Geschichtslehrers mit Hang zur Geschichte zwischen Kaiser- und Drittem Reich ist das eher nicht zu vermuten. Doch die Gedanken sind frei und in die Gehirne vermag noch niemand hineinzuschauen. Auch ich denke, Höcke kennt den SA-Satz und bezog sich auf diesen. Doch beweisen lässt sich das nicht. 

Dass deutsche Gerichte sich zu Verurteilungen möglicher „gemeinter“ Gedanken und Aufrufe hergeben, ist für mich ein Rückfall in jene Zeiten, in denen Gedankenpolizisten Menschen in Zuchthäuser und Lager brachten. Damit wird das Gegenteil von dem erreicht, was die Prozessführer erreichen wollen. Intelligent geht anders.

Gerichte auf gefährlichem Glatteis

Erschwerend für den Vorwurf der Verwendung von NS-Symbolik durch Herrn Höcke steht die Geschichte im Raum. Erstaunlich, dass die Richter diesbezüglich eine Leerstelle aufblitzen ließen. Am 26. Dezember 1931 lautete die Überschrift in der Zeitung des sozialdemokratisch geführten Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold „nichts für uns – alles für Deutschland!“. Wer sagt uns denn, dass der Geschichtslehrer Höcke sich nicht auf diesen SPD-Satz von 1931 bezog? Der Ruf „Alles für Deutschland“ war zwischen dem Zusammenbruch des Kaiserreichs und der NS-Diktatur eher ein Allerweltsruf im Wettbewerb der Parteien um Wählerstimmen. Demokraten wie Antidemokraten reklamierten ihn für sich. 

Die bundesdeutschen Gerichte haben sich von Herrn Höcke auf gefährliches Glatteis ziehen lassen. Das ist jetzt meine unbeweisbare Annahme. Zugegeben. Wir sollten gespannt nach Karlsruhe zum Bundesgerichtshof schauen. Dort werden Höckes Revisionsverfahren laufen. Die Karlsruher Bundesrichter werden professionell arbeiten und Historiker zu Rate ziehen müssen. Björn Höcke hat diese Prozesse wohl längst noch nicht verloren. Zumal ich sicher bin, auf SPD-Bundesparteitagen solche Aufrufe sicher auch schon gehört zu haben. Auch hier können Historiker sachgerechte Recherchearbeit abliefern. Wenn sie denn wollen oder sollen.

Bei dieser Gelegenheit komme ich auf die komischerweise noch immer erlaubte Anrede „Genosse“ zu sprechen. Entstanden in der Handwerkerschaft des frühen 19. Jahrhunderts, übernommen von den Sozialdemokraten ab 1863, sprachen und sprechen sich weltweit viele Menschen mit „Genosse“ an. Darunter demokratische Bewegungen wie die Sozialdemokratie, aber auch Antidemokraten wie Kommunisten und Nationalsozialisten. Letztere setzten vor „Genosse“ noch das Wort „Partei“ und redeten sich als „Parteigenosse (PG)“ an.

Ich kann nur warnen

Mit dem Wort „Genosse“ praktizierten viele Menschen demokratische Politik. Was dem Wert des „Genosse“ zur Ehre gereicht. Andererseits verfolgten, ermordeten und führten „Genossen/Parteigenossen“ mörderische Kriege und drangsalierten mit der erzwungenen Anrede „Genosse“ ganze Bevölkerungen. „Genossen“ sind für 100 Millionen Tote des Kommunismus verantwortlich. „Parteigenossen“ für zig Millionen Tote des Zweiten Weltkriegs, der NS-Konzentrationslager und der Judenvernichtung.

Ist „Genosse“ tatsächlich noch verwendbar, wenn „Alles für Deutschland“ verboten ist? Die Frage ist berechtigt. Ich für meinen Teil verwendete aus diesen Gründen als SDP/SPD-Abgeordneter in Volkskammer und Bundestag jedenfalls nie diese Anrede. Ich sprach die Kollegen meiner Fraktion immer als Freunde und Freundinnen an. Selbst Willy Brandt, Helmut Schmidt und viele andere Sozialdemokraten änderten nach 1989 ihre Anrede in „Liebe Freunde und Freundinnen“ um. Ihnen leuchteten diese Vorbehalte ein.

Björn Höcke ist mir in seiner ganzen Art, seinem Duktus, seinen Inhalten und geschichtsrevisionistischen Anschauungen zutiefst zuwider. Von solchen Menschen möchte ich nicht regiert werden! Weil ich denen dasselbe an Machtmissbrauch und Verfolgung zutraue, was Deutsche im Dritten Reich und in der DDR erleben mussten. Doch kann ich das auch nicht beweisen. Ich kann nur vor ihm warnen, so wie ich vor Sahra Wagenknecht warne und die Regierigen ständig auffordere, Politik für die Bevölkerung und nicht für das Wetter und das Umerziehen zu machen. Denn diese Politik ist die Ursache der Wahl eines Björn Höcke oder einer Sahra Wagenknecht.

 

Gunter Weißgerber (Jahrgang 1955) trat am 8. Oktober 1989 in das Neue Forum ein und war am 7. November 1989 Gründungsmitglied der Leipziger SDP. Für die SDP/SPD sprach er regelmäßige als Redner der Leipziger Montagsdemonstrationen 1989/90. Er war von 1990 bis 2009 Bundestagsabgeordneter und in dieser Zeit 15 Jahre Vorsitzender der sächsischen Landesgruppe der SPD-Bundestagsfraktion (1990 bis 2005). Den Deutschen Bundestag verließ er 2009 aus freier Entscheidung. 2019 trat er aus der SPD aus. Die Gründe dafür erläutert er hier. Er sieht sich, wie schon mal bis 1989, wieder als “Sozialdemokrat ohne Parteibuch”. Weißgerber ist studierter Ingenieur für Tiefbohr-Technologie. Er ist derzeit Unternehmensberater und Publizist.

Foto: Montage achgut.com

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Thomas Kurt / 06.07.2024

@Leo Hohensee: Ja, lieber Herr Hohensee, was soll ich auf Ihre Antwort schreiben? Im Gegensatz zu mir, der Ihre Einstellung aus vielen Ihrer Kommentare kennt und schätzt, ist das (zu meinem Leidwesen) umgekehrt nicht der Fall. Schade. Und vielen Dank an Frau Grimm für die Unterstützung.

Horst Jungsbluth / 06.07.2024

@Markus Bärtschi: Ihr Eindruck ist mehr als zutreffend, aber ich glaube, dass es noch schlimmer ist, als Sie und andere es sich überhaupt vorstellen (wollen).

Albert Schultheis / 06.07.2024

Werter Herr Weißgerber, Ich bin grundsätzlich gegen Wortverbote, denn wann hätte ein Wortverbot unser unglückseliges Land jemals vor einem Unglück bewahrt? Im Gegenteil! Die Jahre der größten und lebensgefährlichsten Wortverbote waren die unglückseligsten Jahre in unserer Geschichte! Siehe Drittes Reich und DDR. Auch heute driften wir wieder in eine Ära sozialistischer Wortverbote. Und unsere Richter und Staatsanwälte walten ihres “staatstragenden” Amtes. Das ist deutsche Tradition. Die Begriffe “Genosse”, “Alles für Deutschland” und “Führer” sind zunächst semantisch positiv besetzt. Darum sind sie besonders verlockend für Demagogen. Wer darin nur krankhafte Bezüge sieht, ist selber krank. Der Bürger ist klug genug, selber zu entscheiden, welche Semantik er den Zeichen entnehmen will. Wenn einer den Hitlergruß zeigt, dann outet sich derjenige doch lediglich als geistiger Leerpfosten.

Rainer Möller / 06.07.2024

Der entscheidende juristische Punkt ist der: Der Gesetzgeber hat nicht hinreichend bestimmt, ab welchem Punkt ein Slogan eigentlich als Kennzeichen einer verfassungswidrigen Organisation gelten soll. Logisch wäe:: solche Slogans, die schon die Zeitgenossen als Alleinstellungsmekrmal dieser Organisation empfunden und deshalb nicht für sich verwendet haben. Das ist bei dem Slogan “Alles für Deutschland” definitiv nicht der Fall (er wurde wohlgemerkt auch nach 1945 von der SPD benutzt). Wenn der Gesetzgeber das Bestimmtheitsgebot nicht beachtet, holen die Gerichte das gerne nach. Da überschreiten sie aber dann u.U ihre Kompetenz. Im zweiten Höcke-Urteil wurde argumentiert, Höcke hätte nach dem ersten Urteil ja wissen müssen, der Slogan sei verboten - so als könne das par ordre de Mufti entschieden werden. Skurrilerweise befürchtet Weißgerber, das BVerfG könne Höcke entlasten.  Ich fürchte eher, das BVerfG wird die Auffassung unterstützen, dass die Verfassungswidrigkeit von Slogans von den derzeitigen Machthabern nach Willkür definiert werden kann. Wir rutschen in eine neue Diktatur - und erst nach dem Ende dieser Diktatur haben wir wieder die Chance auf eine Rechtsprechung, die den Bürger vor den Machthabern schützt.

Thomas Kurt / 06.07.2024

@Markus Knust: “Vielleicht sollte der Autor damit beginnen, sich die Taten derer anzuschauen, die das Wesen von Herrn Höcke gerne so bildhaft beschreiben…” Vielleicht sollte auch Jemand dem Autor den Begriff der Projektion in der politischen Auseinandersetzung erläutern, er kennt ihn ganz offensichtlich nicht. In “einfacher Sprache”: das, was ich denk und tu, ordne ich dem Gegner zu.

Wilfried Düring / 06.07.2024

Kennen Sie den? ‘Er war ein GUTER KOMMUNIST und wurde gut erschossen - von einem GUTEN GENOSSEN!’-. Autor unbekannt; nach meiner Erinnerung manchmal Wolf Biermann zugeschrieben. Der ungarische Kommunist und Nationalheld Imre Nagy wurde von ‘seinen’ Genossen übrigens NICHT erschossen - sondern gehängt.

Dr. Günter Zecher / 06.07.2024

Lieber Herr Weissgerber. Mit Ihren Ausführung zu Björn Höcke, die völlig substanzlos sind, tun Sie mir leid. Schade, dass solche Kolumnen dem Leser zugemutet werden.

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