Georg Etscheit / 01.03.2022 / 12:00 / Foto: Mil.ru / 151 / Seite ausdrucken

Waleri Gergiew: Vom Pultstar zum Paria

Für mich ist auch der nun bekanntgegebene fristlose Rausschmiss des Chefdirigenten der Münchner Philharmoniker eine schwere Bombe, ein zerstörerischer Sprengsatz auf dem Feld der Kultur, die, wie es doch immer so schön heißt, Brücken bauen soll.

Russlands Ausschluss aus dem internationalen Bankenkommunikationssystem SWIFT, so las ich jüngst, sei „die Atomwaffe“ unter den Wirtschaftssanktionen. Der Vergleich mag reißerisch ein, soll jedoch auf mögliche weitreichende Folgen dieser inzwischen vollzogenen Strafmaßnahme gegen Russland hinweisen, Folgen, die nicht nur den Aggressor treffen, sondern auch das eigene Lager. Doch hier soll es nicht um die Ökonomie gehen, sondern um die Kunst, genauer gesagt um das ergebnislos verstrichene Ultimatum des Münchner Oberbürgermeisters Dieter Reiter (SPD) an den russischen Dirigenten Waleri Gergiew. Der werde nun „keine weiteren Konzerte der Münchner Philharmoniker mehr dirigieren“, teilte Reiter am Dienstag mit. Gergiew habe sich zu seiner Aufforderung nicht geäußert, sich „eindeutig und unmissverständlich“ von dem brutalen Angriffskrieg gegen die Ukraine und die Münchner Partnerstadt Kiew zu distanzieren.

Für mich ist auch der nun bekanntgegebene fristlose Rausschmiss des Chefdirigenten der Münchner Philharmoniker eine schwere Bombe, ein zerstörerischer Sprengsatz auf dem Feld der Kultur, die, wie es doch immer so schön heißt, Brücken bauen soll zwischen den Völkern, gerade in konfliktreichen Zeiten. Dass zumindest die Werke Mozarts, Beethovens, Wagners ein Refugium sein sollen – auch diese schöne Illusion ist zerstoben.

Gergiew ist nicht irgendwer. Er ist sicher nicht der beste, aber der wohl meistbeschäftigte Dirigent klassischer Musik überhaupt. Von seinem musikalischen Imperium in St. Petersburg aus, dem Mariinsky-Theater mit Dependancen bis nach Wladiwostok, bereist er mit seinem Privatflugzeug unablässig die großen Musikzentren. Die Auftritte, die er jüngst absolvieren wollte, die jedoch aufgrund des Krieges in der Ukraine und seiner Nähe zu Wladimir Putin umbesetzt, abgesagt oder unter den Vorbehalt seiner Distanzierung von Putin gestellt wurden, sind Beweis seiner Omnipräsenz: Mailänder Scala, Carnegie Hall New York (zusammen mit den Wiener Philharmonikern), Luzern-Festival, weitere Konzerte in der von ihm maßgeblich mit auf den Weg gebrachten Isarphilharmonie, in der Hamburger Elbphilharmonie und im Festspielhaus Baden-Baden. Gergiew war es, der den Musentempel in der Kurstadt im Jahre 1998 mit einem Festkonzert eröffnete und der im vergangenen Jahr auch seinen neuen Münchner Konzertsaal inaugurierte. Von seiner Position als Chef des Verbier Festival Orchesters war Gergiew nach Aufforderung „freiwillig“ zurückgetreten.

Er trug zweifellos dazu bei, Putins Glanz zu mehren

Der gefeierte, allseits hofierte Pultstar ist binnen Kurzem zum Paria geworden. Wie einen räudigen Hund jagt man „Putins Hofkapellmeister“ zum Teufel. Sogar seine Münchner Künstleragentur gab ihm den Laufpass. Gewiss, Gergiew hat nie ein Hehl daraus gemacht, dass er Putin für einen bedeutenden Politiker hielt. Der habe, so sagte er immer wieder, Russland aus dem Chaos der Jelzin-Ära gerettet. Ohne ihn wäre das Land in einem Bürgerkrieg versunken, eine unerträgliche Vorstellung für einen Patrioten vom Schlage Gergiews. Der Dirigent und der Kremlchef kennen sich schon lange, noch aus Putins Petersburger Zeit, als der Aufstieg des einstigen KGB-Agenten zum russischen Möchtegern-Imperator begann. Immer wieder schmückte der aus Nordossetien stammende Maestro offizielle Anlässe, wie die Olympischen Winterspiele in Sotschi, mit seiner Kunst und trug zweifellos dazu bei, Putins Glanz zu mehren, vor allem im eigenen Land. 

Wie nahe sie sich in den letzten Jahren wirklich standen, darüber kann hierzulande nur spekuliert werden. Und niemand weiß bislang, wie Gergiew über die Invasion der Ukraine denkt. Unwahrscheinlich, dass er, der fließend Englisch spricht und auf allen Podien und Bühnen der Welt zu Hause ist, diesen barbarischen Akt ebenso begrüßt wie einst die russische Annexion der Krim. Andererseits liebt er sein Land. Und für echte Patrioten gilt immer noch die Devise: „Right or wrong, my country“, auch wenn überzeugte Internationalisten eine solche Haltung für verachtenswert halten mögen. Für sie ist nur die Emigration ein Weg, sich unter einem Unrechtsregime nicht die Hände schmutzig zu machen. Wäre es doch so einfach, wie jene sagen, die immer genau zu wissen meinen, was richtig und falsch ist.

Jene „rote Linie“, die jetzt um Gergiew „als politische Person“ gezogen worden ist, war eigentlich schon überschritten, als 300 russische Künstler, darunter Gergiew, im Jahre 2014 in einem offenen Brief Putins Intervention auf der Krim unterstützten. Trotzdem konnte Gergiew 2015 in München sein Amt antreten, 2018 wurde sein Vertrag um weitere fünf Jahre bis zum Ende der Saison 2024/2025 verlängert. Deswegen war Reiters Ultimatum vom vergangenen Freitag auch ein durchschaubarer Versuch, sich einer kulturellen Altlast zu entledigen, die vor allem den seit 2020 im Stadtparlament tonangebenden Münchner Grünen ein Dorn im Auge ist. Sie stoßen sich insgesamt an der konservativen Haltung des Russen, warfen ihm wegen einer missverständlichen Äußerung „Homophobie“ vor und wollen ohnehin die Förderung der „elitären Hochkultur“ zugunsten ihrer eigenen Klientel zurechtstutzen. Viel mehr Heuchelei geht nicht.

Eine Stadt wie München ist kein Tendenzbetrieb

Gergiew hat sich seit der Aufregung um seine Haltung zur Krim in politischen Dingen meines Wissens auffallend zurückgehalten, zumindest in der Öffentlichkeit. Doch eine Stadt wie München ist kein Tendenzbetrieb. Kein Arbeitsgericht der Welt würde Gergiews Weigerung, auf Reiters Ultimatum zu reagieren, als Grund für eine fristlose Kündigung akzeptieren. Möglicherweise drohen der Stadt jetzt hohe Schadensersatzforderungen. Oder man wirft dem Ausgestoßenen verächtlich eine Abfindung hinterher. „Alles weitere werden wir so schnell wie möglich klären“, schrieb Reiter in der Mitteilung zur Trennung von Gergiew.

Gergiew ist in erster Linie immer noch ein Künstler, dem man eine gewisse Sensibilität nicht nur in musikalischen Dingen unterstellen darf. Warum versucht man nicht, anstatt alle Brücken niederzubrennen, seine angeblich so engen Kontakte zu Putin zur möglichen Lösung humanitärer Fragen zu nutzen? Oder um vielleicht zu verhindern, dass jetzt alle in Deutschland lebenden Russen, die ihrem Vaterland nicht abschwören wollen, in den Generalverdacht der Kollaboration gestellt werden. Stattdessen verlangte man von ihm einen Kotau, der Gergiew in Russland Kopf und Kragen gekostet hätte, ohne dass er hätte sicher sein können, im Westen weiter eine Wirkungsstätte zu finden. 

Nun ist den Münchner Philharmonikern über Nacht ihr Zugpferd abhandengekommen. In wegen Corona auch kulturpolitisch extrem schwierigen Zeiten muss jetzt nach einem neuen Chefdirigenten der Münchner Philharmoniker gesucht werden. Vielleicht entscheidet man sich ja im Eilverfahren für Oksana Lyniv, gebürtige Ukrainerin, langjährige Assistentin des früheren Münchner Opern-Musikchefs Kirill Petrenko und letztjährige Premierendirigentin bei den Bayreuther Festspielen? Ihren Vorgängern wie Sergiu Celibidache, James Levine, Christian Thielemann, Lorin Maazel und auch Waleri Gergiew kann die ehrgeizige Kapellmeisterin zwar nicht das Wasser reichen. Doch welch ein Zeichen!

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Leserpost

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Roland Müller / 01.03.2022

Welche Barbarei auf der Krim stattgefunden hat, sollte der Herr Etscheit mal näher erklären. Nach meinem Kenntnisstand waren Hitler und Stalin die letzten, die auf der Krim für Barbarei gesorgt haben.

Franz Klar / 01.03.2022

Mitgegangen , mitgehangen ....

Roland Müller / 01.03.2022

Eigentlich sollte jetzt auch dem Letzten klar sein, dass Deutschland mit Demokratie und Meinungsfreiheit so gut wie nichts mehr am Hut hat.

B. Götz / 01.03.2022

Anna Netrebko hat ihre Konzerte nicht abgesagt. Die Bayerische Staatsoper annullierte das Engagement von Netrebko. Begründet wurde diese überaus mutige und heldenhafte Tat vom Leiter des Hauses, Serge Dorny, damit, dass sie sich ““nicht ausreichend vom Angriffskrieg gegen die Ukraine distanziert” habe. (Netrebko kritisierte, dass man Künstler nicht zu politischen Aussagen gegen ihr Vaterland zwingen dürfe.) Es erinnert an 2014, Krimseparation. Peter Jungbluth. politischer Kunstkommissar bei Bayern2, stellte damals fest, dass sie nicht mehr singen könne, eine Diva sei und überhaupt abkömmlich für D. Auch Gerghiev bekam seine Hiebe ab und wenn ich mich nicht täusche sogar Kirill Petrenko. Nun also wieder. Im Unterschied zu 2014 sind nun aber alle Russen zu Feinden, zu persona non grata geworden. Deutsche Helden verkünden im Internet, dass Inhaber russischer Pässe nicht mehr ihre (Laden)Lokale betreten dürfen. Unser Lehrlingsmädchen, in D geboren, und ihre Eltern aus Kasachstan, werde in Bayern als “Scheiß Russen” bezeichnet, man wolle nichts mehr mit ihnen zu tun haben. (Offensichtlich benötigt der Deutsche nach den Ungeimpften und zur Abwechslung andere Opfer). Sportler werden ausgeschlossen, BVB prüft ob Gerhard Schröder nicht die Ehrenmitgliedschaft aberkannt werden kann, und alle im öffentlichen Leben werden diffamiert, wenn sie sich nicht schnell und weit genug (siehe oben) distanzieren. Das erinnert an finsterste totalitäre Zeiten in Europa, die wir u.a. in D und der Sowjetunion hatten. Ist also wie mit Schlaghosen: es kommt alles wieder.

Dr. med. Jesko Matthes / 01.03.2022

Richtig! Brückenbau? Gegen die Isolation der Exklave Kaliningrad/Königsberg wünschte ich mir seit den 1990er Jahren eine Freihandelszone mit Assoziation an die EU. Gegen das militärische Zerwürfnis eine engere Bindung Russlands an die NATO, sogar dessen Aufnahme. Gegen das Hickhack um die Beutekunst eine gemeinsame deutsch-russische Kulturstiftung mit Austausch von Kunstwerken nicht zum Verbleib, sondern als gemeinsames Erbe, mit Austausch von Künstlern, Wissenschaftlern, Studenten und Schülern. Diese Versäumnisse bereits des späten Kabinetts Kohl haben weder Schröder noch Merkel wettgemacht, und die Ächtung russischer Künstler tut es heute noch weniger. Wer den Frieden bewahren will, muss etwas tun dafür. Übrigens auch: sich wehren. - Wobei mir Mstislaw Rostropowitsch dennoch der liebere bleibt als die heutigen russischen Epigonen eines Furtwängler oder Karajan oder die deutschen “antifaschistischen” Künstler. Was bekanntlich über deren künstlerische Leistungen noch nichts sagt. Dazu höre man Walter Giesekings Beethoven-Interpretationen in Stereo von 1945, nebst Kanonendonner. Alle diese Dämonen sind wieder da. Trauriges Thema…

Michael Pfeiffer / 01.03.2022

Als Münchner Bürger bin ich nicht nur höchst erstaunt, sondern entsetzt, dass nahezu alle Foristen die Entlassung Gergiews massiv kritisieren. Ich sehe das völlig anders. Obwohl ich OB Reiter kritisch gegenüber stehe und ihn nicht gewählt habe, bin ich mit seiner Aufforderung und Entscheidung Gergiews gegenüber völlig d’accord! Hier geht es nicht um die persönliche Meinungsfreiheit des Künstlers, die ist ihm unbenommen. Wenn er sich als Privatmann vom Vorgehen des Kriegsverbrechers Putin nicht distanzieren will:  Seine Sache!  Aber: In seiner herausragenden Stellung als Dirigent der Münchner Philharmoniker repräsentiert er in meinen Augen die Stadtgesellschaft insgesamt. Und diese lehnt (nahezu) einhellig den Angriffskrieg Putins ab und artikuliert dies z. B. bei zahlreichen Demonstrationen. Deshalb ist es unerträglich, wenn sich ein Spitzenrepräsentant des städtischen Kulturbetriebs weigert, sich öffentlich von Putin zu distanzieren. Und das hat null und nichts mit “Cancel Culture” oder “Unterdrückung der Meinungsfreiheit” zu tun, liebe Mitforisten, sondern setzt ein Zeichen im Kampf gegen verbrecherische Despoten!

Holger Kammel / 01.03.2022

Frau Kochan, Sie haben den Nagel auf der linken Schulter getroffen. Wurden die USA in den Zeiten des Vietnamkrieges sanktioniert? Während des Irak- und des Afganisthan-Krieges? Ein friedensnobelpreisgeehrter Präsident, der der aggressivste und kriegeristische US-Präsident war?  Zehntausende Zivilisten getötet? Alles in Ordnung. Diese Doppelmoral kotzt mich an.

Irmgard Grünberg / 01.03.2022

Das mit den Künstlern ist so eine Sache, sie wollen ja nur ihrer Kunst leben und unpolitisch sein , aber irgendwann müssen sie sich entscheiden:  wer sieht nicht gern die Filme mit Heinz Rühmann und doch ist an ihm der Makel der Hitler-Nähe. Was mit der Ukraine passiert, erfordert schon eine Entscheidung.

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