Claudio Casula / 19.05.2022 / 15:00 / Foto: Pixabay / 51 / Seite ausdrucken

Wahlrechtsreform: Weniger Abgeordnete, weniger Demokratie

Vertreter der Ampel-Parteien haben ihre Vorschläge zu einer Reform des Wahlrechts vorgelegt. Nur böse Zungen werden von einer Verschlimmbesserung sprechen.

Im Alten Rom war der altehrwürdige Senat die wichtigste Institution, besonders in der Zeit der Republik. Seine Mitglieder, die Senatoren, waren durchweg bedeutende und im Reich allgemein anerkannte Männer. Unter Lucius Cornelius Sulla Felix, 79 v. Chr. nach Diktatur verreist, umfasste er 600 Mitglieder. Jahrzehnte später vergrößerte ihn Julius Cäsar auf 900 bis 1.000, bevor der erste römische Kaiser Augustus ihn wieder auf 600 stutzte, „um die Exklusivität zu erhöhen“, wie es heißt. Klasse statt Masse. Immerhin bestimmten diese Männer über das Schicksal eines Reiches, das zur Zeit des Augustus bereits mehr als dreieinhalb Millionen Quadratkilometer umfasste.

Die deutlich kleinere Bundesrepublik des Jahres 2022 n.Chr. leistet sich das nach der Volksrepublik China mit ihren etwa 3.000 Abgeordneten im Nationalen Volkskongress (bei 1,3 Milliarden Einwohnern) zweitgrößte Parlament weltweit; statt der ursprünglich vorgesehenen 598 Mitglieder umfasst es inzwischen 736, wobei die Quantität allgemein in reziprokem Verhältnis zur Qualität der Abgeordneten steht. 

Der Bundestag, in den letzten Wahlperioden durch zahlreiche Überhang- und Ausgleichsmandate immer weiter angeschwollen, ist also viel zu groß, da ist man sich weitgehend einig. Aufgeblähte Fraktionen, Arbeitsgruppen und Ausschüsse erschweren die Abläufe und machen die parlamentarische Arbeit schwerfälliger. Dann muss die Platzfrage gelöst werden. Und nicht zuletzt sind da die Kosten. Abgeordnete und Mitarbeiter, die Verwaltung des Bundestags, die Öffentlichkeitsarbeit, Mieten und Dienstleistungen sowie sonstige Personalkosten für Beamte und Mitarbeiter kosten den deutschen Steuerzahler fast eine Milliarde Euro pro Jahr. Detailliert schildert das die NZZ in diesem lesenswerten Artikel.

Ersatzstimme, Listenstimme, Personenstimme

Wie die Tagesschau berichtet, sollen, um den Bundestag künftig deutlich zu verkleinern, einem Vorschlag aus den Ampelfraktionen zufolge die Überhangmandate und damit auch die Ausgleichsmandate abgeschafft werden. Die 138 Mandate, die der Bundestag derzeit größer als vorgesehen ist, sind sämtlich Überhang- und Ausgleichsmandate. Diese Überhangmandate entstehen dadurch, dass einzelne Parteien mehr Wahlkreise gewinnen, als es ihrem Zweitstimmenanteil entspricht. Dafür erhalten die anderen Fraktionen dann Ausgleichsmandate, damit das Verhältnis wieder stimmt. Hier also muss der Hebel angesetzt werden.

Drei Abgeordnete der Ampelparteien – Sebastian Hartmann (SPD), Till Steffen (Grüne) und Konstantin Kuhle (FDP) – haben den Reformplan vorgestellt. Er soll schon heute zur Diskussion in die Wahlrechtskommission des Bundestags eingebracht werden. Falls das Gesetzgebungsverfahren bereits nach der Sommerpause startet, könnte die Reform bereits bei der kommenden Bundestagswahl zum Tragen kommen.

Wie soll das im Einzelnen funktionieren? Der SPIEGEL schreibt:

„Nach der Reform würde nicht mehr jeder Kandidat, der in seinem Wahlkreis nach Erststimmen siegt, sicher in den Bundestag einziehen. Eine weitere Neuerung in dem Vorschlag ist, eine Ersatzstimme einzuführen. Mit ihr sollen Wählerinnen und Wähler ihre Zweitpräferenz für einen Direktkandidaten ausdrücken. Das soll verhindern, dass es Wahlkreise gibt, die über keinen Abgeordneten im Bundestag verfügen.“

Der Grundsatz des Verhältniswahlrechts soll dabei gewahrt bleiben. Ebenso die personengebundene Komponente, bestimmte Kandidaten sollen weiter über eine Erststimme in den Bundestag gewählt werden können. Bei gleichzeitigem Wegfall der Überhangs- und Ausgleichsmandate muss also ein neuer Mechanismus greifen: über die neu einzuführende Ersatzstimme, wenn das Mandat nicht mehr an den nach Erststimmen erstplatzierten Wahlkreiskandidaten fallen kann. Gewinnt eine Partei nach dem Zweitstimmenanteil weniger Mandate als ihre Direktkandidaten Wahlkreise holen, muss der Kandidat, der den geringsten Stimmenanteil bekommen hat, auf sein Mandat verzichten. Weil die Wähler aber eine zweite Präferenz angeben können sollen, wird dann über diesen Weg ein anderer Kandidat ermittelt: Erststimmen und Ersatzstimmen werden addiert, der Kandidat mit der höchsten Zahl erhält das Mandat.

Vereinfachung sieht anders aus. Außerdem schwindet so der Einfluss der Bürger mittels Kandidaten mit Ecken und Kanten, die sich vielleicht nicht immer geschmeidig an die Parteilinie anpassen. Zudem sollen die Stimmen umbenannt werden, weil es wohl immer noch Leute gibt, die mit der Erststimme ihre präferierte Partei wählen („Grüne, die find‘ ich am besten!“) und mit der Zweitstimme die, die sie am Zweitbesten finden („SPD!“). Die Zweitstimme soll künftig Listenstimme genannt werden, die Erststimme Personenstimme. Missverständnisse dürften auch hier nicht ausgeschlossen sein.

Neues Ungemach dräut am Horizont

Zudem berichtet der Deutschlandfunk:

Bei die (sic!) Bundestagswahl 2021 war es bei der Zahl von 299 Wahlkreisen geblieben. Aber es wurden erstmals Überhangmandate teilweise mit Listenplätzen der Partei in anderen Ländern verrechnet. Zudem wurden bis drei Überhangmandate einer Partei nicht ausgeglichen, weil die Regelgröße des Bundestages von 598 Abgeordneten überschritten wurde. Wie von Experten vor der Wahl prognostiziert, hatte diese Änderung des Wahlrechts nur eine geringe Auswirkung auf die Größe des Parlaments: Der Bundestag ist mit 736 so groß wie noch nie.

Nach Einschätzung des Wahlforschers Robert Vehrkamp ist das Anwachsen des Bundestages um 26 Abgeordnete auf das Wahlergebnis der CSU zurückzuführen. Diese habe 45 der 46 Direktmandate in Bayern gewonnen, nach dem Zweitstimmenanteil hätten ihr aber nur 34 Sitze zugestanden, so der Wissenschaftler der Bertelsmann Stiftung am 27. September 2021. Die CSU hat also elf Überhangmandate, von denen seien – wie von der Wahlrechtsänderung vorgesehen – drei nicht ausgeglichen worden. Die anderen acht Überhangmandate hätten aber zu 126 Ausgleichsmandaten für die anderen Parteien geführt."

Die Zahl der Wahlkreise soll nun von 299 auf 280 verkleinert werden.

Sollten die Reformvorschläge umgesetzt werden, säßen am Ende weniger Wahlkreissieger im Parlament als bisher. Ob das dem Wählerwillen entspricht, ist die Frage. Schon jetzt fläzen sich zu viele Menschen in Abgeordnetensesseln, die ihre Privilegien einzig dem Listenplatz ihrer Partei verdanken. Eine Ricarda Lang, eine Emilia Fester oder ein Kevin Kühnert etwa, die keinen Beruf erlernt haben und im Leben kein Direktmandat erringen würden, sondern allein durch ihre hohen Positionen bei den Jusos bzw. in der Grünen Jugend parteiintern berücksichtigt werden müssen.

Die Ampel-Reformer halten die Schwächung der Direktwahl allerdings für vertretbar, wie die ZEIT berichtet:

Vor Jahren haben fast ausschließlich Vertreter von Union und SPD darum konkurriert, alle anderen waren eh chancenlos. Der Sieger gewann oft mit mehr als 50 Prozent der Stimmen. Heute aber kriegen auch Kandidierende von Grünen, AfD, Linken oder FDP viele Erststimmen, was dazu führt, dass Wahlkreise "oftmals auch mit Ergebnissen von weit unter 30 Prozent gewonnen werden", wie es im FAZ-Gastbeitrag heißt. Anders gesagt: Weil die Sieger oft sowieso nur noch von einer Minderheit gewählt sind, sind sie gar nicht mehr die glasklaren Vertreter des örtlichen Volkswillens. Die Veränderung des Parteiensystems und die Ausdifferenzierung des Wahlverhaltens hat die Erststimme gewissermaßen bereits entwertet.“

Ohne Listenstimmen kann dann also kein Wahlkreissieger mehr ins Parlament, was das Wahlrecht auch formal noch stärker an den Parteien ausrichtet, wie die ZEIT schreibt. Ob das gut oder schlecht ist, ist die Frage. Darüber hinaus dräut neues Ungemach am Horizont. Schon berät eine Kommission über weitere Reformen wie eine Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre oder eine Verlängerung der Legislaturperiode.

Gibt es auch etwas Positives an der Reform? Eigentlich nur eines: Der Bundestag würde wieder verkleinert, einige unserer „Volksvertreter“ würden nicht wieder ins Parlament einziehen. Was allerdings zu verschmerzen wäre: Die meisten würden zweifellos von den Lücken, die sie im Plenarsaal hinterlassen, vollständig ersetzt.

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Leserpost

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Hans-Peter Dollhopf / 19.05.2022

Hans-Otto Frisch; “In der BRD gibt es aktuell 299 Wahlkreise. Der Kandidat, der in einem Wahlkreis die einfache Mehrheit der Wählerstimmen auf sich vereinigen konnte, gleich welcher Partei, zieht als Abgeordneter in den Bundestag ein. So viele Wahlkreise, so viele Abgeordnete. Fertig, aus! Kein Geklüngel, kein Blabla ... der Bessere/Beliebtere obsiegt und kann vier Jahre lang zeigen, ob er dem Vertrauensvorschuss gerecht wird.” - - - Das wäre eine solche Katastrophe für das verranzte Parteiensystem, dass seine Schimpansen uns alle unter Kriegsrecht auf ewig stellen würden.

W. Renner / 19.05.2022

Und von den „Überhangministerien“ ist hier noch nicht einmal die Rede. Inzwischen hat ja schon jede Verwaltungsebene, von der Gemeinde über den Landkreis, das Bundesland, den Bund und die EU ein Klima-, Gender-, Gleichstellungs- und weis nicht was für ein Ministerium… einfach nur noch krank. Aber der ebenso queere wie insolvente Hartz 4 Empfänger, kann sich den Luxus ja leisten, LOL

Hans-Peter Dollhopf / 19.05.2022

A. Ostrovsky, Sie schreiben: “Ich fordere die Abschaffung der Parteilisten.” - - - Diese Dornen und Disteln auf dem Acker der Republik! Ich schließe mich bedingungslos an.

Anton Weigl / 19.05.2022

Tatsächlich müßten die Erststimme und die Zweitstimme richtig getrennt werden. Das bedeutet dann. mit der 1. Simme werden die Direktkanditaten direkt gewählt. Mit der 2. Stimme werden nur die andere Hälfte gewählt.

R. Reger / 19.05.2022

“Eine weitere Neuerung in dem Vorschlag ist, eine Ersatzstimme einzuführen. Mit ihr sollen Wählerinnen und Wähler ihre Zweitpräferenz für einen Direktkandidaten ausdrücken. ” Sowas kann nur von Leuten beschlossen werden, die noch niemals die Wählerstimmen ausgezählt werden. Das wird viel zu zeitaufwändig. So ein Wahlzettel ist jetzt schon ungefähr 1 Meter lang. Kaum einer kriegt den wieder zusammengefaltet. Z.Z. sieht es doch so aus, dass der Wählvorstand sich morgens um 07:30 zusammenfindet. Das Wahllokal schliesst um 18:00. Danach beginnt die Zählung. Ich habe noch keiner Wahl beigewohnt, wo alles reibungslos ablief. Da zählt man sich u.U. die Finger wund. Und all der Stress, um 55% der Bevölkerung ihren Wahlwunsch zu verwirklichen? So viel Demokratie, nur, damit am Ende alle Auserwählten einträchtig unsere Grundrechte beschneiden. Wer will sich dem denn für 28 Euro pro Tag aussetzen?

Martin Stumpp / 19.05.2022

Das Grundgesetz sieht nur direkt gewählte Kandidaten vor. Im Grundgesetz heißt es in Art 38. (1) Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Laut Duden bedeutet unmittelbar, direkt. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Aber das Grundgesetz war spätestens mit dem IfSG Geschichte.

A. Ostrovsky / 19.05.2022

Ich fordere die Abschaffung der Parteilisten. Nur direkt gewählte Kandidaten dürfen in den Bundestag. Die Parteien dürfen Technokraten stellen, also angestellte Mitarbeiter, aber die dürfen 1. kein Stimmrecht haben und müssen 2. von den Direktkandidaten beschäftigt werden.

Olaf Ihloff / 19.05.2022

Ich würde ein Wahlrecht ähnlich dem in Großbritannien anstreben. Vergrößerung der Anzahl der Wahlkreise, nur 1 Stimme, gewählt ist, wer die meisten Stimmen erhält. So hätten auch Parteilose eine Chance.

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