Marine Le Pen galt bis gestern als aussichtsreiche französische Präsidentschafts-Kandidatin. Der Schuldspruch eines Gerichts entzog ihr nun das passive Wahlrecht. Der Startschuss zum Verfahren kam von SPD-Ex-Kanzlerkandidat Martin Schulz.
Ob Martin Schulz vor zehn Jahren ahnte, was er da lostrat? Genosse Schulz war damals bekanntlich Präsident des Europäischen Parlaments, bevor er zum einzigen hundertprozentig gewählten SPD-Vorsitzenden sowie kurzzeitigem Hoffnungsträger und Kanzlerkandidaten wurde. Bekanntlich fuhr er 2017 mit 20,5 Prozent das damals schlechteste Bundestagswahlergebnis der SPD ein. Diesen Negativrekord konnte die SPD bei der letzten Bundestagswahl mit 16,4 Prozent noch einmal unterbieten.
Als Martin Schulz dem EU-Parlament vorsaß, war Marine Le Pen Europa-Abgeordnete, aber auch Vorsitzende und Präsidentschaftskandidaten ihrer Partei, die damals noch Front National (FN) hieß. In dieser Zeit begannen die Ermittlungen gegen sie wegen der Veruntreuung von EU-Geldern, die letztlich auch zu dem am Montag ergangenen Urteil führten.
Den Verdacht, dass es politische Gründe für das Verfahren gibt, äußerten die Angeklagten schon länger. Daran erinnerte faz.net vor dem Urteil in einem Vorbericht:
„Der Hinweis auf den möglichen Betrug Le Pens kam ausgerechnet von einem Deutschen, vom damaligen Europaparlamentspräsidenten Martin Schulz (SPD). Schulz ist inzwischen Präsident der Friedrich-Ebert-Stiftung und will sich zu dem Fall nicht mehr äußern. Er war damals darauf aufmerksam gemacht geworden, dass die meisten der parlamentarischen Mitarbeiter im Parteiorganigramm in Paris aufgeführt wurden. Schulz schaltete daraufhin die für Betrugsfälle zuständige Behörde OLAF ein und informierte die französische Justizministerin, eine Parteifreundin. Le Pen ist seither davon überzeugt, dass es sich bei den Ermittlungen um ein Komplott linker, proeuropäischer Politiker gegen sie handelt.“
Sie erklärte sich für unschuldig, argumentierte, dass sich Parlaments- und Parteiarbeit unmöglich klar voneinander trennen ließen. Ihre Unterstützer verwiesen darauf, dass auch andere EU-Parlamentarier ihre Parlamentsmitarbeiter für Parteiarbeit einsetzten.
Aber um die Bewertung der Frage, ob oder wie unschuldig Madame Le Pen ist, soll es hier nicht gehen. Grundsätzlich ist es gut und richtig, wenn bei der Fehlverwendung von Steuergeld zu eigenem oder Nahestehender Nutzen die Justiz tätig wird. Problematisch ist es nur dann, wenn der Ermittlungseifer je nach Parteibuch unterschiedlich stark ausgeprägt ist.
"Le Pen kann nicht mehr rückfällig werden"
Aber dass es in dem Verfahren gegen Le Pen und ihre Mitangeklagten eigentlich um die Veruntreuung öffentlicher Gelder und illegale Parteifinanzierung im Wert von 4,6 Millionen Euro in 40 Fällen gegangen sein soll, spielt kaum noch eine Rolle. Ebenso tritt das Strafurteil gegen Marine Le Pen – zwei Jahre Haft per Fußfessel, zwei weitere Jahre Haft auf Bewährung und eine Geldstrafe von 100.000 Euro – beinahe in den Hintergrund. Entscheidend ist der Entzug des passiven Wahlrechts für fünf Jahre. Und die sofortige Rechtskraft dieses Urteils, ohne die aufschiebende Wirkung eines Berufungsverfahrens.
Damit ist die chancenreiche Kandidatin fürs Präsidentenamt nicht mehr wählbar. Und das ist in der Tat ein heikles Urteil, denn es nützt ihren Konkurrenten so offenkundig, dass es ihnen schon wieder schaden könnte. Das hat so viel Geschmäckle, dass das Publikum oder zumindest ihre potenziellen Wähler kaum an das Ergebnis eines fairen Verfahrens ohne politische Erwägungen glauben dürften.
Selbst deutsche Kommentatoren in der Rechtslastigkeit wohl kaum verdächtiger Medien, wie der Frankfurter Rundschau, beschleicht da ein ungutes Gefühl:
„Fragwürdig an dem Urteil ist der Versuch, das Rekursverfahren, auf das in einem Rechtsstaat alle verurteilten Bürgerinnen und Bürger Anspruch haben, im Fall von Le Pen zu unterbinden. Ihre Unwählbarkeit ist nämlich mit einer ‚provisorischen Ausführung‘ des Urteils garniert, die jede aufschiebende Wirkung eines Berufungsverfahrens ausschließt. Das hat etwas Anrüchiges, weil das Parlament dies eingeführt hatte, um Wiederholungstäter abzuhalten. Le Pen kann aber nicht mehr rückfällig werden, da sie nicht mehr im EU-Parlament sitzt.
Diese Beschneidung des Rekursrechts ist also fragwürdig und politisch kurzsichtig. Sie ist Wasser auf die Mühlen von Verschwörungstheoretiker:innen, laut denen es sich um einen politischen Prozess handelt.“
Ob ein Berufungsverfahren an Le Pens Unwählbarkeit bei der nächsten Präsidentschaftswahl noch etwas ändern wird, bleibt abzuwarten.
Es ist in Frankreich zwar kein Einzelfall, dass Politiker wegen der Veruntreuung von Geldern verurteilt wurden und ihnen damit auch das passive Wahlrecht entzogen wurde. Doch in diesen Fällen handelte es sich bei prominenten Verurteilten in der Regel um Politiker, die ihre Karriere schon hinter sich hatten. Hier wird eine aussichtsreiche Kandidatin von nichts Geringerem als der Präsidentenwahl ausgeschlossen.
Den Souverän am falschen Wählen hindern?
Es geht nicht darum, wie man Madame Le Pen und ihre Partei bewertet. Aber mit einer funktionierenden Demokratie verträgt sich der Ausschluss einer erfolgreichen Kandidatin von der Wahl nicht. Jemandem das passive Wahlrecht zu nehmen, sollte deshalb nur auf extreme Ausnahmefälle beschränkt bleiben.
Doch wenn die Bürger in verschiedenen europäischen Staaten aus der Sicht ihrer jeweiligen etablierten Politiker zunehmend „falsch“ wählen, stellt sich für Letztere nachvollziehbar die Frage, wie man den Souverän daran hindern kann. Um keine Wahlen rückgängig machen zu müssen, nur weil sich zu viele Bürger politisch noch nicht ganz richtig erziehen ließen, scheint jetzt eine neue Art der Prävention angesagt: Wenn die Falschen gar nicht erst kandidieren dürfen, kann sie auch keiner wählen.
In Deutschland haben die Koalitionspartner der mutmaßlich künftigen Regierung bekanntlich schon überlegt, den Entzug des passiven Wahlrechts schneller zu ermöglichen, beispielsweise nach einer Verurteilung wegen Volksverhetzung. Außerdem gibt es im deutschen Politikbetrieb viele Befürworter eines AfD-Verbotsverfahrens. Kein Wunder, dass es von deutschen Politikern viel Lob für das Urteil gegen Le Pen gab, wie der Deutschlandfunk berichtete:
„In Deutschland begrüßte der CDU-Außenpolitiker Hardt die Verurteilung von Le Pen. Das Gericht schiebe ihren politischen Ambitionen zu Recht einen Riegel vor, erklärte Hardt. Die französische Republik und ihre Gesetze schützten die EU und das Geld der Steuerzahler. Der Grünen-Co-Vorsitzende Banaszak bezeichnete das Urteil gegen die Rechtspopulistin als ein Zeichen, dass der Rechtsstaat funktionierte. Le Pen habe sich offenbar an öffentlichen Mitteln bereichert. Es sei gut, dass dies Konsequenzen habe, betonte Banaszak.“
Ja, wenn die Bereicherung an öffentlichen Mitteln Konsequenzen hat, ist das gut. Auch, wenn das vor Gericht strafrechtliche Konsequenzen hat. Doch ob dieser Umgang mit Steuergeld politische Konsequenzen haben muss, diese Entscheidung sollte zuerst dem Souverän, also in diesem Falle den Wählern, obliegen.
Dem allgemeinen Ansehen von Marine Le Pen hätte ein Schuldspruch ohne Wahlrechtsentzug wahrscheinlich mehr geschadet als das vorliegende Urteil. Dann würden alle viel mehr über das eigentliche Delikt reden und nicht über anrüchige Methoden im Umgang mit politischen Mitbewerbern. Allerdings wäre dann vielleicht auch die äußerst üppige Ausstattung der EU-Institutionen ein Thema. Schlecht wäre das nicht.
Peter Grimm ist Journalist, Autor von Texten, TV-Dokumentationen und Dokumentarfilmen und Redakteur bei Achgut.com.