Peter Grimm / 11.11.2024 / 14:00 / Foto: Tim Maxeiner / 49 / Seite ausdrucken

Wahlen: Deutschland als Demokratie-Versager?

Freie Wahlen sind ein Fundament der Demokratie. Was ist von einem Staat zu halten, dessen Beamte erklären, dass sich Wahlen nicht so schnell organisieren lassen, wie es im Grundgesetz steht?

Dass unsere Demokratie verteidigt werden müsse, gehört wahrscheinlich zu den meistgebrauchten Floskeln deutscher Politiker in den letzten Jahren. Natürlich weiß jeder, dass Politiker-Floskeln im Wert schneller verfallen als jeder Geldschein in einer Hyperinflation. Wie schlimm es um die Fundamente der demokratischen Ordnung steht, hätten die meisten Bürger selbst im heutigen Krisen-Deutschland wohl nicht erwartet. Das wesentliche Element einer demokratischen Ordnung sind demokratische Wahlen. Doch ausgerechnet die für die Wahl-Organisation zuständigen Spitzenbeamten warnen jetzt davor, die Bürger allzu kurzfristig wählen zu lassen. Angeblich sei der Wahlgang in der vom Grundgesetz nach einer Auflösung des Bundestages vorgesehenen Frist nicht vorzubereiten. 

Der erste entsprechende Vorstoß von Bundeswahlleiterin Ruth Brand, wie CDU und CSU ihr vorwerfen, mag parteipolitisch zur Unterstützung des Bundeskanzlers Olaf Scholz motiviert gewesen sein. Ihre Begründung, dass ausgerechnet Papiermangel den Wahlgang gefährden könnte, war fadenscheinig und wirkte wie eine bittere Realsatire. Wer mit Wahlen solche Spiele spielt, der sollte in einem demokratischen Gemeinwesen von politischer Verantwortung eher ferngehalten werden.

Wenn es aber stimmt, was Brand jetzt den Vorwürfen von CDU und CSU entgegenhält: „Es gab keine Weisung oder Einflussnahme auf die Position der Bundeswahlleiterin im Zusammenhang mit Neuwahlen“, dann wäre das ein Offenbarungseid. Eine Bundeswahlleiterin, die kurzfristig keine Wahlen organisieren kann, obwohl es dringend einer demokratisch legitimierten Regierung bedarf, das ist ein äußerst bedrückendes Signal. 

Aus Berlin, einer Stadt die bereits demonstriert hat, wie peinlich ein Gemeinwesen an der Organisation von Wahlen scheitern kann, meldete sich Landeswahlleiter Stephan Bröchler ebenfalls mit einer Warnung vor einem schnellen Wahlgang zu Wort. „Ich kann nur raten, besonnen an das Thema heranzugehen, auf Fachleute zu hören und jetzt nicht in einen Sofortismus bei der Feststellung des Wahltermins zu verfallen“, lässt er sich zitieren. 

Kleinkinder oder hypersensible Börsenhändler?

"Sofortismus" ist ein Begriff, der mir – ich muss es zugeben – bislang nicht geläufig war. Auch wenn das Wort sich ja eigentlich selbst erklärt, suchte ich sicherheitshalber nach einer kurzen Definition. Man weiß ja nie, vielleicht handelt es sich dabei auch um ein neues, vom Verfassungsschutz zu beobachtendes Phänomen. Aber "verfassungsschutzrelevanten Sofortismus zur Delegitimierung des Staates" gibt es augenscheinlich noch nicht. Und eine Seite der Schweizer Gebührenmedien erklärt Sofortismus kurz und bündig so: 

„‚Alles will ich, und zwar jetzt sofort': Sofortismus kennen wir von quengelnden Kleinkindern. Oder von hypersensiblen Börsenhändlern, die sofort und unmittelbar auf alle Bewegungen am Aktienmarkt regieren."

Also empfindet der Berliner Landeswahlleiter jene Bürger, die sich schnelle Neuwahlen zur Klärung der Verhältnisse wünschen, als quengelnde Kleinkinder? Was ist von einem demokratischen Staat zu halten, der Wahlen nicht zu dem Zeitpunkt organisieren kann, zu dem man sie braucht, und zwar in dem Zeitraum, den das Grundgesetz dafür vorsieht? Müsste das nicht bei all jenen Musterdemokraten, die die Rettung der Demokratie pausenlos im Munde führen, einen Aufschrei der Empörung geben? Müssten nicht Wahlleiter, die jetzt vor zu frühen Wahlen warnen, weil sie diese nicht organisieren können, ihren Posten räumen?

Berlins Landeswahlleiter Bröchler hatte sich diese Frage sicherlich auch aufgedrängt, weshalb er seine Warnung abmilderte: Natürlich müsse eine Neuwahl auch für Januar organisiert werden, wenn das politisch gewollt und vom Bundespräsidenten so entschieden werde: „Aber wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass das die Qualität demokratischer Wahlen gefährdet.“ Und die Bundeswahlleiterin begründet ihren Vorstoß damit, dass es auch ihre Aufgabe wäre, bei der Vorbereitung von Wahlen auf Risiken hinzuweisen. Vielleicht hätte ihr jemand sagen müssen, das es zu ihren Aufgaben gehört, sich nach dem Erkennen solcher Risiken darum zu kümmern, dass diese beseitigt werden. Schließlich müsste sie jederzeit in der Lage sein, innerhalb der vom Gesetzgeber vorgegebenen Fristen Wahlen zu organisieren.

Heute Mittag nun treffen sich die Landeswahlleiter und die Bundeswahlleiterin, um über die Vorbereitung der vorgezogenen Wahl des Bundestages zu beraten. Vielleicht schauen sie sich zu diesem Anlass auch einmal an, wo Neuwahlen offenbar durchaus schnell organisiert werden können. 

In Frankreich hatte Präsident Emmanuel Macron bekanntlich am 9. Juni dieses Jahres Neuwahlen ausgerufen, die dann am 30 Juni, also nur drei Wochen später, im ersten Wahlgang stattfanden. Geübt in Sachen Wahlvorbereitung dürften auch die Wahlleiter-Kollegen in Bulgarien sein, denn dort gab es in den letzten vier Jahren sieben Parlamentswahlen, allein zwei in diesem Jahr. 

War die Berlin-Wahl kein einmaliger Betriebsunfall?

Und wenn man zur Ermutigung nicht ins Ausland schauen möchte, hilft vielleicht auch ein Ausflug in die deutsche Zeitgeschichte. Die Gedenkveranstaltungen an den Zusammenbruch des SED-Regimes vor 35 Jahren hatten wir ja gerade. Am heutigen 11. November vor 35 Jahren war noch nicht ausgemacht, wie und in welcher Zeitspanne freie Wahlen in der DDR organisiert werden könnten. An diesem Tag stand noch das erste Telefongespräch von Bundeskanzler Helmut Kohl und dem Kurzzeit-SED-Partei- und DDR-Staatschef Egon Krenz auf der politischen Tagesordnung. Ein paar Wochen später begannen die Verhandlungen am sogenannten Runden Tisch, an dem die Regierenden mit der Opposition einige Modalitäten der ersten Schritte des Regimewechsels aushandelten, u.a. die ersten freien Wahlen. Das Wahlgesetz zur ersten und einzigen freien Wahl der DDR-Volkskammer wurde am 20. Februar 1990 veröffentlicht, und bereits am 18. März wurde gewählt. Das war offenbar zu schaffen, obwohl es keinerlei Routine in der Organisation freier Wahlen gab.

Und heute – etliche Wahlen in Bund und Ländern später – soll es in Deutschland ein Problem sein, "die Qualität demokratischer Wahlen" auch in kurzer Zeit zu garantieren? War also das Berliner Wahldesaster von 2021 kein einmaliger Betriebsunfall, der sich nicht wiederholen könne, wie viele Politiker den Bürgern vollmundig versicherten? Was sind all die Floskeln von der stabilen Demokratie wert, wenn Spitzenbeamte davor warnen müssen, dass der Staat an der fristgemäßen Wahlorganisation scheitern könnte? Ist das nur peinlich oder schon eine "Delegitimierung des Staates"?

Wahrscheinlich hören wir am Nachmittag dann ein kollektives "Wir schaffen das" der Wahlleiter. Dann kann der Kanzler am Mittwoch in seiner Regierungserklärung vor dem Bundestag beruhigend das Vorziehen der Vertrauensfrage ankündigen. Klingt das zu sehr nach Happy End? Vielleicht fällt den politischen Drehbuchautoren noch etwas Überraschendes ein. 

 

Peter Grimm ist Journalist, Autor von Texten, TV-Dokumentationen und Dokumentarfilmen und Redakteur bei Achgut.com.

Foto: Tim Maxeiner

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W. Renner / 11.11.2024

In TakaTuka Land organisiert das Politbüro mit Beamten Ahlen für Beamte - sofern die Kombinate den 5-Jahresplan für Wahlzettel erfüllt haben.

R. Bunkus / 11.11.2024

Vielleicht sollte man zwecks der Organisation einer baldigen Wahl in Baden-Württemberg nachfragen. Die können alles, außer Hochdeutsch. Früher konnten Sie’s zumindest.

Roland Völlmer / 11.11.2024

Ich verstehe das Problem schon: Kriegen Sie Mal 20 Millionen Stimmzettel her wo die CDU angekreuzt ist, 8 Millionen mit dem grünen Kreuz, die FDP soll 4 Millionen bekommen, ach SPD 10 Millionen, und die AFD sagen wir 7 Millionen, und hmm BSW reicht 3 Millionen. So schnell lässt sich das nicht organisieren, dazu noch verteilen, in Bayern mehr CSU, Mist, fast vergessen. Tja, und dann noch die Auszählung. Wir wollen doch kein Trump Ergebniss riskieren!!!!

Donatus Kamps / 11.11.2024

Ich liebe Minderheitsregierungen! Sie sind für mich die demokratischste Form der Führung. Hätten SPD und Grüne von 2021 an eine Minderheitsregierung geführt, wir hätten lebhaftere Diskussionen im Bundestag gehabt und wesentliche Fragen wie Energie, Corona oder Migration wären besser gelöst worden, der Staat hätte weniger Schaden angerichtet, und er hätte sich mehr zurückgehalten. Ich fände es gut, wenn Scholz seine Minderheitsregierung bis zum regulären Wahltermin im nächsten September fortführt und damit minderheitsregieren als neue Form des Regierens für Deutschland normalisiert. Unser Land würde an Demokratie gewinnen. Daß es die beruflische Aufgabe von Bundeswahlleitern ist, sich jederzeit in Bereitschaft und fähig zu halten, innerhalb der grundgesetzlichen Frist eine Wahl zu organisieren, ist unabhängig davon natürlich vollkommen richtig.

armin wacker / 11.11.2024

Was mich furchtbar nervt ist die Tatsache, dass die gesamte Presse über das Vertrauensvotum des Kanzlers spricht, aber nicht über das Misstrauensvotum des Parlaments. Wenn die Mehrheit des Parlaments einen anderen Kanzler wählt. dann muss der Bundespräsident diesen einsetzen. Die Mehrheit gibt es. CDU, AfD und FDP. Macht es einfach. Muss ich auf achgut jetzt im Detail erläutern, was in meinem Herzen vorgeht? Nein ich glaube nicht.

Sepp Kneip / 11.11.2024

Es ist nicht die technische Abwicklung allein, die den Deutschen Sorge macht, Nein, sondern man hat Angst vor den Wahlergebnissen, die den Schlaf rauben. In den letzten Jahren kommt nie eine Regierung zustande, die wirklich dem Wahlergebnis entspricht. Es sind immer Koalitionen der Verlierer die die Regierung aushandeln. Ist es da ein Wunder, dass Deutschland derart schlecht regiert wird? Nein, das ist es nicht. Aber die Wähler haben begriffen, wie sehr sie über den Tisch gezogen wurden. In Deutschland waren die Wahlen die letzten Jahre für die Katz. Man hat die Ergebnisse zurecht gebogen, wie man sie brauchte. Aber nu geht das nicht mehr so leicht. Das haben sie Landtagswahlen im Osten gezeigt. Vielleicht kommt man mal zur Besinnung und reißt die Brandmauer ein. Oder bleiben wir lieber Bananenrepublik?

Dr. med. Jesko Matthes / 11.11.2024

Da stecken Wahlkampfinteressen dahinter. Die FDP soll im Umfrageloch bleiben, noch ein bisschen länger in die Rolle des Sündenbockes gedrängt werden und Zeit bekommen, sich zu zerlegen anstatt sich schnell zu sammeln, um damit am Ende konservativ-liberale Einflüsse möglichst weit in den Hintergrund zu drängen und andere Koalitionen als eine schwarzrote, schwarzgrüne oder schwarzrotgrüne Koalition unmöglich zu machen. Auch soll Herr Merz sich noch eine Weile anhören müssen, er “blockiere” das Regieren, so als wäre die Rolle der Opposition die Mehrheitsbeschaffung für eine gescheiterte Reste-Rampe von Regierung. All das bringt Stimmen. Oder kostet Stimmen - aber, das hängt eher von der veröffentlichten Meinung ab, und NDR-Info zum Beispiel haut bereits gern in die genannten Kerben. Also möchte man wohl noch ein paar Wochen gegen Rechts kämpfen dürfen; denn was dadurch erzielt wird, zählte dann mit “Glück” weitere vier Jahre.

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