Die mit der Ministerpräsidentenwahl in Thüringen verknüpften Vorgänge belegen eine tiefgreifende Veränderung des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. Doch scheinen weder die Ursachen, noch die weitreichenden Folgen der Ereignisse verstanden worden zu sein, wie das Agieren der direkt oder indirekt Betroffenen und dessen mediale Rezeption zeigen. Die gegenwärtige Debatte jedenfalls verharrt im tagesaktuellen Geschehen, kreist um Fragen der Haltung, um den Umgang mit AfD und Linken im parlamentarischen Alltag, um Formalien, Personen und Prozesse. Also um mittel- und langfristig irrelevante Aspekte, die lediglich momentane Erregungsimpulse bieten.
Tatsächlich aber müssten sich die Parteien aller Farben mit einem neuen, an Bedeutung zunehmenden Wahlverhalten auseinandersetzen, das ihre etablierten Strategien konterkariert. Thüringen verdeutlicht nämlich vor allem den Aufstieg der Neinsager zum prägenden Faktor des politischen Wettbewerbs.
Da Wahlabstinenz oder bewusst ungültig gemachte Stimmzettel nie eine Auswirkung hatten und daher als Ausdruck von Ablehnung nicht taugten, konnten sich die Bürger bislang lediglich für eine ihnen genehme Agenda beziehungsweise für einen ihnen genehmen Kandidaten aussprechen. Und mussten eine Verwässerung ihrer Wünsche oder gar deren Verknüpfung mit eigentlich ungewollten Maßnahmen im Rahmen parteiinterner wie parlamentarischer Aushandlungsprozesse in Kauf nehmen. Etwas gezielt zu negieren, war aufgrund der starken Stellung der Volksparteien in Verbindung mit der hiesigen Ausgestaltung des Verhältniswahlrechtes schlicht nicht möglich.
Nun aber besteht die Option, seine Stimmabgabe primär an der Verhinderung dessen zu orientieren, was man nicht möchte. Denn die durch die Veränderung der Medienwelt induzierte Desintegration der einst dominierenden christ- und sozialdemokratischen Blöcke gestattet die Abbildung der real vorhandenen gesellschaftlichen Fragmentierung in den Parlamenten durch immer mehr Klientelparteien. Die sich, wie in Thüringen zu beobachten, mitunter aufgrund programmatischer Unvereinbarkeiten gegenseitig bis zur vollständigen Lähmung behindern. Selbst Unregierbarkeit kann nun von den Wählern bewusst herbeigeführt werden. Keine schlechte Aussicht für die Bürger, die sich statt blindwütigem und ideologisch getriebenen Aktivismus einfach nur wünschen, von der Politik in Ruhe gelassen zu werden.
Machtzugänge und Versorgungsposten
Noch zu Gerhard Schröders Zeiten, und die liegen gerade einmal fünfzehn Jahre zurück, war es einfach, mit „Bild, BamS und Glotze“ Harmonie zwischen Regierenden und Regierten herzustellen und eine breit geteilte Ansicht über das zu etablieren, was nach Auffassung der Machtmechaniker in Bonn beziehungsweise Berlin erstens als wichtig und zweitens als „dem Gemeinwohl dienlich“ zu gelten hatte. Früher stellte sich die Aufgabe, primär die innerhalb dieses künstlich limitierten Diskursraums zugelassenen Themen mit mehrheitsfähigen politischen Konzepten zu bedienen.
Hier glänzten die Volksparteien als Strukturen, in denen Kompromisse zwischen im Grunde völlig unterschiedlichen Strömungen ohne direkte Mitwirkung der Wähler bereits im vorparlamentarischen Raum ausgehandelt wurden. Sich dem zu unterwerfen, von seinen eigentlichen Zielen und Ideen zugunsten eines kollektiv geteilten kleinsten gemeinsamen Nenners abzurücken, war für Vertreter aller politischen Richtungen überaus attraktiv. Garantierte es doch Machtzugänge und Versorgungsposten, vom Abgeordnetenmandat bis hin zur Referententätigkeit in Behörden und Verwaltungen.
Früher konnten zu diesem Zweck beispielsweise Nationalkonservative, Wirtschaftsliberale und Herz-Jesu-Sozialisten über gegensätzliche Positionen hinwegsehen und sich zu einem diffusen, primär auf Machterhalt ausgerichteten Konglomerat namens „Union“ zusammenfinden. Denn früher filterten begrenzte Kommunikationsoptionen die individuelle Diversität der Gesellschaft aus der veröffentlichten und daher öffentlichen Wahrnehmung heraus. Ein eng geknüpftes Geflecht aus Politik, öffentlich-rechtlichem Rundfunk und einigen wenigen auflagenstarken privaten Zeitungen und Zeitschriften orchestrierte und dirigierte jeden Meinungsbildungsprozess. Aber damit ist es nun vorbei.
Es führt nämlich kein Weg zurück in die alte Zeit, in der allenfalls Leserbriefe oder der Stammtisch dem einzelnen Bürger Raum boten, Ansprüche zu artikulieren, Ärger loszuwerden und Ideen einzubringen. Endgültig vorüber ist die Epoche, in der man nicht nur für wahr, sondern auch für relevant halten musste, was in der Tagesschau oder in der Zeitung Platz fand, weil es kaum andere Auskunftsquellen gab. Das Internet als Werkzeug der kommunikativen Selbstermächtigung verschwindet nicht mehr. Den umfangreichen Möglichkeiten, sich kundig zu machen, eigenständig zu recherchieren und zu überprüfen, fügt es die Option hinzu, ohne großen Aufwand selbst zum Sender für ein potenziell unbegrenztes Publikum zu werden. Nie war es einfacher, Gleichgesinnte zu finden, sich mit diesen zu verbinden und dadurch wirkmächtige Resonanzräume für verschiedenste Anliegen zu schaffen.
Polarisierung ist das Erfolgsgeheimnis im digitalen Raum
Man mag über die Themen geteilter Meinung sein, mit denen beispielsweise AfD, Grüne oder Linke unter Verwendung solcher Räderwerke mobilisieren. Aber wie sie es anstellen, nötigt Anerkennung ab. Der Populismusvorwurf greift zu kurz. Denn ihr Weg besteht gerade nicht darin, populäre, das heißt weit verbreitete Einstellungen aufzugreifen, in bestimmte Richtungen zu lenken und für sich zu instrumentalisieren. Sie besetzen vielmehr gezielt mitunter abseitig erscheinende, für viele bislang verborgene Minderheitenpositionen. Und initiieren dadurch enthusiastischen Zuspruch und dogmatische Ablehnung gleichermaßen. AfD, Grüne oder Linke werden entweder gehasst oder geliebt, aber gleichgültig sind sie kaum jemandem. Das sichert ihren Erfolg in der durch die neuen Kommunikationsmethoden geschaffenen Aufmerksamkeitsökonomie, in der auch der heftigste Widerspruch als Bonus auf das eigene Bedeutungskonto einzahlt.
Polarisierung ist das Erfolgsgeheimnis im digitalen Raum, nicht Verständigung. Wo aber das sorgsame Abwägen und der wertebasierte Interessenausgleich nicht gefragt sind, können Union, SPD und auch die FDP in ihrer bisherigen Form nicht überleben. Das neue Schlachtfeld mittels Regulierungen und Verboten strukturell dem alten anzugleichen, wird ein vergeblicher Rettungsversuch bleiben.
Denn das Netz ist nicht die Ursache gesellschaftlicher Differenzierung. Es macht sie nur sichtbar und zeigt in aller Klarheit die Verhältnisse, wie sie wirklich sind und eigentlich schon immer waren. Vorstellungen von wenigen großen, in sich weitgehend homogenen Milieus erweisen sich in der Rückschau als Illusionen, als Täuschungen, als realitätsferne Konstruktionen einer politisch-medialen Echokammer, die sich selbst zuverlässig gegen das real vorhandene chaotische Grundrauschen abschirmen konnte. Wenn „die Arbeiter“ SPD, „die Angestellten“ CDU/CSU und „die Unternehmer“ FDP wählten, dann nicht aus innerer Überzeugung und umfassender Zustimmung, sondern in Ermangelung besserer Alternativen. Eine wohlhabende Gesellschaft, in der sämtliche existentiellen Probleme gelöst sind und in der Technologie zunehmend individuelle Souveränität in allen Aspekten gestattet, zerfällt automatisch in viele kleine von Partikularinteressen zusammengehaltene Gruppen. Und um das Durcheinander komplett zu machen, kann jeder natürlich mehreren davon gleichzeitig angehören.
Schon in wenigen Jahren werden daher nicht sechs oder sieben, sondern zehn oder zwölf Gruppierungen regelmäßig in die Parlamente einziehen. Manche davon als weitere Abspaltungen bereits existierender Vereinigungen. Manche davon nur als Bewegungen mit begrenzter Laufzeit nach dem Farage-Modell, die sich auf einige wenige Ziele konzentrieren und im Erfolgsfalle wieder in der Bedeutungslosigkeit verschwinden. Manche davon räumlich begrenzt und spezifisch auf regionale Interessen konzentriert, man denke an die in Bayern bereits mitregierenden Freien Wähler. Soziale Medien, Blogs und Foren generieren nicht nur die dazu geeigneten Themen, sondern auch ansprech- und aktivierbare Mitstreiter.
Thüringer Verhältnisse werden also zur Regel. Wählen ist in Zukunft nicht mehr nur eine Lotterie, bei der man ankreuzt, was man gerne hätte, ohne zu wissen, was man wirklich bekommt. Sondern bietet auch die Option, gegen das zu stimmen, was man auf keinen Fall will. Aus dem bisher nicht ganz falschen „egal was ich wähle, die da oben machen ja doch, was sie wollen“ wird ein „ich kann beeinflussen, was nicht durchsetzbar ist“. Im konkreten Fall Thüringens erweist sich nun rückblickend: Um eine Regierung unter Führung der Linken sicher zu verhindern, war es zwingend erforderlich, AfD zu wählen.
Ein Zusammenhang, der sich auf Sachthemen erweitern lässt. Der Erfolg der Klientelparteien ergibt sich ja gerade aus ihren radikalen Antworten auf ungeklärte Sachverhalte, an denen sie unbeirrbar festhalten. Von denen sie auch im Falle einer Regierungsbeteiligung auf keinen Fall abrücken dürfen, wollen sie ihre Existenz nicht gefährden. So wäre es einer Administration, in der sowohl Grüne als auch die AfD agieren, schlicht nicht möglich, weitreichende klima- oder migrationspolitische Entscheidungen zu treffen. Eine solche Exekutive könnte nur den vorgefundenen Zustand verwalten. Wer also in beiden genannten Feldern keine Veränderungen wünscht, sollte eine solche Konstellation herbeiführen.
Ein Herrschaftssystem, in dem die Mehrheit ihren Willen durchsetzt, transformiert sich nun in eines, in dem Minderheiten die Unterdrückung nicht mehr fürchten müssen. War die Rücksichtnahme auf den Minderheitenwillen früher ein eher zufälliges Nebenergebnis intransparenter Aushandlungsprozesse zwischen wenigen großen Blöcken, ist sie nun notwendig für Wahlsiege und das effektive Agieren in einer Administration aus vielen unterschiedlichen Partnern. Häufigere Änderungen in den Regierungskonstellationen verhindern zudem langfristige konzeptionelle Festlegungen und ermöglichen rasche Korrekturen von Fehlentwicklungen. Ebenfalls ein Vorteil in einer dynamischen, von unüberschaubar zahlreichen Wechselwirkungen geprägten Welt, in der sich schnell ändernde Rahmenbedingungen jeden Dogmatismus falsifizieren. Auch der Typus des Berufspolitikers gerät unter Druck, da in einem volatilen Umfeld selbst die größten Opportunisten ihrer dauerhaften Alimentation durch Ämter und Mandate nicht mehr sicher sein können.
Politik ist Kommunikation. Neue Mechanismen des Dialogs verändern daher zwangsläufig die Architektur der Demokratie. Volksparteien sind überflüssig, wenn jeder Bürger zum emanzipierten Repräsentanten seiner eigenen Sache aufsteigt. AfD, Grüne und Linke stellen nur Vorboten eines Prozesses dar, an dessen Ende Parlamente und Regierungen Pluralismus wirklich abbilden müssen, statt ihn wie bisher nach Belieben instrumentalisieren oder ignorieren zu können. Und da wir alle in fast allen Zusammenhängen Angehörige von Minderheiten sind, sollten wir diese Entwicklung nicht fürchten, sondern begrüßen und gestalten.