„Chronik eines angekündigten Todes." Mit diesem Titel eines Romans des kolumbianischen Literatur-Nobelpreisträgers Gabriel García Márquez fasst ein argentinischer Funktionär das Trauerspiel einer erneut gescheiterten Rettung des chronisch bankrotten Landes zusammen. Es ist allerdings auch so, als sei es der überschießenden, kunterbunten Fantasie dieses Großmeisters der magischen Realität entsprungen. Wobei die Wirklichkeit viel ernüchternder und kahler ist.
Nun könnte man in eurozentrischer Überheblichkeit sagen: Was geht uns denn dieses lateinamerikanische Land an? Die nach Argentinien geflüchteten Nazis sind eigentlich alle an Altersschwäche gestorben, und schlimmer als in Venezuela kann’s doch wohl nicht sein. Dagegen spricht aber vor allem ein Name: Christine Lagarde. Denn Venezuela hat auch so seine Probleme, aber mit dem IMF oder Lagarde nichts zu tun.
Ich meine die Christine Lagarde, die als französische Wirtschaftsministerin der Fahrlässigkeit schuldig gesprochen wurde. Sie hatte einem bekannten Hasardeur Kraft ihres Amtes im Jahr 2008 eine Entschädigung von 400 Millionen Euro zugesprochen. Das wurde später wieder aufgehoben, aber wozu gibt es in Frankreich Sondergerichtshöfe, reserviert nur für ehemalige Minister. Sie stehe zu ihrer damaligen Entscheidung, sagte Lagarde bei der Urteilsverkündung im Jahre 2016, obwohl der Geschäftsmann ein Jahr vorher zur Rückzahlung verurteilt worden war.
Allerdings hörte Lagarde das Urteil nicht persönlich an; als Chefin des Internationalen Währungsfonds (IMF) wurde sie in New York gebraucht. Auf diese Position war sie 2011 gehebelt worden, nachdem ihr Vorgänger Dominique Strauss-Kahn über eine Sex-Affaire gestolpert war. Auch Lagarde hätte von ihrem Posten zurücktreten müssen, wäre der Schuldspruch mit einer Vorstrafe verbunden worden.
Schuldig, aber nicht vorbestraft
Das ist normalerweise bei Gerichtsurteilen nicht unüblich; wer sich schuldig gemacht hat, bekommt dafür unter Berücksichtigung aller Umstände eine Strafe. Aber im erst fünften Prozess dieses Sondergerichts verzichteten die Richter in ihrer Güte und Weisheit auf die Zumessung einer Strafe. Daher konnte Lagarde bleiben. Schuldig, aber nicht vorbestraft.
Sehr bedauerlich, zunächst einmal für Argentinien. Denn als IMF-Chefin hat Lagarde die größte Rettungsaktion aller Zeiten des Währungsfonds zu verantworten. Genauer: nicht nur die größte, sondern auch die am schnellsten völlig gescheiterte. Im Frühling letzten Jahres pfiff Argentinien mal wieder aus dem letzten Loch. Zur Vorgeschichte kommen wir noch. Leider kommen hier alle Bestandteile für einen perfekten Sturm zusammen: ein Präsident, der zauderte, die nötigen Massnahmen zu ergreifen, um das Schlamassel seiner Vorgänger aufzuräumen. Eine misstrauische internationale Investorengemeinschaft, die schon zu oft hatte zusehen müssen, wie sich Staatsgarantien und Rückzahlungsversprechen in Luft auflösten.
Und ein IMF, der eine schwache Führung hatte und daher auf Einflüsterungen empfänglich reagierte. Nicht nur allen Gläubigern Argentiniens ist das Jahr 2001 noch in schlechter Erinnerung. Im Dezember fand damals der bislang größte Staatsbankrott aller Zeiten statt; mit Aufständen, Bank Runs und allen Schikanen. Ein weiterer Beweis dafür, dass man mit Missmanagement, Korruption und Fehlentscheidungen selbst die beste Volkswirtschaft in die Knie zwingt. Denn bis in die Fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts gehörte Argentinien zu den prosperierenden und wohlhabenden Ländern der Erde, der achtgrößte Flächenstaat lag Kopf an Kopf mit Kanada oder Australien.
Das Schlamassel erreichte ungeahnte Dimensionen, als der Kirchner-Clan die Regierung übernahm und Korruption, Selbstbereicherung und Unfähigkeit selbst für argentinische Verhältnisse ungeheuerliche Ausmaße annahmen. Kaum wieder einmal durch Schuldenschnitt und Kredite ein wenig aufgepäppelt, kratzte Argentinien bereits 2014 wieder an der nächsten Staatspleite. Präsidentin Cristina Kirchner, Nachfolgerin ihres verstorbenen Mannes, wollte die Ausbeuterkarte spielen und beschimpfte „Geierfonds", die auf Kosten der hungernden Bevölkerung keinen neuerlichen Schuldenschnitt akzeptieren wollten.
Mit dem Helikopter vor der Wut des Volkes in Sicherheit gebracht
Dabei war sie sich der lautstarken Unterstützung der versammelten Linken in Europa und in den USA sicher. Sie werde das niemals bezahlen, meinte Kirchner standhaft, auch wenn diese Ausbeuterfonds die imperialistische US-Justiz zu Hilfe riefen. Dabei vergaß sie aber zu erwähnen, dass die letzten Tranchen argentinischer Staatsschulden in Dollar und nach US-Gesetzen begeben worden waren, weil niemand mehr dem argentinischen Peso über den Weg traute. Und überraschenderweise können die Gläubiger dann vor US-Gerichten klagen, wenn sie ihr Geld nicht, wie versprochen, bekommen.
Nun gut, auch diese Krise ging vorbei, aber obwohl Kirchner in den letzten Wochen ihrer Amtszeit noch Milliardengeschenke an die Bevölkerung verteilte, wurde 2015 der konservativ-liberale Mauricio Macri gewählt. Da aber vor noch nicht allzu langer Zeit ein argentinischer Präsident mit dem Helikopter vor der Wut des Volkes vom Dach seines Palasts in Sicherheit gebracht werden musste, traute sich Macri nicht, mit einer schmerzhaften Austeritätspolitik die Chance zu einem Ausweg aus dem jahrzehntelangen Trauerspiel zu eröffnen. Zudem verfügte Macri nicht über eine Mehrheit im Parlament.
Also machte er das, was die Argentinier schon seit Generationen machen: leichte Kursänderungen, weiterwursteln, durchwursteln, auf bessere Zeiten hoffen. Das ging so gut oder so schlecht wie all die Jahre vorher. Bis im Frühling 2018 mal wieder das Wasser bis Oberkante Unterlippe stand. Nun schaffte Macri aber etwas Erstaunliches: Innert kürzester Zeit verhandelte er einen neuen 50-Milliarden-Kredit durch den IMF. Nur böse Zungen innerhalb und außerhalb Argentiniens behaupten, dass das damit zu tun haben könnte, dass Macri Trump gut kennt, man schon "Business" zusammen machte und dergestalt der Weg über das US-Schatzministerium und einen Wink des US-Präsidenten zu den Geldtöpfen des IMF deutlich kürzer wird.
Nicht zuletzt, wenn eine schwache Person wie Lagarde an dessen Spitze steht, die in ihren ganzen Jahren als Wirtschaftsministerin und auch nachher eigentlich nie mit finanztechnischem Sachverstand brilliert hat. Also sagte sie im Juni 2018, als dieser Riesenkredit öffentlich bekannt gegeben wurde, das er „das Marktvertrauen in Argentinien stärken" werde. Das Vertrauen hielt dann allerdings nur knapp zwei Monate, Macri musste schon wieder beim IMF betteln gehen, mit Erfolg: Im September letzten Jahres wurde verkündet, dass der IMF auf seine 50 Milliarden nochmal 7 Milliarden drauflegt. Im Vergleich dazu sind 8 Milliarden Kredit, die Pakistan beansprucht, wahrlich Peanuts, obwohl sich, bei allen Problemen, Pakistans Wirtschaft in einem viel besseren Zustand als Argentinien befindet.
Der Markt will einfach kein Vertrauen fassen
Aber offenbar konnte Lagarde diesem lateinamerikanischen Charmeur vielleicht beim Tango zu zweit keinen Wunsch abschlagen. Nur fiel ihr nicht viel Neues ein: Diese zusätzlichen Milliarden und der überarbeitete Plan werden „maßgeblich" zur, ja was wohl, zur Wiederherstellung des Marktvertrauens beitragen. Aber der Markt, dieser verdammte Schlingel, will einfach kein Vertrauen fassen. Obwohl doch Argentinien bislang noch keinen Staatsbankrott erklärt hat.
Aber am 27. Oktober sind Präsidentschaftswahlen, und es sieht schwer danach aus, als ob der amtierende Präsident die Wiederwahl nicht schaffen würde. Obwohl er, das hat er sich von seiner Vorgängerin abgeschaut, in den letzten Wochen und Monaten freigiebig Wahlgeschenke verteilt und Steuern senkt. Nichtsdestotrotz ist damit zu rechnen, dass er vom Kandidaten geschlagen wird, der, selber darf sie nicht mehr, von niemand anderem als Cristina Kirchner unterstützt wird. Und natürlich trompetet sie wieder hinaus, dass der IMF und die aktuelle Regierung an dem ganzen Schlamassel schuld seien. Und die sollen es gefälligst auch wegräumen.
Nicht gerade vertrauenserweckend ist dabei allerdings die Bitte Macris, dass Argentiniens Gläubiger dem Land doch Aufschub bei der Tilgung der Auslandsschulden in der Höhe von 101 Milliarden Dollar gewähren sollen. Während die Inflation mal wieder in zweistellige Zahlen hochschießt, die Währung abstürzt und die Stimmung auf der Straße steigt. Der IMF steht nun vor der kitzligen Frage, ob er die nächste Tranche seines 57-Milliarden-Kredits noch vor den Präsidentschaftswahlen auszahlen will oder nicht.
Große Investoren-Fonds gehen inzwischen davon aus, dass es wohl noch in diesem Jahr zum nächsten Staatsbankrott kommen wird. Denn zwischen den Wahlen und dem Amtsantritt des neuen Präsidenten liegt ein wochenlanges Interregnum. Die Einzige, die dabei fein raus ist, ist Christine Lagarde. Denn sie ist bereits von ihrem Amt als IMF-Chefin zurückgetreten, würde sicherlich auch hier alles nochmal genau gleich machen, und freut sich bereits auf ihre neue Aufgabe als Chefin der EZB.
Außer einem „weiter so“ ist aber auch Draghi nichts eingefallen
Natürlich kann man nicht nur dem IMF die Schuld in die Schuhe schieben, dass von seinen letztes Jahr insgesamt überwiesenen 45 Milliarden nur ganze 9 Milliarden im Land blieben; der Rest wurde von Gläubigern in Sicherheit gebracht. Inzwischen scheint eine realistische Zahl im nächsten Default zu sein, dass sich die Gläubiger wieder mal rund die Hälfte ihrer Kredite ans Bein streichen können. Das dürfte den IMF wohl nicht sonderlich erschüttern. Zum einen kann natürlich auch sein neuer Chef der Vorgängerin die Schuld in die Schuhe schieben. Und schließlich wäre es der 22. Bailout, also die 22. Rettungsaktion, die der IMF mit Argentinien durchziehen wird.
Gut, verrückte Zeiten im Gaucho-Land. Aber bevor der geneigte Leser im Restsommer noch ein argentinisches Rindssteak auf den Grill schmeißt und ansonsten findet, dass das Land nun wirklich weit genug von Europa weg ist: Ich will ja nicht den Appetit verderben, aber: Was kann man von Lagarde erwarten, wenn sie dann die Nachfolge von Mario Draghi antritt? Dem ehemaligen Goldman-Sachs-Banker kann man immerhin kein fehlendes Fachwissen vorwerfen. Höchstens kriminelles Handeln mit Negativzinsen und den Aufkauf von Schuldpapieren in der eigenen Währung. Außer einem „weiter so" ist aber auch Draghi nichts eingefallen, wie Europa, wie der Euro aus dieser Nummer wieder rauskommt. Aber die Hoffnung stirbt zuletzt: Wenn jemand weiß, wie man Krisen meistert, dann ist es sicher die gelernte Anwältin Lagarde.
Was kann man dagegen tun? Tango lernen? Die argentinische Mañana-Mentalität übernehmen? Leicht elegisch in Melancholie durchs Leben gehen? Nein, ich hab’s: Warum nicht gleich nach Argentinien auswandern? Was nach 1945 richtig war, kann doch heute nicht falsch sein. Buenos Aires soll nicht nur gute Luft und ein angenehmes Klima haben. Sondern auch die weltweit höchste Dichte an Psychiatern aufweisen. Und ein argentinisches Churrasco ist zwar nichts für Vegetarier, aber das Fleisch ist wirklich super. Viel Platz hat’s auch, also: Nichts ist alternativlos. Und an vielen Orten gilt: Man spricht Deutsch.