Wählt der Osten nur ins Blaue?

Der Wahlsonntag zeigte: Im Osten ist die AfD jetzt stärkste Partei. Werden ostdeutsche Wahllokale jetzt von einer blauen Welle überrollt? Die Ergebnisse der Kommunalwahlen weisen gleichzeitig auch in eine Welt ohne Parteien.

Diese Deutschlandkarte machte einige Stunden nach Schließung der Wahllokale am Sonntagabend die Runde. Darauf zu sehen war eine Übersicht der Wahlkreise, farblich danach markiert, welche Partei im jeweiligen Wahlkreis bei der Europawahl die stärkste wurde. Und dieses Deutschland war keineswegs bunt, sondern teilte sich im Wesentlichen in einen West-Teil in CDU-schwarz und einen Ost-Teil in AfD-blau. Und die Grenze zwischen dem schwarzen und dem blauen Deutschland entsprach ziemlich genau der alten Zonengrenze zwischen DDR und Bundesrepublik.

Wurde der Osten nun von einer großen blauen Wahl-Welle überrollt, der dann noch beeindruckende Stimmengewinne der von den SED-Erben abgespaltenen Wagenknecht-Bewegung folgten? Mancherorts gab es Wahlergebnisse, nach denen es keine Mehrheit ohne AfD oder BSW gäbe. Aber das ist eigentlich nicht ganz neu. Schon die Landtagswahl in Thüringen vor fünf Jahren führte erstmals zu der Situation, dass alle Parteien der alten Bundesrepublik zusammen keine Mehrheit mehr im Landtag hatten. Ohne Beteiligung der AfD oder der SED-Nachfolger konnte das Landesparlament nichts mehr beschließen. Und bekanntlich entschied sich die CDU nach einer Intervention ihrer Bundeskanzlerin für die Kooperation mit den SED-Erben.

Den Umstand, dass die Parteien, die einstmals das in Parlamenten vertretene demokratische Spektrum der alten Bundesrepublik ausmachten, keine Mehrheit mehr hatten, wurde vom politischen Establishment gekonnt ignoriert. Auf die Bedürfnisse unzufriedener Bürger ernsthaft eingehen mochte das politische Spitzenpersonal nicht, sondern dem Souverän nur besser erklären, dass das, was die Führung will, schon das Richtige ist. Und um Wahlergebnisse zu wenden, sollte eine Brandmauer gegen die AfD reichen. Und nun sehen die Funktionäre der alten Parteien, dass durch ihr Nicht-Handeln aus dem Einzelfall ein Flächenbrand wurde, nur dass statt der Linken nun die aus ihr entstandene Wagenknecht-Bewegung mit von der Partie ist.

Spezieller Unterhaltungswert

Und nun? Stehen wir vor einem Ost-Phänomen? Oder sind die Ost-Länder nur Vorreiter einer Entwicklung, die den Westen etwas zeitverzögert erreicht? Beispielsweise, weil es im Westen immer noch eine stärkere Parteibindung gibt als im Osten? Einen Zugewinn für die AfD gab es in Ost und West. Könnte er im Westen mittelfristig auch die Ausmaße annehmen, die er im Osten schon hat? Wenn die Bürger immer stärker das Gefühl bekommen, dass gegen ihre Interessen regiert bzw. nicht in ihrem Interesse gehandelt wird, ist das nicht unwahrscheinlich. Aber vielleicht kommt es ja auch bald wieder in Mode, sich als politischer Verantwortungsträger daran zu erinnern, dass es sich bei den Bürgern um den Souverän handelt, dessen Interessen man zu vertreten hat, statt ihn im eigenen Interesse umerziehen zu wollen.

Zumindest entsprechende Sprechblasen benutzen manche der Regierenden derzeit wieder einmal. Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) belegt in der Disziplin Meinungswechsel durchaus einen Spitzenplatz. Nachdem die blaue Welle am Sonntag auch seinen Freistaat erfasst hatte, meldete der MDR am Montag:

„Einen klaren Kurswechsel hat Ministerpräsident Michael Kretschmer von der Ampel-Regierung und seiner Partei nach den AfD-Wahlerfolgen im Osten verlangt. Wie der CDU-Politiker sagte, braucht das Land eine stabile Demokratie. Das gelinge nur, wenn diese und der Rechtsstaat wirklich Probleme lösen. So schaffe man es, den Populisten den Nährboden zu entziehen.“

Das hat schon einen speziellen Unterhaltungswert, wenn der Ministerpräsident eines Landes einen „klaren Kurswechsel“ von anderen verlangt, statt selbigen kraft seiner eigenen Möglichkeiten im eigenen Freistaat erkennbar zu beginnen. 

Bunteres Bild in den Gemeinden

Aber während man nur auf die Wahlkreiskarten mit dem blau gefärbten Osten schaut und über die blaue Welle räsoniert, übersieht man eine andere Entwicklung. Die Wahlkreiskarten zur Europawahl sind im Osten weitgehend blau. In den Ost-Ländern, in denen es am Sonntag Kommunalwahlen gab und deren Ergebnisse am Montag vorlagen, sind auch die Wahlkreise bei den Kreistagswahlen weitgehend blau. Bunter wird es aber, wenn man sich die Ergebnisse von Gemeinderatswahlen anschaut.

Nehmen wir beispielhaft mal die Ergebnisse einiger sächsischer Städte und Gemeinden. Beispielsweise Colditz, weltweit bekannt für das als Kriegsgefangenenlager für alliierte Offiziere genutzte Schloss Colditz und die dortigen legendären Ausbruchsversuche. Bei der Stadtratswahl führten die Freie Wählervereinigung "Für unsere Heimat“ und das Bündnis Zukunft mit je 30,8 Prozent. Zur Mehrheit der Nicht-Parteien gehört auch die Bürgerinitiative Colditz (BIC) mit 12,4 Prozent. Die Parteien sind klar in der Minderheit: Erst kommt die AfD mit 15,1 Prozent, gefolgt von der CDU mit 4,2 Prozent, der FDP mit 3,7 Prozent und der Linken mit 3 Prozent. Klassische politische Parteien sind hier kommunal eine Randerscheinung. 

In Seelitz in Mittelsachsen gibt es nur eine Partei im Gemeinderat, aber die stärkeren Ergebnisse erzielten andere: Die Bürgerbewegung Kirche mit 43,7 Prozent, gefolgt von Seelitz gemeinsam gestalten mit 25,5 Prozent und die Bürgergemeinschaft Freiwillige Feuerwehr mit 21,7 Prozent. Einzige Partei ist Die Linke mit 9,1 Prozent.

In etlichen Gemeinden sind die Parteien gar nicht mehr vorhanden, beispielsweise in Jesewitz in Nordsachsen. Es gab durchaus konkurrierende Listen, die es in den Gemeinderat schafften, aber keine Partei. Stattdessen gewann die Freie Wählergemeinschaft Jesewitz 43 Prozent, die Wählervereinigung Liemehna 21,4 Prozent, die Wählervereinigung Pehritzsch  14,7 Prozent, die Freie Wählervereinigung Natur und Heimat 13,8 Prozent und die Freie Wählergemeinschaft Wölpern 7,1 Prozent.

Bei Kommunalwahlen - nicht nur in Sachsen - kann man außerhalb des urbanen Raums in eine konkrete politische Welt eintauchen, in der Parteien nur eine Randexistenz fristen oder gar keine Rolle spielen. Viele Bürger verzichten offenbar gern auf Parteien und ihre Apparate bei der politischen Gestaltung, wenn dies möglich ist. Gegen diese Selbstorganisation hat dann offenbar keine Welle, egal in welcher Parteifarbe, eine Chance. Dafür vielleicht der gesunde Menschenverstand. Das ist in der Berichterstattung von Kommunalwahlen überregional eine eher übersehene Welt. 

Korrekturnotiz: Eine fehlerhafte Formulierung bei der Aufzählung der Wahlergebnisse in Colditz wurde nachträglich korrigiert.

Peter Grimm ist Journalist, Autor von Texten, TV-Dokumentationen und Dokumentarfilmen und Redakteur bei Achgut.com.

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Matthias Ditsche / 11.06.2024

Am Wort „Osten“ kann sich der aufrechte BRD Bürger mal so richtig abarbeiten, denn „Osten“ oder „ostisch“ eignete sich schon immer als was zum minderwertig erklärten, unzivilisiert, nicht rasserein, irgendwie ekelhaft und unterbelichtet. Nicht demokratiefähig , wie schon von grünen Mandatsträgern und deren Klassensprechern gerne postuliert wird. Diese rheinisch- süddeutsche Arroganz schlägt gerade auch in den Medien mit viel Schaum vor dem Munde durch, dieses „falsche Verhalten“muß analysiert werden, ganz viele „Ostbeauftragte“ schießen jetzt wie Pilze aus dem Boden. Der „Osten“! Das war mal Breslau, Danzig oder Königsberg. Versunken im Staub der Geschichte, nie dagewesen. Jetzt muß Thüringen und Sachsen/ Anhalt , Mitteldeutschland, diese Ahnungslosigkeit oder besser Ignoranz ausbaden. Jeder rheinische Jecke meint, er hätte voll die Ahnung, nervt mit blöden Kommentaren und Gezeter in den Medien und kann sich auskotzen. Die Leute ticken in Mitteldeutschland nun mal anders, kapierts doch endlich. Sind sie deshalb die schlechteren Menschen? Warum redet keiner über das Wahlverhalten in der anders eingefärbten BRD? Dort wählt man seit Jahren die linksextremen Weltverbesserer und ihre vormals bürgerlichen Konservendosen, immer weiter so. Uns gehts doch gut. Nehmt eure Statthalter wie Kretschmer oder Ramelow oder Haselhoff, vielleicht gibts für die ne Zweitverwendung in Brüssel. Die Verdienstmöglichkeiten sind dort wohl auch ganz schön, so heißt es.

Brian Ostroga / 11.06.2024

Das regionale Gruppen bevorzugt gewählt werden kann ich bestätigen, auch in meiner Heimatstadt haben Parteien zusammen weniger als 50% der Stimmen geholt und der Rest ging an Wählergemeinschaften. Interessant ist dazu, die SPD trat hier nicht mehr mit eigener Liste an.

D.Graue / 11.06.2024

Der Osten blau. Der wäre grün, schwarz, gelb, sofern da was vernünftiges kommen würde. Demokratie ist doch, wenn ich kein Murks und Geschwafel sondern Lösungen möchte, darf ich wählen. Die Farbe ist doch egal. Its the Bürger, stupid. Es ist so einfach, nur in den Parteien will oder kann das niemand verstehen. Alles mit Ansage. Die einen haben zumindest Vorschläge die offenbar auf zunehmendes Interesse stossen, könnte man ja übernehmen. —Stattdessen ein Einheitsbrei-Phrasenbrei :  “Gegen Hass und Hetze” - “Wählt demokratisch” - “Demokratie schützen” - “AfD böse!” - “Haltung zeigen”—das soll ein Programm sein?—keine Sau kommt mehr in mein Restaurant weil das Essen eher Tierfutter ähnelt - wie gewinne ich die Gäste wieder: indem ich das Restaurant nebenan schlechtrede oder neuen Koch suchen und wieder gutes Essen anbieten?—Autos Marke X verrosten und fallen nach 50 Tkm auseinander, Kunden und Umsatz weg, vielleicht hilft ja eine Werbekampagne gegen Marke Y um meine Schrottkarren wieder zu verkaufen, oder sollte ich doch bessere Qualität liefern?—noch ein Hinweis, die Deutschen im Osten haben eines kapiert: wenn sich was ändern soll, muss man etwas tun, auch wenn es unbequem oder unangenehm scheint, nichts passiert von selbst. Meckern, jammern, und aus Feigheit, Gewohnheit oder Bequemlichkeit nichts oder immer das selbe zu tun, verändert nichts.—und ja: man darf und muss auch provozieren, egal was andere sagen oder denken. Wer immer noch nicht verstanden hat, nach Corona, mit der Migration, dem Habeckschwurbel, und dem ganzen anderen Mist, was die Politik von UNS hält: die zeigen uns jeden Tag einen Stinkefinger und lügen uns dreist in Gesicht - das können sie gern zurückhaben, bitte, danke. Verarschen, belügen, ausnutzen, belehren, für dumm verkaufen - das können wir alleine, das zu zeigen, da hat der Osten den Mumm, was andere sagen oder denken geht da am Hintern vorbei. Gute Politik, das ist alles, die Ossis sind eigentlich ganz nett.

Thomas Kurt / 11.06.2024

@Robert Schleif: Gerade geht über den Ticker die überraschende Meldung, dass sich der sächsische Despot und Statthalter von rotgrün die Option einer Zusammenarbeit mit dem BSW nach der Wahl offen halte. Er sei einer, der auf Dialog setzt.

Jürgen Fischer / 11.06.2024

@Thomas Kurt, wenn es so kommt, wie Sie skizziert haben, dann werde ich zeitig Asyl in Sachsen beantragen. Auch wenn ich mir sicher bin, dass mein Antrag auch nach dem 31.12.2025 positiv beschieden würde.

hans kloss / 11.06.2024

Nur eine Demokratie wo der Bürger direkt in die Entscheidungen durch Bürgerbefragung/Referenda eingebunden wird, ist es wert Demokratie genannt zu werden. Die Schweizer zeigen, dass es geht. Man sollte sich aber keine Illusionen machen - die Demokratie ohne freie Medien und ohne mündige Bürger funktioniert nicht.

Thomas Kurt / 11.06.2024

@Emil.Meins: “...daß Herr Selenskyi für “unsere” Freiheit und Demokratie kämpft und nur unser Bestes will.” Dafür erhielt er heute stehende Ovationen im BT in Abwesenheit von AfD und BSW. Im Gegenzug verspricht ihm die EU den “geschlechtergerechten” Wiederaufbau nach dem Sieg über Russland. In Moskau ist dann geplant, dass er im Bolschoi persönlich ein Konzert für Penis und Klavier gibt und damit wieder etwas Kultur in das Haus bringt. Übrigens: von unserem Besten hat er seiner Frau ein kleines bisschen abgegeben für eine Datscha im Grünen.

Heiko Loeber / 11.06.2024

@Emil.Meins / 11.06.2024 // Nicht zuletzt die offen zelebrierte Moskau-Hörigkeit der AfD hatte auch bei mir abtörnend verfangen, so dass ich mich gezwungen sah, einer sozialismus-unverdächtigen Kleinpartei meine Stimme zu geben, die dann ebenfalls für ihre Verhältnisse ganz gut abgeschnitten hatte. Trotzdem war der nachfolgende Live-TV-Abend natürlich ein Genuss!

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