Wählen aus Mitleid? Mitleid mit wem? Mit einer Partei? Mit der Bundesrepublik? Mit der EU? Oder gar aus Selbstmitleid? Kann Mitleid überhaupt ein Grund sein, das Wahlrecht wahrzunehmen, auch wenn einfach nicht klar ist, wem das Land und seine Bevölkerung anzuvertrauen ist?
Diese Fragen mögen absonderlich klingen, zumal, wenn sie jemand aufschreibt, der vor fast drei Jahrzehnten erstmals frei wählen konnte und dem diese freien Wahlen noch immer heilig sind. Ganz klar ist nur, Links- und Rechtsaußen und deren Varianten sind no-go-areas. Für diese Truppen sind weder meine Freunde noch ich 1989 auf die Straße gegangen. Aber damit bin ich überhaupt noch nicht schlauer, was meine eigene Wahl am 24. September 2017 angeht.
Die Partei meiner Sehnsucht war die SPD schon, als ich DDR-Insasse war. Für sie durfte ich sogar 19 Jahre im Bundestag sein. Das macht es mir unheimlich schwer, sie nicht zu wählen. Doch warum denke ich überhaupt darüber nach, „meine“ Partei nicht zu wählen? Den Spitzenkandidaten mag ich. Ich mag auch sehr viele Mitglieder, darunter viele frühere Kollegen. Doch was soll ich mit „meiner“ SPD anfangen, wenn diese so tut als wäre diese Bundesrepublik nicht auch durch ihre Schuld vor zwei Jahren mitsamt der EU beinahe den Bach runtergegangen. Der Bundestag schickte die fahrlässige Kanzlerin nicht in die Wüste, er stellte die Frau ja nicht einmal zur Rede!
Der böse Ungar Viktor Orbán, die Österreicher und die Balkanstaaten haben ihr und unser Fell vorerst gerettet. Sie werden dafür – was unter Freunden eine besonders perfide Niedertracht ist – ständig öffentlich angeprangert und zwar nur sie. Die ebenso bockigen Westeuropäer werden stattdessen geschont.
Göttlichkeit menschlicher Grenzwerte?
Wer Millionen Angehörige einer grundsätzlich anders strukturierten Gesellschaft auf einen Schlag in den eigenen Kulturkreis einlädt, der verändert diesen selbstverständlich. Wer den Orient reinholt, der bekommt ihn auch mit all seinen Schattenseiten. Das scheint auch nicht mehr reparabel. Wer sollte das tun, wenn alle, die im Wahlkampf um Mandate werben, am schwierigsten Problem überhaupt konsequent vorbei reden. Wie feige sind die staatstragenden Parteien eigentlich geworden?
Sozialer Ausgleich, wirtschaftlicher Fortschritt, Forschung und Bildung, das sind alles wichtige Themen. Die Parteien, auch gerade die SPD, bieten ihre Wege und Prioritäten hierzu an. Doch für viele Wähler stellen sich die Fragen ganz anders. In welchem Rahmen wird sich diese Politik bewegen? Ein Europa ohne sichere Außengrenzen wird weder die innereuropäischen noch die außereuropäischen Probleme lösen können. Ein ungesichertes Europa, dass wegen eintretender Überforderung den Sozialstaatsgedanken aufgeben muss, ein kollabierendes Europa wird überhaupt niemandem mehr auf der Welt helfen können.
Auch dass die deutsche Automobilindustrie nun zum Feindbild aller politischen Verantwortungsträger zu werden scheint, macht mich ratlos und wütend. Der zelebrierte Glaube an die Göttlichkeit der von Menschen festgelegten Grenzwerte, die ohne Rücksicht auf physikalische Gesetze par ordre di mufti festgesetzt wurden, ist irrwitzig.
Die Grenzwert-Willkür trifft natürlich nicht nur Autos. Ein aktuelles Beispiel Meissener Porzellan. Bis auf den Leipziger SPD-Bundestagskandidaten Jens Katzek höre ich keine politischen Stimmen, die sich öffentlich gegen die drohende Gefahr für diese weltberühmte sächsische Porzellanmanufaktur stellen. Die EU will der Firma an den Kragen. Weil Meissener Porzellan Farben verwendet, die in größeren Mengen der Gesundheit abträglich sein sollen. Wohlgemerkt Meissener Porzellan, welches in aller Regel als wertvolles Schmuckstück in den Vitrinen steht. Wo sind die Wahlkämpfer, die sich hier wehren? Darf das Dandy-Europa des Herrn Juncker wirklich alles oder bestimmen die gewählten Regierungen, wer und was Europa ausmacht?
Ich weiß, mit einer Stimme bei der Wahl werde ich den Wahnsinn nicht stoppen. Es scheint egal zu sein, ob die grünangezogene CDU-Tante die Wahl gewinnt oder der von mir geschätzte Martin Schulz. Die wollen alle weiterhin denselben Unfug mit uns machen.
Zahlen für eine grüne Oberschicht?
War die FDP vor kurzem noch für viele meiner Freunde das kleinste Übel unter allen Herausforderungen, so hat Herr Lindner seine Partei mit seinem Krim-Schlag von vielen kleinen Sympathien befreit. Anderer Leute Land verschenken, ist das frei und liberal? Soll ich nun aus Mitleid wählen? So tun, als würde es mich beeindrucken, dass die Union so tut, als ob sie was aus 2015 gelernt hätte, und die SPD so tut, als ob sie aus 2015 nichts zu lernen hätte?
Aus der staatsozialististischen Energiewende lernen beide nichts, obwohl beide wissen, den Unfug zahlen die Klein- und Normalverdiener dieser Republik zugunsten der neuen grünen Oberschicht. Gegen „Deutschland ins vorindustrielle Zeitalter zurück“ stehen beide Parteien nicht auf und präsentieren statt dessen sozialistische Wirtschaftspolitik mit politisch geplanten Quoten.
Ich werde am 24. September wählen gehen. Damit die Ränder rechts wie links keine Chance bekommen können. Hoffe ich jedenfalls. Ob ich SPD wählen werde, das steht heute noch in den Sternen. Noch hat Martin Schulz Zeit, nicht nur mir, sondern sehr vielen Sozis in- und außerhalb der SPD zu zeigen, dass er etwas verstanden hat. Das ist nämlich überhaupt noch nicht klar.
Warum fällt er beispielsweise Frau Özuguz nicht ins Wort, wenn sie Heimaturlaub von „Flüchtlingen“ befürwortet? Wie verschoben sind eigentlich die diesbezüglichen Maßstäbe in der Bundesrepublik? Merken wir noch, wie lächerlich wir uns innerdeutsch und weltöffentlich machen?
Warum schreibe ich das hier alles öffentlich auf? Weil es viele Mitbürger der gesellschaftlichen Mitte gibt, denen es sehr ähnlich geht und die aus welchen Gründen auch immer, sich nicht zu Wort melden. Ich für meinen Teil halte es für meine staatsbürgerliche Pflicht, mich so zu äußern, wie ich es tue. Unsere Fesseln sprengten wir 1989 nicht, damit andere sie uns wieder anlegen.
Gunter Weißgerber ist ehemaliger Bundestagsabgeordneter der SPD (1990 - 2009) und gehörte in der DDR zu den Leipziger Gründungsmitgliedern der Partei.