Cora Stephan / 25.10.2007 / 12:29 / 0 / Seite ausdrucken

Vorwärts, es geht zurück - Becks Kurs

Was für ein Gefühl: neuerdings muß man, gerade wenn man kein Sozialdemokrat ist, an der Seite Franz Münteferings stehen und kämpfen. Nämlich für das einzige, worum sich die rotgrüne Regierung unter Schröder wirklich verdient gemacht hat: für die Agenda 2010. Denn erst jetzt ernten wir - und damit auch die rotschwarze Koalition - die Früchte der damaligen Reform, die mutig war, denn sie kostete die SPD Stimmen. Das Rad zurückzudrehen, wie es Kurt Beck versucht, wetzt diese Scharte womöglich nicht aus, bremst aber mit Gewissheit den positiven Prozess, der uns einen seit Jahren nicht gesehenen Rückgang der Arbeitslosenzahlen beschert hat.

Was will Beck? Das, was sie natürlich alle wollen, unsere Politiker: mehr soziale Gerechtigkeit. In diesem Fall: eine längere Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes für ältere Arbeitnehmer. Fragt sich nur, ob das eine mit dem anderen zusammengeht. Denn Franz Müntefering hat es auf den Punkt gebracht: “Die Bezugsdauer beim Arbeitslosengeld für Ältere zu verlängern hat für mich keine Priorität. Prioritär ist es, ihnen Arbeit zu geben.”
Exakt. Zu den schlimmsten Formen von Altersdiskriminierung hat bis in die 90er Jahre hinein jener Mechanismus staatlicher Abfederung gehört, der die Unternehmen dafür belohnte, ihre über 50jährigen scharenweise in den Vorruhestand zu schicken. Heute fehlt dort deren Erfahrung, während den Vorruheständlern auf der anderen Seite eine sinnvolle Betätigung fehlen dürfte. Denn es ist mehr als fraglich, ob es teils hoch qualifizierten Menschen genügt, ab 52 die Enkel zu hüten oder die sieben Weltwunder zu besuchen.
Aber darüber ist in den Gerechtigkeitsdebatten selten die Rede, und das gilt nicht nur für die SPD. Auch in der CDU macht sich die Vorstellung breit, sozial und gerecht sei es, die Wählerklientel mit milden Gaben bei Laune zu halten. Das ist sicherlich logisch, ist doch bereits heute mehr als die Hälfte der Wählerschaft in der einen oder anderen Weise von staatlichen Zahlungen abhängig, und Politiker möchten nun mal wiedergewählt werden. Aber jenseits des reinen Kalküls tut sich noch etwas anderes auf: nämlich das Menschenbild, das hinter der in Deutschland obwaltenden Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit steckt.
Denn das fällt doch auf: selten bis nie ist die Rede von Menschen, für die “Rente mit 67” nur deshalb eine Drohung ist, weil sie sich auch in diesem Alter noch nicht reif für den “Ruhestand” fühlen. Ebenso selten ist die Rede von all denen, die in der Statistik als arbeitslos auftauchen, obwohl das ein für sie sehr vorübergehender Zustand ist. Ganz zu schweigen von all den Selbständigen und Freiberuflern, die das Risiko eingehen, weitgehend ohne Netz und doppelten Boden ihr Ding zu tun. Mit anderen Worten: in Deutschland behandeln Politiker ihre potentiellen Wähler als Bedürftige und Abhängige und definieren Leben in diesem wohlhabenden Land vom schlimmsten, nicht vom besten Fall her. Wer nach dem über die Medien vermittelten Menschenbild der Politiker geht, wähnt sich im Lande der Opfer: lauter Opfer von wahlweise Globalisierung, sozialen Risiken, Einsamkeit und Altersarmut. Kein Wunder, dass das mittlerweile auch Menschen glauben, die doch eigentlich den Beweis fürs Gegenteil darstellen. Auch Gutsituierte ohne Zukunftsangst argumentieren feurig gegen Eintrittsgelder für Museen und gegen Studiengebühren, als ob es in diesem Land niemanden gäbe, der für solcherlei Leistungen auch bezahlen könnte, ja: bezahlen möchte, da er selbst einst davon profitiert hat.
Wer Menschen als Opfer, auch als potentielle Opfer, behandelt, wer ihnen die Vorstellung nimmt, selbst Herren ihres Schicksals zu sein, entmündigt sie. Das Thema Integration illustriert, welche Folgen das zeitigen kann: jahrzehntelang wurden Immigranten nicht gefordert, sondern zu Opfern erklärt. Und so verhalten sie sich schließlich auch.
Es ist das alte Lied. Das hierzulande vorherrschende Bild von sozialer Gerechtigkeit behandelt Menschen als Bedürftige. Das fällt uns offenbar leichter, als die andere Seite zu akzeptieren: ein Mensch, der nicht Gegenstand der Fürsorge ist, der um seinen Platz im Leben kämpft, ist ein Konkurrent. Das widerspricht unserer auf Kuscheln eingestellten Gemütsverfassung und ist doch zugleich die Botschaft, die wir lernen müssten: in der Tat braucht man Kampfbereitschaft, um in einer offenen Gesellschaft seinen Platz zu erobern und zu halten. Staatliche Aktivität sollte die Rahmenbedingungen dafür schaffen - und erst zweitens dafür sorgen, dass diese Kampfbereitschaft nicht ausufert und dass die Schwachen sich geschützt fühlen dürfen. Denn dass die Politik die Menschen mittlerweile weitgehend zu Objekten der Fürsorge erklärt, ist nicht nur diskriminierend, es dient auch nicht der Zukunft dieses Landes, für die wir Aufbruchs- und Risikofreude brauchen.
Wie sagt Franz Müntefering? “Wer glaubt, soziale Gerechtigkeit definiert sich im Wesentlichen durch Verteilung, der irrt.” “Fortschritt braucht den Schritt nach vorn, nicht zurück.”
Na, denn man tau.

Die Meinung, NDR-Info, 14.10.2007 09:25 Uhr

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen

Es wurden keine verwandten Themen gefunden.

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com