„Irgendwas ist mit meiner Karte!“
Nervös fingert Ulla Büderich am Kartenlesegerät herum, vor sich einen prall gefüllten Einkaufswagen, hinter sich eine Schlange zunehmend unwillig werdender Vermasketer.
„Darf ich mal?“ sagt Hatice Tavukbacagi freundlich, nimmt Ullas Karte in die Hand und reibt sie dann kräftig an ihrem rechten Ärmel. „Jetzt nochmal!“
Doch auch diesmal findet der Bezahlvorgang nicht statt. „Karte ungültig!“ meldet eine dicke rote Schrift auf dem Display. Hilflos schaut Ulla die geduldige Kassiererin an. „Die hat es gestern noch getan!“
Hatice nickt, sie hat an der Kasse schon alles erlebt und ist die Ruhe selbst.
„Stecken Sie die Karte wieder rein und drücken dann die Correctiv-Taste!“
„Die was?“ Ulla schaut auf das Kartenlesegerät. Da ist tatsächlich eine Taste, die sie noch nie gesehen hat.
„Ist neu“ sagt Hatice, „da die ovale grüne mit dem roten Punkt in der Mitte. Dann bekommen Sie sofort eine Auskunft, woran es liegen kann!“
Ulla lächelt die Kassiererin freundlich-verunsichert an und sagt „Danke schön!“ und drückt die Correctiv-Taste. Das Display zeigt barsch das Wort „Warten!“. Dann, Sekunden später, erscheint eine neue Schrift, ja, ein ganzer Text:
„Du bist vorübergehend für das Bezahlen gesperrt. Diese vorübergehende Sperrung dauert 24 Stunden. So lange kannst du mit deiner Karte nicht bezahlen. Bitte beachte, dass das wiederholte Gesperrtwerden dazu führen kann, dass dein Konto dauerhaft gesperrt wird.“
Ulla liest ungläubig den Text nochmal und noch...
„Geht's denn jetzt mal weiter?“ ruft es aus der Schlange und „Stütze schon alle?“ und „Wird det noch wat dieset Jahr?“ Ulla Büderich zuckt zusammen, die Blicke der Wartenden verheißen nichts Gutes. Sie zieht die Karte aus dem Lesegerät und steckt sie ein.
„Ich schau mal, ob ich es bar habe“ sagt sie zu Hatice Tavukbacagi, die verneinend mit den sorgfältig gezupften Augenbrauen zuckt.
„Bar geht nicht, ich darf kein Bargeld annehmen, wegen Virus!“
„Das kann doch nicht...“ sagt Ulla, unterbrochen von „Schleich dich jetzt, Alte!“ aus der Schlange heraus. Sie würde jetzt lieber vor einer hungrigen Python stehen, als vor diesem vehement anschwellenden Volkszorn. Wer sagt, das Volk sei geduldig und ließe sich alles bieten, hat garantiert nicht schlangestehendes Volk im Landkauf gemeint.
„Leider ist das“ sagt Hatice Tavukbacagi. „Oder haben Sie zufällig tatkirsische Letaler dabei? Tuvakniesische Kaurimuscheln? Auf denen hält sich Virus nämlich nicht. Haben Wissenschaftler rausgefunden...“
„Was ist mit türkische Lira?“ will Ulla fragen, aber sie schluckt es herunter. Der Schluck begegnet auf halbem Weg dem aus der Magengrube aufsteigenden Zorn und manifestiert sich in einem wütenden „Dann leckt mich doch...!“ Ulla lässt den vollen Wagen zurück und strebt dem Ausgang zu. Hinter sich hört sie noch aus der Schlange „Mach ich glatt, Alde, musstu stehen bleiben!“
Szenenwechsel. Ulla Büderich sitzt im Familien SUV auf dem Parkdeck des Supermarktes und verdrückt ein paar wütende Tränen. Da geht ihr Mobiltelefon.
„Gerdschatz, was gibt es? Ich bin gerade mies drauf!“
„Und ich erst mal“, dröhnt die Stimme des normalerweise eher phlegmatischen Gatten aus dem Hörer. „Du musst mich holen kommen, ich stecke im Schlamassel!“
„Wo bist du, was ist passiert? Und ich verstehe dich so schlecht...“
„...uckel!“
„Was sagst du? Hast du die Maske auf?“
„I c h b i n i n P o s e m u c k e l! P o s e m u c k e l!“
„Was machst du denn da? Was ist denn nur...?“ Ulla drückt sich ganz tief in den Fahrersitz, so als suche sie Geborgen- und Sicherheit. Nein, nicht als – sie sucht Geborgen- und Sicherheit.
„Ich war heute bei Rumfutsch, wegen der neuen Heizung!“ Gerd Büderich ist jetzt gut zu verstehen. Zu gut.
„Du hast die Maske ausgezogen, oder? Zieh sie besser wieder über, mit Volkszorn ist nicht zu spaßen!“ sagt Ulla mit matter Stimme.
„Mit mir auch nicht!“ schreit der Gatte ins Telefon. „Hör jetzt: auf dem Heimweg wollte ich tanken, und als ich bezahlen will, heißt es, die Karte sei gesperrt! Und Bargeld nehmen sie nicht! Jetzt stehe ich hier beim Bumskauf in Sommerspross an der Tanke und brauche Geld. Sonst lassen die mich hier...“
Der Arm, mit dem Ulla den mobilen Telefonapparat hält, sackt, jegliche Kraft verlierend, langsam nach unten. Nur für einen Augenblick, dann hört sie Gerds krakeelende Stimme aus der Höhe ihres Schoßes.
„Was ist los? Hörst du mich noch? Ulla! Ulla! ULLAAAAH?“
Ulla Büderich reißt sich zusammen.
„Gerdschatz, ich höre dich! Aber höre! Auch meine Karte geht nicht! Ich habe auch kein Geld! Ich konnte den Einkauf nicht bezahlen!“
„Wie bitte? Die Konten sind wie immer prallvoll!“
„Ich habe eine Info im Kartenlesegerät bekommen, Schatz! Bin vorübergehend für das Bezahlen gesperrt. Vorübergehend, für 24 Stunden. So lange soll ich mit meiner Karte nicht bezahlen kö...“
Aus dem Hörer dringt ein kaum mehr „menschlich“ zu nennender Schrei. Dann hört Ulla, wie ein Motor angeworfen wird, und dann Gerds Stimme. „Hör zu, Schatz, fahr nach Hause, pack dir die Kinder, dann ein paar Klamotten, dann gehst du in den Keller und holst die Geldkassette unter den Kartoffeln raus und packst sie in den Kofferraum. Ich komme jetzt so schnell es nur geht. Warte auf dem Parkplatz vom Waldcafé „Onkel Bogumil“, da ist jetzt keiner, weil es geschlossen wurde. Ich bin in etwa dreiviertel Stunde da. Alles weitere dann!“
Tage später. In einem Büro.
„Ja, Rabunke hier, die Fahndung läuft. Natürlich! BND und BKA... ein Fall für die Correktionsanstalt nach §§ 55, 56 Antifaschistische Strafgesetzbuch. Vier Personen, richtig. Büderich, Gerd, 38, Ingenieur, und Ulla, auch 38, ohne Beruf... ja, ohne... und zwei Kinder, 12 und 9 Jahre alt. Fehlen unentschuldigt... Ja, genau... da kommt einiges zusammen. Er hat die Tankzeche geprellt, infolge einer Kontosperrung... verordnete Strafmaßnahme, ja... weil laut Dezernatsleiter Dawei-Schratig wurden von diesem Konto mehrfach Zahlungen... richtig, eine Patenschaft für die neurechte Achse des Guten, ein Jahresabo für den neurechten Tichys Einblick, 50 Euro für diesen windigen neurechten Anwalt... ja, ich verstehe auch nicht, wieso diese Sperrung nur 24 Stunden... ja, ein Fehler... am nächsten Tag konnten sie alles abheben... Raststätte Draisinenburg Ost... ohne Maske... verliert sich in einem Ort namens Horvátzsidány... Ja, alles durchsucht … im Keller haben wir zwei Zentner Kartoffeln... genau, Kartoffeln... Keinen Fernseher, nicht mal ein Radio... Bücher... ja klar. Von diesem Broder, Sie wissen schon... Und das Schlimmste, Schlobotti: neben dem Gästeklo lag ein Grundgesetz... Auf dem Boden! Achtlos hingeworfen! Wurde garantiert drauf rumgetrampelt...“