In der Corona-Zeit gab es Lehrkräfte, die Kinder einzeln aufgerufen haben, um sie nach ihrem Impfstatus zu befragen: Wer geimpft war, erhielt Applaus.
Wer nicht geimpft war, musste sich vor der ganzen Klasse rechtfertigen. Es gab Klassenräume, in denen die Namen der ungeimpften Kinder an die Tafel geschrieben wurden. Über Monate hinweg mussten Kinder während der Corona-Zeit auf dem Schulhof eine Maske tragen. Es gab jedoch sogenannte „Lufttankstellen“, an denen es erlaubt war, kurz die Maske abzunehmen. Auf einem Schild stand damals: „Hier kannst du mal kurz alleine stehen und deine Maske abnehmen! Achte darauf, dass niemand in deiner Nähe ist!!!!“
In dieser Zeit hörte ich einmal, wie ein Kind die Maßnahmen folgendermaßen erklärte: „Ich habe so klitzekleine, unsichtbare Käfer an meinem Mund, und wenn ich die Maske nicht trage, dann können sie Oma und Opa töten.“
Dieses Kind versuchte, die Situation so gut es konnte zu erklären. In der Entwicklungspsychologie gibt es zwei wichtige Konzepte, die erklären, wie Kinder ihre Welt interpretieren: die egozentrische Phase und das magische Denken.
In der egozentrischen Phase, die typischerweise bei Kindern bis etwa sechs Jahren auftritt, sind Kinder stark auf ihre eigene Perspektive fokussiert und haben Schwierigkeiten, die Sichtweise anderer Menschen nachzuvollziehen. Sie glauben oft, dass die Welt um sie herum direkt von ihren eigenen Handlungen und Gefühlen beeinflusst wird. Viele Kinder haben die Corona-Maßnahmen in dieser Entwicklungsphase miterlebt. Diese Kinder werden sicherlich oft Schwierigkeiten gehabt haben, die Gründe der Erwachsenen für diese Maßnahmen zu verstehen. Sogar die meisten Erwachsenen hatten irgendwann den Überblick verloren.
Wenn Kinder in dieser Phase gezwungen sind, Masken zu tragen und sich an Regeln zu halten, die sie möglicherweise nicht vollständig verstehen, könnten sie diese Anforderungen auf sich selbst beziehen. Wenn sie hören, dass sie die Krankheit verbreiten könnten, könnten sie annehmen, dass sie selbst für die Verbreitung des Virus verantwortlich sind. Diese Selbstbezogenheit kann dazu führen, dass sie sich schuldig oder verantwortlich fühlen, wenn sie feststellen, dass jemand in ihrem Umfeld, wie zum Beispiel ein Großelternteil, an Corona gestorben ist. Die Vorstellung, durch ihr eigenes Verhalten zum Tod eines geliebten Menschen beigetragen zu haben, kann zu intensiven Schuldgefühlen und emotionalem Stress führen.
Magisches Denken ist ein weiteres Entwicklungsphänomen, das bei Kindern vor allem im Vorschulalter ausgeprägt ist. Kinder in dieser Phase neigen dazu, übernatürliche oder magische Erklärungen für die Ereignisse in ihrer Umgebung zu suchen. Sie könnten glauben, dass ihre eigenen Wünsche oder Ängste reale Auswirkungen auf ihre Welt haben. In der Zeit der Corona-Pandemie, wenn Kinder mit der Angst vor einer Krankheit konfrontiert sind und sehen, wie Erwachsene sich um die Verbreitung des Virus sorgen, könnten sie beginnen, magisches Denken als Bewältigungsmechanismus zu nutzen. Ein Kind könnte zum Beispiel denken, dass es durch das bloße Wünschen oder das Nachdenken über „schlechte“ Gedanken die Krankheit verbreiten oder schlimme Dinge verursachen kann. Die Vorstellung, dass sie durch ihre eigenen Gedanken oder Handlungen Einfluss auf das Leben oder Sterben von Menschen in ihrem Umfeld haben könnten, kann die emotionale Last erheblich verstärken.
Corona hat dazu geführt, dass sich viele Kinder schuldig gefühlt haben und teilweise immer noch fühlen. Diese ständige Sorge, andere krank gemacht zu haben oder durch eigene Fehler jemanden gefährdet zu haben, kann zu chronischer Angst und Stress führen. Zudem haben die Erfahrungen der Isolation durch Schulschließungen und das Tragen von Masken bei einigen Kindern das Vertrauen in Erwachsene und das Gefühl der Sicherheit beeinträchtigt.
Die Corona-Pandemie hat somit nicht nur die Weltwirtschaft und das tägliche Leben beeinflusst, sondern auch tiefgreifende Auswirkungen auf die psychologische Entwicklung von Kindern gehabt.
Darüber spricht Gerd Buurmann in der kommenden Ausgabe von „Indubio“ mit der Juristin Annette Heinisch sowie der ehemaligen Bundesministerin für Familie, Frauen, Jugend und Senioren von 2009 bis 2013, Kristina Schröder.