Von Uwe Knop.
Fleisch ist böse – und wer Fleisch isst, auch. So denken zumindest viele Tierliebhaber, die Steak, Wurst und Schnitzel für die Wurzel körperlichen Übels halten. Dabei haben sie besonders die roten Sorten auf dem Kieker. Am Rande erwähnt: Eine wissenschaftlich exakte und international einheitliche Definition von rotem und weißem Fleisch existiert nicht. Ob Straußenfleisch beispielsweise zu weißem (Geflügel) oder rotem (Farbe) Fleisch gezählt wird, obliegt dem Gusto der Forscher. Ein Schnitzel ist zwar eher weiß als rot, gehört aber meist zu Rotfleisch. Bei einer Weißwurst sehen die Wissenschaftler ebenfalls rot, das muss man erst einmal verarbeiten. Wo fängt die Fleischverarbeitung an, wo hört sie auf? Auch das entscheidet die kategorische Willkür der Wissenschaftler.
Reden wir nicht lange um den heißen Brei herum: So, wie beim Obst und Gemüse kein Beweis dafür existiert, dass es der Gesundheit nützt, so liegt auch für den Fleischkonsum kein wissenschaftlicher Beleg vor, dass er schadet. Wenn überhaupt, so haben die Studien auch hier nur Korrelationen ergeben.
Wie aber soll die Wurst zuckerkrank machen? Es könnten Begleitstoffe schuld sein, eventuell gibt es auch andere potenzielle Ursachen, die jedoch noch weiter erforscht werden müssen. Das ist übrigens der Lieblingssatz, mit dem alle Ernährungsstudien enden: „Da noch andere, unbekannte Gründe für die entdeckten Zusammenhänge verantwortlich sein können, sind weitere Forschungen nötig.“ Weitere Forschungen, immer weiter. So machen die Studienleiter stets gebetsmühlenartig darauf aufmerksam, dass ohne weitere Forschungsgelder alles Ernährungswissen vage bleibt. Unter uns: Das wird auch so bleiben.
Fleisch ist nicht „böse“
Ein weiteres ungeschriebenes Gesetz der Ernährungsforschung lautet: „Zu jeder Studie gibt es eine Gegenstudie.“ Das gilt natürlich auch für das „böse“ Fleisch. Zwei unabhängige Metaanalysen von der Universität Cambridge (2014, 72 Studien) und im British Medical Journal (2015, 73 Studien) ergaben beispielsweise: Tierische Fette (gesättigte Fettsäuren) haben keinen Einfluss auf Herzkrankheiten und Sterblichkeit. Damit bestätigten die Forscher eine vorherige Auswertung von 57 Studien: Es ist kein Zusammenhang (Korrelation) zwischen Fleischverzehr und Herz-Kreislauf-Erkrankungen erkennbar. Darüber hinaus mahnte ein Kardiologe im renommierten British Medical Journal (BMJ), dass der Mythos von gesättigten Fetten (aus Fleisch) als Verursacher von Herz-Kreislauf-Erkrankungen „zerstört“ werden müsse.
Dem entspricht die erste große Metaanalyse ausschließlich von RCTs („Randomised Clinical Trials“), also hochwertiger klinischer Studien, die im Januar 2017 ergab: Der tägliche Verzehr von mehr als einer halben Portion (> 35 Gramm) rotem Fleisch (verarbeitet und unverarbeitet) hat keinen Einfluss auf die wesentlichen Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Krankheiten (LDL/ HDL/ Total-Cholesterin, Triglyceride, Blutdruck). Für die Studie, die im Topjournal der American Society for Nutrition, dem American Journal of Clinical Nutrition, publiziert wurde, analysierten die Autoren 945 Studien, von denen 24 RCTs ihre Qualitätskriterien erfüllten und ausgewertet wurden. Die Wissenschaftler, die ihre Studie als „erste RCT-Metaanalyse dieser Art“ sehen, fanden auch keinen Hinweis, dass ein deutlich höherer Fleischkonsum als 35 Gramm pro Tag die KHK-Risikofaktoren beeinflusst.
Als „Hackhäubchen“ sei noch eine weitere Großstudie von Anfang 2017 erwähnt, bei der mehr als 267.000 Australier hinsichtlich des härtesten (und klarsten) aller Studienendpunkte beobachtet wurden: Die Wissenschaftler konnten keinen Unterschied in der Sterblichkeit (~ 17.000 Todesfälle) zwischen Fleischessern und diversen Formen vegetarischer Ernährung (Vegetarier, Flexitarier [≤ 1 x pro Woche Fleisch], Fischvegetarier) feststellen (Preventive Medicine).
Deutsche Kardiologen: Ein Herz für Fleisch!
Und die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie (DGK) e.V. lancierte anlässlich des Europäischen Kardiologenkongresses 2018 folgende Pressemeldung: „Neue internationale Studie mit mehr als 218.000 Teilnehmern aus über 50 Ländern empfiehlt Umdenken bei herzgesunder Ernährung: Fleisch und Milchprodukte. Zum Beispiel zeigen unsere Ergebnisse, dass Milchprodukte und Fleisch herzgesund sind und zur Langlebigkeit beitragen. Das weicht von herkömmlichen Ernährungsempfehlungen ab.“ Randnotiz: Sie wissen ja jetzt, dass kein Kausalzusammenhang hergestellt werden kann, das ist frei erfunden, denn auch hier handelt es sich, wie üblich, um eine Beobachtungsstudie. Die DGK macht es aber einfach trotzdem ... Aus Liebe zum Filetsteak auf dem eigenen Teller?
Blicken wir noch kurz nach unten, vom Herz zum Darm. Auch hier hat die Wissenschaft Mitte 2015 klare Erkenntnisse vorgelegt: Rotes Fleisch ist kein Risikofaktor für Darmkrebs (Metaanalyse von 27 oecotrophologischen „Goldstandard Studien“ [prospektive Kohortenstudien], Journal of the American College of Nutrition). Interessanterweise ergab 2009 die Analyse der wichtigsten Ernährungsstudie EPIC (Oxford): Vegetarier haben häufiger Darmkrebs als Fleischesser ...
Und 2018 stellte die Patienteninformationsseite „gesundheitsinformation.de“ des IQWiG (Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen) klar: „Es gibt bisher keine randomisierten Studien, die belegen, dass es vor Darmkrebs schützt, wenn man weniger rotes und verarbeitetes Fleisch isst.“ Und nur der Vollständigkeit halber, weil das IQWiG als Quelle so schön als seriös, evidenzbasiert, unabhängig und damit als vollumfänglich glaubwürdig einzustufen ist: „Ballaststoffe können das Darmkrebsrisiko wahrscheinlich kaum oder gar nicht senken.“ Aller guten Statements sind drei, ergo noch diese Tatsachendarstellung der Gesundheitsinformanten: „Das internationale Forschungsnetzwerk Cochrane fand keine überzeugenden Belege dafür, dass Menschen, die viel Obst und Gemüse essen, seltener an Darmkrebs erkranken.“
Zur Erinnerung: Die bereits erwähnte EPIC-Studie beobachtete auch, dass nicht die Fleischverächter am längsten leben, sondern die moderaten Fleischesser. Leicht irritierend hingegen wirkt die folgende „Freigeistkorrelation“: Die Österreicher „knacken“ als einziges EU-Land die 100-Kilo-Marke beim Fleischkonsum pro Kopf und Jahr. Damit sind sie die Nummer 1 in Europa – und ihre Lebenserwartung liegt höher als die der Griechen, die nur knapp halb so viel Fleisch essen wie die Österreicher (Quelle: Statista, 2019).
Verlängert rotes Fleisch das Leben?
Telo-was? Telomere. Das sind die Schutzkappen am Ende der Chromosomen (Erbgut), die als Indikator für die Lebenszeit der Zellen fungieren – sozusagen die „Zündschnur“ des Lebens, die immer kürzer wird, bis die Zelle stirbt. Je länger diese Telomere sind, desto länger leben die Zellen. Daher wird diskutiert, ob Menschen mit langen Telomeren durchschnittlich länger leben als solche mit kurzen. Nun hat eine neue Studie von 2017 Folgendes gezeigt: Kinder, die im ersten Lebensjahr am häufigsten krank waren, hatten die kürzesten Telomere – also ein schlechtes Zeichen, denn die „kurzen Kappen“ können auf frühzeitige Zellalterung, drohende Krankheiten und schlimmstenfalls gar auf ein kurzes Leben hindeuten. Wenn diese Kinder dann im Alter noch dazu zu viel rumsitzen, dann ist das gar doppelt schlecht für deren Telomere – denn einer weiteren Untersuchung der University of California aus 2018 zufolge haben ältere Frauen zwischen 64 und 95 Jahren, die am meisten sitzen und sich am wenigsten bewegen, die kürzesten Telomere. Aber was wären die modernen Ernährungswissenschaften, wenn es hier nicht auch ein paar passende Studien gäbe, die hoffnungsfroh stimmen!
So penetrierte im Sommer 2016 eine neue Studie das Sommerloch mit folgendem Erguss: Fleischesser haben die längsten! Auch wenn diese Schlagzeile so manchen männlichen Steakliebhaber in seiner Manneskraft bestätigen mag, die Wissenschaftler zeigten stattdessen: Rotfleischesser haben die längsten Telomere. Und nur kurze Zeit später gab die Veterinärmedizinische Universität Wien in einer Pressemeldung anlässlich ihrer neuen Studie bekannt: „Ein voller Bauch verjüngt den Siebenschläfer ... Ausgiebige Mahlzeit hält Zellen jung“. Die Wiener Forscher zeigten, dass die Telomerlänge der Siebenschläfer direkt vom Nahrungsangebot abhing. Nur bei zusätzlichem Futterangebot konnte die gleiche Länge oder sogar eine Verlängerung der Endkappen festgestellt werden.
Lautet die freigeistige „Kombination der Korrelation“ aller hier aufgeführten Telomerforschungen etwa: Um das verfrühte Abfackeln der Lebenszeitzündschnüre bei häufig kranken Kindern, die als Erwachsene viel sitzen, zu verlangsamen, gebt diesen Kindern Fleisch zu essen und lasst sie sich ordentlich den Bauch vollschlagen?! Zugegebenermaßen eine gewagte These, die jedoch aufgrund der Studienlage moderat „plausibilitätsgestützt“ daherkommt ... Sie können auch einfach nur darüber lachen, das ist sicher okay. Oder Sie halten sich an das zentrale Credo aller forschenden Ernährungswissenschaftler, denn auch die „Fleischesser-haben-die-längsten-Telomere“-Studie endet natürlich mit deren Lieblingssatz: „Weitere Studien müssen durchgeführt werden, um diesen Zusammenhang noch näher zu beleuchten.“
Moderate Fleischgenießer leben länger
Zum Abschluss dieses Kapitels blicken wir kurz in die Vergangenheit auf die prähistorische Speisekarte unserer Vorfahren: Die engsten Verwandten des Homo sapiens, die Neandertaler, verzehrten hauptsächlich Fleisch, ergänzt um pflanzliche Lebensmittel. Und diese Vorliebe für Fleisch hat höchstwahrscheinlich auch den Aufstieg der Frühmenschen begünstigt, wie 2012 eine Studie im naturwissenschaftlichen Fachmagazin Nature bekräftigte: Die ersten Vertreter der Gattung Homo aßen wohl mehr Fleisch als ihre „Erd-Mitbewohner“ anderer Gattungen, was ihnen einen evolutionsbiologischen Vorteil verschaffte. Dem entspricht auch die klare Aussage von Prof. Dr. Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, in der ZDF-Sendung Terra X (Mai 2018): „Die Vermehrung des Fleischkonsums führte natürlich auch, neben vielen weiteren Auswirkungen, zu einer Vergrößerung des Gehirns, zu einem ausgeprägten Hirnwachstum, was den Menschen zu ganz anderen Leistungen befähigt hat.“
Kurzum: Fleisch ist ein natürliches Grundnahrungsmittel unserer Spezies, dessen gesundheitsapostolische Verteufelung absolut absurd ist. So sehen es auch fast 90 Prozent der Teilnehmer einer Meinungsumfrage im Auftrag von Deutschlands größter Gesundheitszeitschrift: „Es ist naturbedingt und selbstverständlich, dass Menschen Fleisch essen“ (Apotheken Umschau, 2012). Nur so am Rande erwähnt: Dieses Statement gilt sicher auch für eines der natürlichsten und hochwertigsten Lebensmittel zugleich: das Ei. Und so ist es mehr als begrüßenswert, dass seit Ende 2016 in den offiziellen US-amerikanischen Ernährungsrichtlinien nicht mehr vor cholesterinhaltigen Lebensmitteln gewarnt wird. Nahrungs-Cholesterin sei unbedenklich und keine Gefahr für die Gesundheit. Eier und Co. sind „rehabilitiert“. Die Autoren begründen den „Rausschmiss“ damit, dass in der vorliegenden wissenschaftlichen Literatur kein nennenswerter Zusammenhang zwischen Cholesterin in der Nahrung und Cholesterin im Blut zu erkennen sei. Wenn das die Erklärung ist, was wird da wohl alles noch dem Cholesterin folgen und aufgrund mangelnder Evidenz aus den Leitlinien verbannt? Etwa Fleisch?
Fazit: Es gibt keine wissenschaftliche Grundlage dafür, dass weniger Fleischverzehr mehr Gesundheit bringt. Ein längeres Leben haben die fleischfreien Esser auch nicht. Manch namhafte Vorzeigestudien wie EPIC zeigen gar das Gegenteil – moderate Fleischgenießer leben am längsten.
Den ersten Teil dieses Beitrages finden Sie hier
Den zweiten Teil dieses Beitrages finden Sie hier
Auszug aus dem Buch „Dein Körpernavigator. Zum besten Essen aller Zeiten“ von Uwe Knop, 2019, Heidelberg: Polarise-Verlag, hier bestellbar.