Schon Dädalus, eine Figur der griechischen Mythologie, hatte die Idee: Für sich und seinen Sohn Ikarus konstruierte er einen Flugapparat nach dem Vorbild der Vögel und erhob sich mit ihm in die Lüfte. Dass Ikarus dabei zu Tode stürzte, lag an seinem Übermut und nicht etwa an einem Mangel des Fluggeräts. Man könnte Dädalus daher als Vater der „Bionik“ bezeichnen, einem Kunstwort aus Biologie und Technik. „Der Bionik liegt die Annahme zugrunde, dass die belebte Natur durch evolutionäre Prozesse optimierte Strukturen und Prozesse entwickelt, von denen der Mensch lernen kann“ (Wikipedia).
Der deutsche Nestor der Bionik hört passenderweise auf den Namen Nachtigall (Jahrgang 1934), ist also gewissermaßen die Callas dieses vielstimmigen Konzerts, in dem auch das Allroundgenie Leonardo da Vinci eine wichtige Rolle gespielt hat. Professor Dr. rer. nat. Werner Nachtigall hat seine faszinierende Wissenschaftsdisziplin als „Dechiffrierschlüssel für die großen Geheimnisse der Natur bezeichnet“ (Das große Buch der Bionik, mit Kurt G. Blüchel, DVA 2000, gebraucht 5,87 Euro). Ob es sich um den filigranen Flügel einer Libelle, die elastischen Fäden eines Spinnennetzes oder den erstaunlichen Cw-Wert (Strömungswiderstandskoeffizient) der Delphinhaut handelt: Überall bietet die Natur optimale Lösungen an. Manchmal bedarf es allerdings modernster Technik, um die Raffinesse zu erkennen, mit denen sie dabei zu Werke geht. Ein anschauliches Beispiel zeigen Ernst Kullmann und Horst Stern in ihrem lesenswerten Buch über „Die rätselvolle Welt der Spinnen“ („Leben am seidenen Faden“, 1981, heute gebraucht für 4,90 Euro zu haben): Nach einer schwachen Vergrößerung eines Spinnennetzes verlaufen dessen Radialfäden zum Ende hin paarig und heften anscheinend punktförmig an den Rahmenfaden an. Als Kullmann das Bild im Kreis der Biotechniker um den Stuttgarter Architekten Frei Otto (Institut für leichte Tragflächenwerke, entwickelte zusammen mit Günter Behnisch das Münchener Olympiastadion 1967–1972) diskutierte, erklärte Otto, eine punktförmige Anheftung könne es nicht geben, weil sie die an ihr zerrenden Kräfte nicht aufzunehmen vermöge. Missachtet die Natur hier etwa ihre eigenen Gesetze, fragt der Arachnologe (und von 1975–1981 Direktor des Kölner Zoos). Mitnichten! Eine 175-fache Vergrößerung zeigt: Es gibt tatsächlich keine punktförmige Anheftung der Radialfäden am Rahmenfaden. Zwischen den beiden paarig am Rahmenfaden anheftenden Radialfäden legt Cyrtophora (Zeltnetz-Spinne) vielmehr aus einer anderen Spinndrüse ein zähes Gewirr feinster Fäden, das mich entfernt an ein Flussdelta erinnert.
Diese und eine schier unübersehbare Fülle weiterer „Erfindungen“ harren noch der Nutzung durch den Menschen, was Nachtigall zu einem Schluss kommen lässt, der besonders in der aktuellen Klima- und Umweltdiskussion eine Rolle spielen könnte: „Auf der Suche nach ökonomischen Vorbildern und technologischen Spitzenleistungen neigen mittlerweile immer mehr Informatiker und Ingenieure, Physiker, Biologen und Ökonomen zu der Auffassung, dass die Palette der biologischen Konstruktionsprinzipien und Verfahrensweisen die vernünftigste und vermutlich auch sicherste Grundlage für das Überleben auch unserer Spezies bietet.“ Hier könnten Greta, Luisa und all die anderen FFF-Aktivisten fündig werden, wenn ihr Slogan „Follow the science“ nicht nur leeres Gerede bleiben soll.
Auffallend ist allerdings, dass sich die Forschung auf „Konstruktionsprinzipien und Verfahrensweisen“ konzentriert, während „Verhaltensweisen“ außer Acht gelassen werden. Hier bietet uns der persische Dichter Scheich Saadi in seinem „Rosengarten“ (Golestan, 1259) ein anschauliches Beispiel, indem er ausgerechnet das Kamel als Vorbild für den Menschen hinstellt.
„Wie man weiß, geht die Sanftheit des Kamels so weit, dass es sich selbst von einem kleinen Kind zügeln lässt – wohin und wie lange auch immer. Mit einer Ausnahme freilich: Nähert sich nämlich das Kind in seiner Unwissenheit und Unerfahrenheit einer Gefahr, einem Abgrund etwa, der dem Tier und ihm selbst den Tod brächte, so verweigert das Kamel den Gehorsam, bleibt stehen, und nichts kann es dazu bringen, den Weg fortzusetzen.
Das Kamel gibt damit uns Menschen ein gutes Vorbild: Man soll wissen, wo man mild und nachgiebig sein darf, und wo stattdessen Härte und Widerstand geboten sind. Es heißt ja nicht umsonst: Weichheit macht den Feind nicht zum Freund, sondern lässt nur seine Gier und Anmaßung im Übermaß wachsen.“
Wenn man die Politik der Bundeskanzlerin betrachtet, können einen allerdings Zweifel befallen, ob ihr die chinesische Weisheit geläufig ist, wonach man eine Schlucht nicht in zwei Sprüngen überwindet. Ihr Credo erinnert mich eher an den bekannten Satz: „Gestern standen wir noch vor dem Abgrund – heute sind wir schon einen Schritt weiter.“ Es muss ja nicht unbedingt ein Pferd sein, das sie (nach dem Muster des römischen Kaisers Caligula, 12 bis 41 n. Chr.) zum Konsul macht – ein Kamel würde schon genügen.
Den Grund, warum allerdings kein Anlass besteht, auf Verhaltensänderungen zu hoffen, soll ausgerechnet Karl Marx erkannt haben: „Alle Revolutionen haben bisher nur eines bewiesen, nämlich, dass sich vieles ändern lässt, bloß nicht die Menschen.“ Dagegen ist folgende Situationsbeschreibung des Ameisenforschers Edward O. Wilson auf jeden Fall authentisch: „Der Mensch hat steinzeitliche Gefühle, mittelalterliche Institutionen und eine gottgleiche Technik” (Die soziale Eroberung der Erde. Eine biologische Geschichte des Menschen, C.H. Beck 2014, 2. Aufl. 2016, S. 15).