Stephan Kloss, Gastautor / 12.04.2023 / 06:00 / Foto: Imago / 112 / Seite ausdrucken

Vor den Taliban kapitulieren und Putin besiegen?

Nach 20 Jahren ausländischer Präsenz in Afghanistan, hunderten von Milliarden Steuergeldern für Militärmissionen und Demokratie-Aufbau hatte die westliche Wertegemeinschaft das „Kunststück“ fertiggebracht, erneut die Taliban an die Macht zu bringen. Eine von westlichen Militärberatern trainierte und mit westlichen Steuermilliarden hochgerüstete afghanische Armee brach 2021 wie ein Kartenhaus zusammen. Nach der Kapitulation vor den Taliban will der Westen, vor der eigenen Haustür, der Ukraine helfen, die Atommacht Russland zu besiegen. Wissen die westlichen Chef-Strategen jetzt wenigstens, was sie falsch gemacht haben?

Am 29. Juni 2021, abends, verließen die letzten deutschen Soldaten Afghanistan. Als sie am nächsten Tag im niedersächsischen Fliegerhorst Wunstorf landeten, gab es keinen Empfang mit Pauken und Trompeten.

Ohnehin gab es nichts zu feiern. Jahrelang hatten Deutschland und seine Verbündeten vergeblich versucht, Demokratie und Wohlstand in Afghanistan zu errichten. Oder anders gesagt: dem Land überzustülpen.

Plötzlich aus allen Wolken gefallen

Kurze Zeit danach, im August 2021, übernahmen die Taliban erneut die Macht in Afghanistan. Die Blase, in der zahlreiche westliche Politiker lebten, zerplatzte. „Plötzlich“ stellte sich heraus, dass große Teile von afghanischer Regierung und Verwaltung korrupt waren, dass die Milliarden verschwendet wurden, dass jährlich viele Zivilisten während der Kämpfe zwischen westlichen Truppen und Taliban umgekommen waren, dass das Land während westlicher Präsenz zum weltweit führenden Opium-Produzenten aufgestiegen war, die weltweit höchste Kindersterblichkeit aufwies und die vom Westen bezahlte und trainierte 195.000-Mann starke afghanische Armee kartenhausmäßig zusammengebrochen war. Die Alarmzeichen klingelten seit Jahren. Das Auswärtige Amt veröffentlichte sogar noch bis 2014 sogenannte „Fortschrittsberichte“.

Kein Witz. Realitätsfern heißt es darin u.a.: „Afghanistan hat in den letzten Monaten wichtige Schritte in seiner demokratischen Entwicklung vollzogen … Trotz aller Schwierigkeiten und des Bemühens der regierungsfeindlichen Kräfte (gemeint sind die Taliban, Anm. d. Autors), die Wahl zu verhindern, gibt es heute in Afghanistan ein in Teilen durchaus funktionierendes Gemeinwesen, an dessen Zukunft seine Bürger glauben und das von seinen Sicherheitskräften wirksam verteidigt wird …“ (Seite 4)

Weitere sogenannte Fortschrittsberichte sind hier nachlesebar. 2018 hieß es irreführenderweise „Perspektivbericht“, 2021 nur noch „Bericht zur Unterstützung der Bundesregierung zur deutschen Unterstützung des Friedensprozesses in Afghanistan“, da war das Kind längst in den Brunnen gefallen.

Sieht der Ausschuss, was das Auswärtige Amt nicht sah?

Ein Jahr nach dem Fall von Kabul begann ein vom Bundestag eingesetzter, SPD-geführter Ausschuss mit der Klärung, wie es zu dem Debakel kommen konnte, welches das SPD-geführte Auswärtige Amt offenbar nicht kommen sah. Dazu waren am 2. März 2023 zwei US-Vertreter von SIGAR eingeladen. SIGAR beobachtete seit 2008 als unabhängige Aufsichtsbehörde im Auftrag der US-Regierung den Wiederaufbau in Afghanistan. Dabei scheute sich SIGAR nie, die eigene Regierung heftig zu kritisieren und Steuerverschwendung sowie Korruption aufzudecken. Dass sich der Bundestags-Untersuchungsausschuss ausländische Hilfe holen muss, um zu verstehen, was in Afghanistan in 20 Jahren schiefgelaufen ist, lässt tief blicken. Aber immerhin.

Am 28. Februar 2023 hatte SIGAR einen umfassenden 148-seitigen Untersuchungsbericht zum Zusammenbruch der afghanischen Sicherheitskräfte veröffentlicht, für deren Aufbau Washington laut SIGAR 90 Milliarden Dollar gezahlt hatte. Akribisch wird aufgearbeitet, welche Faktoren zum Kollaps führten. Deutlich wird: Der Zusammenbruch der afghanischen Armee begann schon vor Jahren. Hochrangige amerikanische und afghanische Militärs kritisieren im SIGAR-Bericht die zunehmende politische Konzeptlosigkeit in Washington als eine Ursache neben systemischer Korruption in der afghanischen Armee sowie Analphabetismus der Rekruten, die teilweise nicht in der Lage waren, Gefechtsanweisungen oder Geschützmanuale zu lesen. Seit 2008 veröffentlichte SIGAR 58 ausführliche Quartalsberichte.

Wahrscheinlich hätte das Auswärtige Amt lieber SIGAR-Berichte lesen sollen, als regelmäßig Jubel-Fortschrittsberichte zu veröffentlichen. Mit Blick auf den Ukrainekonflikt heißt es fast schon prophetisch – rückblickend auf das US-Engagement in Afghanistan – in der SIGAR-Präsentation vor dem deutschen Untersuchungs-Ausschuss u.a.:

„Nach 20 Jahren und 146 Milliarden US-Dollar, die ausgegeben wurden, um zu versuchen, Afghanistan aufzubauen, was größtenteils misslang, wäre es tragisch, wenn diese, auf harte Weise erlernten Lektionen, noch einmal gelernt werden müssten in der Ukraine“. (Seite 2)

Im Original: „After spending 20 years and $146 billion trying and mostly failing to rebuild Afghanistan, it would be tragic to learn these lessons the hard way, again, in Ukraine“.

Die Unterschätzung des Gegners ist gefährlich

Mehrere Konfliktmerkmale trugen – aus meiner Sicht – zum Kollaps am Hindukusch bei:

- Ausschluss des Gegners von Verhandlungen (die Taliban waren vom Petersberger Abkommen ausgeschlossen)

- Abwertung/Entwertung und Unterschätzung des Gegners und damit Tendenz zur Verzerrung der eigenen Kognition bei der Beurteilung des Gegners (z.B. „Die Taliban leben wie Wilde in den Bergen. Die haben nur Kalaschnikows, was können die schon ausrichten. Die haben keine Chance gegen unsere Demokratie und unsere modernen Waffen.“)

- Aufrechterhaltung von falschen Zuschreibungen (fundamentaler Attributionsfehler) Beispielsweise wenn man die Taliban auf folgende Aussagen reduziert: „Diese bärtigen Taliban sind rückständig und radikalislamisch, deshalb sie sind auch böse und demokratiefeindlich. Deshalb müssen sie bekämpft werden, deshalb reden wir mit denen nicht.“ Auch wenn sie in der Tat rückständig, radikalislamisch, böse und demokratiefeindlich sind, so darf man einen Gegner, mit dem man im Kampf steht, niemals darauf reduzieren, sondern muss vor allem dessen Macht und jede seiner Stärken kennen, um gegen ihn bestehen zu können.

- Deshalb ist es auch ebenso kontraproduktiv, den Gegner einfach nur als Projektionsfläche für eigene Niederlagen zu benutzen (z.B.: „In Afghanistan läuft der Demokratie-Aufbau schief, daran sind die Taliban schuld. Wir geben uns große Mühe, aber die machen alles kaputt.“)

Der Kollaps der afghanischen Sicherheitskräfte hat multifaktorielle Ursachen. Eine ist, dass das westliche Militär mit seiner Kriegslogik und mit seinen Missionen ISAF (2001 bis 2014) sowie Resolute Support (2015 bis 2021) erst sehr spät erkannte, dass man einen Abnutzungskonflikt gegen Aufständische, die in der Region gut verwurzelt sind, nicht gewinnen kann, auch wenn man sie ständig verteufelt. Das Ende kennt jeder. In Doha besiegelten Taliban und Washington den Abzug des ausländischen Militärs. Die westliche Gemeinschaft war auch an ihrer verzerrten Wahrnehmung der afghanischen Wirklichkeit gescheitert.

Droht die afghanische Sackgasse in der Ukraine?

Auf den ersten Blick scheint es kaum Gemeinsamkeiten zwischen den Kriegen in Afghanistan und in der Ukraine zu geben. Mit wem will man die Taliban vergleichen? Und die Verbündeten des Westens haben eine reguläre Armee mit ausgebildeten Militärs, da operieren eher keine Truppen mit kämpfenden Analphabeten. Auch die Ausgangslage des Krieges ist vollkommen verschieden. Es sind auch keine westlichen Truppen involviert. Aber dennoch droht der Westen ein paar ähnliche Fehler zu machen wie schon in Afghanistan. 

Die russische Invasion in der Ukraine ist unbestritten völkerrechtswidrig. Dem Angegriffenen beizustehen, ist also selbstverständlich legitim. Doch wie soll man umgehen mit diesem Gegner, einer Atommacht? Zum Beginn des Krieges hatten viele Regierende im Westen anscheinend ebenso mit einem schnellen militärischen Sieg Russlands gerechnet wie der Herrscher im Kreml. Seit seine Offensive ins Stocken geraten ist, wird Russland abgewertet, u.a. mit Attributionsfehlern, verpackt in medial verbreiteten Botschaften. Wie z.B. "Putin ist nun nicht nur böse, ein Demokratiefeind und ein Diktator. Jetzt verdienen Russlands Interessen keine Rücksicht mehr, Russland darf nicht nur nicht gewinnen, sondern muss diesen Krieg verlieren." Wie Russland diesen Krieg verlieren soll, wie Russland besiegt werden kann, sagt niemand. Die kurzzeitige Überschätzung des Gegners wurde durch eine Haltung ersetzt, die ihn nicht nur geringschätzt, sondern auch unterschätzt.

Der Westen rüstet eine Kriegspartei auf und hofft darauf, dass die andere Kriegspartei irgendwann nicht mehr mithalten kann oder es ihr zu teuer wird. Es drängt sich der schreckliche Verdacht auf, dass die westliche Staatengemeinschaft aus dem Afghanistan-Fiasko nicht gelernt hat, dass der Gegner nach ganz anderen Maßstäben entscheidet und handelt. Diese sollte man aber kennen und verstehen. 

 

Stephan Kloss ist freier Journalist. Er bereiste seit 1997 regelmäßig Afghanistan, lebt bei Leipzig und studiert Psychologie.

Foto: Imago

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Leserpost

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STeve Acker / 12.04.2023

Zu dem Argument , die Ukrainer entscheiden selber wie weit sie gehen wollen, und wie lang sie weiterkämpfen wollen. Wer ist die Ukrainer ? Die Bevölkerung oder Selensky und co ? Ich erlebe jedenfalls einige junge Männer die hier in Deutschland sind, und auch tunlichst hier bleiben. Ich kann sie sehr gut verstehen. Es gab ja Meldungen zb. auf Welt.de dass Selensky die Soldaten ausgehen und zu drakonischen Zwangsrekrutierungsmaßnahmen gegriffen wird. Es gab eine Umfrage wonach 90% der Ukrainer auch weiterkämpfen wollen wenn die Russen Atomwaffen einsetzen würden. Wie diese Umfrage wohl gemacht wurde. Die corona-Zeit hat mir einmal mehr gezeigt :Trau keiner Umfrage die Du nicht selbst gefälscht hast. In Anlehnung an das Zitat dass Churchill zugeschrieben wird.

Wolfgang Richter / 12.04.2023

@ Giesemann Gerhard Z Lutz L. - “Egal, die Ukrainer werden schon besser wissen, wie sie sich fühlen, oder?” Aber das trifft auch auf die Urkainer zu, die seit 2014 nach dem US finanzierten und organisierten Maidan-Putsch versucht haben, ihr Recht auf Selbstbestimmung zu leben und dafür in den Städten und Dörfern seit 8 Jahren nahezu ständig mit Granaten ihrer “Brüder” beharkt wurden, die zusätzlich vom Westen mit der “Minsk2-Vertrags-Lüge” auch noch derbe verar…. wurden, weil dieses Machwerk nur dazu diente, den jetzt stattfindenden Krieg vorzubereiten. Ist halt auch eine Seite der Wahrheit, die hierzulande nur zu gern ignoriert wird, zumal eine der Vertragsbetrügerinnen demnächst aus den Händen des von ihr inthronisierten Bundespräses eine Medaille am Bande für irgendwelche behaupteten Verdienste um das “Land” umgehängt bekommt. Die Ukrainer als solche auf beiden Seiten sind Spielball der politischen Kräfte und werden derzeit genauso geopfert, wie die Polen 1939 ab 1. September. Aber Geschichte wiederholt sich ja angeblich nicht, und wer sich verweigert, sie zur Kenntnis zu nehmen, kann noch nicht mal draus lernen.

Wolfgang Richter / 12.04.2023

Da auch vom Auswärtigen Amt die Rede ist, eine kleine Abschweifung bezüglich der neu ausgerufenen “feministischen Außenpolitik” seitens der Besetzerin. Da gibt es gerade einen Zwist mit dem Tschad, weil der deutsche Botschafter dort sich “ungehörig” in die Inneren Angelegenheiten des Landes eingemischt haben soll und deshalb abreisen darf. Als deutsche Reaktion folgt die “Ausweisung” der BotschafterIN. Wenn das nicht feministisch ist. Die besten Geschichten schreibt das Leben, je besser, desto unfähiger die Protagonisten.

Wolfgang Richter / 12.04.2023

“Eine von westlichen Militärberatern trainierte und mit westlichen Steuermilliarden hochgerüstete afghanische Armee brach 2021 wie ein Kartenhaus zusammen.” Dafür gibt es jetzt dort eine Untergrundtruppe des “IS”. Erinnert mich irgendwie an den Werdegang in Syrien, wo der “Westen” , vorneweg die Amis, die angebliche “Farbenrevolution” unterstützten, irgendwelche obskuren Gruppen in der Türkei ausbildeten und mit Waffen bestückt gen Syrien zurück schickten, wo selbige sich sodann als “Al Kaida” und “IS” anschickten, den Umsturz zu erkämpfen, Kern des “IS” die aus den Funktionen entlassenen Sunniten des in westliche Ungnade gefallenen Ex-Freundes Saddam Hussein. Wer Parallelen erkennt, ist sicher nur rein zufällig. Und die Beschreibung der Folgen des völkerrechtswidrigen Zerbombens Libyens -auch und gerade für Europa-durch eine westliche Allianz unter Führung des Friedensnobelpreisträgers Obama und des Wahlkampfspenden - Empfängers Sarkozy erspare ich mir.

giesemann gerhard / 12.04.2023

@Lutz L.: Nein, finde ich nicht. Egal, die Ukrainer werden schon besser wissen, wie sie sich fühlen, oder?

Ludwig Luhmann / 12.04.2023

@STeve Acker / 12.04.2023 - “(...) Die Ukraine kann diesen Krieg nicht gewinnen, Es sollten endlich Verhandlungen beginnen, um noch weiteres Leid zu vermeiden.”—- Es geht den einzelnen Ukrainern auch um ihr Land, um ihre Würde, um ihre Ehre, um ihr Eigentum, um ihr Leben, um ihren Willen, um ihre FREIHEIT! Die Ukrainer haben das Recht, die tödlichen Invasoren zu töten, wann immer sie es für richtig oder notwendig halten.  - Anhänger von Marxismusvarianten können den individuellen Approach natürlich nicht verstehen.

giesemann gerhard / 12.04.2023

@Marc M.: Ja ich weiß, ich bin anstrengend. Take it easy. Sie müssen schon selber nachdenken. Und ja, ich wünsche mir ein besseres Russland, ohne sein perverses Militär. Schön, wenn wenigstens das angekommen ist. NS2? Na, vielleicht wissen Sie da mehr als ich ... . Bei den gigantischen H-Bomben fühle ich mich ganz gut in Übereinstimmung mit Edward Teller; gut, der war eine Physikersau und ich bin eine Chemikersau - aber wir haben was gemeinsam: Absolute Misanthropie. So viel Arroganz muss sein. Unglaublich, was ich mir anhören muss.

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