Antje Sievers / 22.12.2019 / 15:00 / Foto: wikimedia / 10 / Seite ausdrucken

Von Weihnachtsbäumen und Kettensägen

Im Jahr 1910 wurde in Hamburg-Wandsbek eine Gartenstadt-Gesellschaft gegründet, deren erklärtes Ziel es war, „minderbemittelten Familien oder Personen gesunde und zweckmäßige Wohnungen“ mit Garten zu bezahlbaren Preisen zu verschaffen. Die Bautätigkeit der Gartenstadt-Gesellschaft wurde erst mit dem II. Weltkrieg beendet. 1929 wurde das Häuschen meiner Großmutter fertig gestellt, 1932 mein Vater geboren. Als er es von seiner Mutter erbte und mit Frau und drei Kindern dort einzog, schrieb man das Jahr 1969. In Berlin tobten die Studentenunruhen, der erste Mensch landete auf dem Mond, und Rudi Dutschke war die Rampensau der APO.

Als wir 1974 wieder auszogen, wäre „minderbemittelt“ noch ein viel zu gutes Wort für unsere Finanzen gewesen. Mein Vater, hauptberuflich Fliesenleger- und Maurermeister und nebenbei Psychopath und Kettensägen-Irrer, hatte seinen florierenden Handwerksbetrieb in den Sand gesetzt, weil er der festen Überzeugung war, Buchführung sei nur etwas für Kapitalistenschweine. Mit einem fatalistischen „Nun ist eh schon alles egal!“ betrieb er darüber hinaus als ehemaliger Sportruderer noch einen schwunghaften Handel mit sündhaft teuren englischen Rennruderbooten. Einmal verkaufte er sogar eines an Pete Townshend, den Gitarristen von „The Who“. Was mir in der Schule natürlich niemand glauben wollte. Die Prophetin gilt nichts im eigenen Vaterlande.

Das mitgeerbte Inventar unseres Hauses war ebenfalls aus den Zwanzigern – vieles auch um etliches älter. Die Zinkgussbadewanne stand auf vier Löwenfüßen, der Herd in der Küche war die einzige Wärmequelle des Hauses, und telefoniert wurde mit einem Apparat aus Bakelit, der heute bei manufactum rund 250 Euro kostet und gefühlte zehn Kilo wiegt. Als er einmal vom Telefontisch auf den Pitch-Pine-Boden krachte, wackelte das ganze Haus und neigte sich leicht nach Südosten. Da die sogenannte „Nostalgiewelle“ erst in den Siebzigern anrollte, hatte man in den Sechzigern noch nicht die geringsten Hemmungen, alten Plunder einfach wegzuschmeißen. „Entsorgt“ hat sowieso noch keiner was. Art-Déco-Teeservice, Jugendstil-Kommoden, unersetzliche Zeitdokumente wie die Feldpost meines Großvaters aus dem Kessel von Stalingrad, alte Puppen aus Zelluloid, Mode aus Jahrzehnten: Hau weg, die Scheiße!

Und eines Morgens erschien mein Vater ohne jede Warnung mit der Kettensäge vor dem Haus wie der schlimmste Alptraum und legte die entzückende, himmelblaue Gartenpforte um. Als nächstes musste die schöne, hohe Hecke dran glauben. Dann sämtliche Obstbäume hinter dem Haus, die einst dazu dienten, der Kriegerwitwe mit drei hungrigen Mäulern im Schlepptau das Leben ein klein wenig leichter zu machen. Alles brachte mein Vater mit wahrer Wonne um. Muss irgendwas Ödipales gewesen sein. Als er die Kettensäge weglegte, sah unser Grundstück aus, als wäre der Feuersturm über Hamburg erst jetzt darüber hinweggefegt.

Vom Esszimmer aus auf den Schuttberg steigen

Mein Vater hatte große Pläne für eine Grundstücksgestaltung: Zunächst mauerte er einen tadellosen Ascheimerbehälter (in den wirklich noch Asche gefüllt wurde!) aus bestem Klinkerstein mit Schwingtür. Er war wirklich ein hervorragender Handwerker, dazu hochgebildet. Er brachte sich selbst fließend Englisch bei und las in seiner Freizeit wie ein Süchtiger Mann, Grass und Dostojewski. Sein Problem war allerdings, dass er selten etwas zu Ende baute. Also legte er an der Stelle, wo einstmals ein hübscher kleiner Vorgarten war, einen kleinen Bauschutthaufen an und versicherte hoch und heilig, er werde ihn spätestens nächste Woche abfahren. Als wir das Haus unter Zuhilfenahme des Bettelstabs sechs Jahre später verließen, konnten wir bequem vom Esszimmer aus auf den Schuttberg steigen.

Und dennoch erinnere ich mich an einige schöne Weihnachtsfeste, die wir dort verlebten, als die Gerichtsvollzieher sich noch nicht die Klinke bei uns in die Hand gaben, als es noch Gänsebraten mit Grünkohl gab, Berge von Spielzeug unterm Weihnachtsbaum lagen und meine Mutter sogar eine Perlenkette mit Brilliantverschluss von meinem Vater bekam!

Und ja, es stimmt wirklich: Früher war mehr Lametta. Wir hatten stets einen echten Baum, mit echten Kerzen und am liebsten noch mit reichlich Wunderkerzen. Elektrolichter waren etwas für Weicheier, die Feuerversicherungsprämien rechtzeitig bezahlten und keinen Mut zum Risiko hatten. Und dazu alter Glitzerschmuck in schiefen Pappschachteln, Lauscha, echt Art-Déco, Kugeln, Zapfen und Glöckchen. Ich öffnete stets den Deckel wie Ali Baba den Sesam-öffne-dich: Hach, dieser Duft von Wachs und Tannengrün! Und natürlich jede Menge Lametta, oh geliebte hauchdünn gewalzte, hochgradig giftige und umweltschädliche Zink-Blei-Legierung; dann noch aus zweifarbigem Goldpapier geklebte und gefaltete Sterne, Ketten, Hexentreppen, ein Glitzerstern unter der Lampe und in jedem Fenster. Nur eine Familie im weiten Bekanntenkreis überraschte mit vornehmem Understatement: Eine Edel-Blautanne mit irisierenden, durchsichtigen Glaskugeln, weißen Kerzen in silbernen Haltern, einer königlich-preußischen Pickelhaubenspitze und, natürlich, Lametta. Der Baum hatte etwas Unwirkliches, Feenhaftes, und stets berührte ich ganz, ganz vorsichtig die zarten Kugeln, in der Erwartung, dass sie platzen würden wie Seifenblasen. 

Irgendwas einfaches wie Kartoffelsalat und Würstchen

Natürlich gab es nicht immer weiße Weihnacht. Wer sowas behauptet, der lügt. Aber ich erinnere mich, dass es an einem Heiligabend nachmittags anfing zu schneien wie im Bilderbuch: große, weiße Flocken. Als ich vor einiger Zeit „zwischen den Jahren“ Bekannte mit Eigenheim und Kindern besuchte, wurden meine Vorstellungen von den ewig gültigen Gesetzen einer glücklichen Kindheit nachhaltig erschüttert. Es hatte an jenem Tag Berge von Schnee gegeben. Aber auf dem weitläufigen Grundstück war kein Kinderfußstapfen, kein Schlitten, kein Iglu, kein Garnichts. Die Kinder hockten den ganzen Tag vor der Spielkonsole und würdigten die weiße Pracht keines Blickes. Wie traurig. Denn die ultimative Krönung von Weihnachtsferien und Weihnachtsfreuden, so dachte ich immer, sei es, wenn es obendrein noch Schnee gab. Das war wohl einmal.

Die meisten Familien schmissen sich Weihnachten in Schale, es gab Heiligabend irgendwas einfaches wie Kartoffelsalat und Würstchen und am ersten Weihnachtstag wurde wahlweise Gans, Ente oder Pute serviert, eventuell auch Sauerbraten mit Backobst nach Holsteiner Art. Fondue und Raclette kamen erst später auf. Am zweiten Weihnachtstag, den mein Vater immer „Enkel Empfängnis“ nannte, wurde bei Oma und Opa mütterlicherseits nochmal Ente oder Schmorbraten mit Unmengen von Beilagen geschlemmt. Silvester gab es unweigerlich Karpfen polnisch, mit Rotwein-Lebkuchensoße, vom Herrn des Hauses extrem unsensibel und unsentimental persönlich im Badezimmer gemetzelt. Damals war Weihnachten definitiv bunt und metallicfarben, verschwenderisch und laut, umweltschädlich, alkoholisiert und dekadent. Es wurde exzessiv das Weihnachtsfernsehprogramm genossen: Die Schatzinsel, Pippi Langstrumpf, Der Schatz im Silbersee, soviel Unterhaltsames für Kinder gab es das ganze Jahr nicht! Gab es nicht mindestens einen verdorbenen Magen und zwei Gallenkoliken und lag Herr Bohne, unser Briefträger, am Morgen des 24. nicht irgendwo hackedicht im Straßengraben, dann war irgendwas schiefgelaufen.

Glaubt man Frauenzeitschriften, dann ist die ultimative Weihnachtsfarbe heutzutage seit vielen Jahren weiß, aufgerüscht durch schwarz mit ein bisschen Tannengrün und stumpfbraunen Erlenfrüchten. Laaaaaangweilig! 

Da lobe ich mir Norditalien, meine zweite Heimat: Stahlblaue Rentiergespanne. Rote Sternschnuppen. Durch Lauflichteffekte simulierte Schneefälle. Multicolor-Blinkgirlanden, die nach einigen Stunden migränine Neuralgien und epileptische Anfälle auslösen können. Jede Dorfstraße ist von glitzernden Sternendekos und den Wünschen „Auguri!“ und „Buone Feste“ erhellt. Zwei Stunden Fahrt durch die Lombardei im Dunkeln fühlen sich an wie eine psychedelische Reise durch einen Adventskalender. In einer italienischen Frauenzeitschrift käme auch niemand auf die Idee, ein veganes Feiertagsmenü mit Tofu, Süßkartoffeln und Blini anzusetzen. Stattdessen werden sieben köstliche Arten von Lasagne angepriesen und als Dessert gibt es selbstverständlich Panettone. Und gut ist. Zum Glück halten auch die Deutschen auf ihre traditionellen Raclettes, Fondues und gemästeten Gänse. Gelobt sei, was Fett macht. Familie Hoppenstedt wünscht frohe Feiertage!

In der Achgut-Edition ist von Antje Sievers erschienen: Tanz im Orient-Express – Eine feministische Islamkritik. Hier bestellbar.

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Andreas Rühl / 22.12.2019

Warum schreiben die zwischen den Jahren in anfuehrungsstrichen? Der Jahreswechsel war lange Zeit der 25.12. Daher karl der große sich zum Jahreswechsel 800, in Wahrheit am 25.12.799 kroenen liess. Es gab 2 Jahreswechsel. Daher zwischen den Jahren.

Karl Mallinger / 22.12.2019

Schon allein der BEGRIFF “Islamkritik” ist doch schon mehr als bescheuert. Man spricht doch auch nicht von “Christentumskritik”, “Kommunismuskritik”, “Scientologykritik” oder “Zeugen-Jehovas-Kritik”. Warum also “Islamkritik”? Was ist bei Kritik am Islam so anders als bei Kritik am Christentum, am Kommunismus, an der Scientology-Church oder an den Zeugen Jehovas etc. pp., dass man dafür angeblich einen eigenen Begriff “Islamkritik” braucht?

Cornelia Buchta / 22.12.2019

Das ist echt lustig! Gerade vorhin habe ich meinem Mann in nostalgischer Stimmung von unserem Christbaumschmuck der 80ger Jahre erzählt: er bestand ebenfalls aus selbstgebastelten Sternen und Ketten (die liebte ich besonders) aus zweifarbigem Glanzpapier. Wir hatten neben den silbrigen Clips auch Kerzenhalter, die man an langen Stielen in den Stamm einschrauben musste und zwischen den Sternen hingen glänzende Schokotannenzapfen oder Päckchen aus vier verschiedenfarbig eingepackten Schokotäfelchen (rot, gold, grün + blau). Die durften bis zum Abbau des Baumes nach und nach “abgegessen” werden. Die Täfelchen waren mein absoluter Favorit, weil man 4x was auspacken konnte. Lametta hatten wir auch. Ich habe mich immer gewundert, warum unser Lametta so schwer wog. Das hatte eine ganz andere Konsistenz als das vermutlich weniger toxische heutzutage. Die geschnitze Krippe aus dem Erzgebirge war in einer bunten Schachtel sorgfältig verstaut: jedes Figürchen in ein feines Seidenpapier eingeschlagen. Ich werde diese Krippe morgen zusammen mit meiner Mutter erneut auspacken und mit Vergnügen unter dem Baum arrangieren. - Danke für Ihren Beitrag, der Anlass zu diesen sentimentalen Rückblick gab!

Gertraude Wenz / 22.12.2019

Oh Frau Sievers, was für ein fulminanter Artikel! Am Anfang wusste ich nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Sie haben ihn, diesen tieftraurigen, urkomischen Humor, der einen alles ertragen lässt und das schlimmste Elend noch mit Glanz überzieht! Chapeau!

A. Ostrovsky / 22.12.2019

Ich kann da nicht mitreden, ich habe kein Kettensägentrauma und kein Problem mit meinem Vater gehabt. Und dass sich modernste Prozessortechnologie bei den Italienern nicht in Produktivität wandelt, sondern in blinkenden Schnickschnack, finde ich auch nicht nachahmenswert. Früher war einfach mehr Lametta und echte Kerzen, nicht Chinaschrott. Daher habe ich diese dröge und langweilige Sicht auf die Welt. Bei uns gab es auch auf den Weihnachtsmärkten noch Weihnachtliches. Was habe ich für ein langweiliges Leben. Aber ich begreife jetzt, dass die jungen Klimahüpfer mit ihrer Kampfansage an die Alten gar kein neues Problem sind. Sie sind heute nur lauter. Ich warte auch auf den Osterbericht, wo angetrunkene Osterhasen im batteriebetriebenen Maserati die Gartenpforte umfahren und dann über den Schuttberg die Marzipanostereier ins Fenster werfen. Bin schon ganz gespannt.

Ilona Grimm / 22.12.2019

Hallo Frau Sievers, Ihre weihnachtliche Reminiszenz treibt mir Tränen in die Augen, Lachentränen, gemischt mit etwas Nostalgie. Die elektrische Baumbeleuchtung für Weicheier hat bei mir eine Erinnerung ausgelöst: Auch in meiner Familie gab es zu Weihnachten echte Bäume (von Papa unter Begleitung der Kinder selber gefällt) mit echten Kerzen, den geliebten Wunderkerzen (gefährlich!!) und, natürlich, Lametta. So lange, bis eines nicht ganz so schönen Weihnachtstages in den späten Fünfzigern zuerst ein Zweig und dann ein Fenstervorhang Feuer fing. Da meine Mama eine weitsichtige Person war (und immer noch ist), stand ein gefüllter Wassereimer verschämt hinter dem Vorhang, und mein Vater konnte den entstehenden Brand schnell löschen, so dass nichts Schlimmeres passiert ist. Aber das war das Ende der echten Kerzen; Wunderkerzen gab’s natürlich auch keine mehr. Und ich bin seitdem schwer traumatisiert. Nie wieder habe ich an etwas Brennbarem eine Kerze befestigt. Bei mir gibt’s nur Teelichte in absolut kipp- und feuersicheren Keramik- oder Glasbehältern. Am Baum tun inzwischen LED-Ketten ihren Dienst. Ist trotzdem alles schön und stimmungsvoll. Frohe Weihnachten, Frau Sievers, und ein mutmachendes Jahr 2020. Dasselbe wünsche ich der gesamten Achse-Gemeinde – Autoren, Foristen und Nur-Lesern. Ihnen Frau Sievers, wünsche ich auch guten Erfolg für Ihren historischen Roman!

Wolfgang Kaufmann / 22.12.2019

„kein Kinderfußstapfen“ — Wir sind damals noch selber auf Bäume gestiegen. Unsere Kinder sharen und liken Videos von den paar verwegenen Helden, die sich an die Tree Challenge trauen. Und unsere Enkel halten es für eine Verschwörungstheorie, dass man überhaupt auf Bäume klettern könne. – Welche Regression kommt als nächstes? Zurück in den Mutterschoß? Blaue Blume und zurück in die Grimmsche Märchenwelt? Blaue Pille und ab in die Matrix? Wir hätten den Ozean nie verlassen dürfen…

Gerd Heinzelmann / 22.12.2019

Meine Güte, ich fühle mich gleich 100 Jahre jünger. Frohes Fest und viel Zauber!

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