Wir befinden uns in der Dauerschleife einer permanenten Nabelschau, die um nur ein Thema kreist: das verflixte Virus und die deutsche Angst. So kam es, dass das Momentum der Pandemie etwas hervorbrachte, das dem deutschen Wesen seit eh und je innewohnt: den autoritären Obrigkeitsstaat als Spiegel einer sich selbst nicht gewissen Demokratie.
Aufs Neue erhebt sich dieser Obrigkeitsstaat in glattem Chrom-Glanz aus dem Säurebad seiner ureigenen deutschen Selbstherrlichkeit. Ein Déjà-vu und Treppenwitz der Geschichte, dessen verpasste Pointe ein Paradox bildet: das Mittelmaß der Eliten, erkenntlich am Kommandoton und Mitläufertum, an verbohrter Absolutheit und spießiger Feigheit vor dem Diskurs, aber auch am obsessiven Bekenntniszwang und der maliziösen Lust des Denunzianten.
Wie aus Opas politischer Waffenkiste
Eine blamabel uninspirierte Oberschicht aus Parteisoldaten, Apparatschiks und infantilen Aktivisten gibt heute den Ton an in Deutschland, ohne Wagemut und Ideen, aber voller Herablassung und Unbehagen über die „Eigenwilligkeiten“ der Untertanen, die sich berechtigte Sorgen um ihre Zukunft machen und im Angesicht wirtschaftlich brutaler Fehlentscheidungen ihr kleines Unternehmen, den Laden, die Gastwirtschaft oder das freie Theater im Lockdown den Bach runtergehen sehen. Der von der Politik selbst ins Spiel gebrachte Begriff der „Systemrelevanz“ legte Hand an den Zusammenhalt der demokratischen Gesellschaft an – eine übelriechende Diffamierung wie aus Opas politischer Waffenkiste.
Denn während die erste Parole des Krisenmanagements „Flatten the Curve“ an die Bevölkerung als gemeinsamer Kraftakt ausgerufen wurde, teilte man die Republik sogleich in zwei Lager: diejenigen, welche dem Pandemieregime dienten und zu „Helden des Alltags“ hochgejubelt wurden (Krankenschwestern, Feuerwehrleute, Kassiererinnen, …) und jene, die sich ins stille Kämmerlein zu verziehen hatten, um bei der Rettung der Republik nicht im Weg zu stehen, nämlich alle nicht-systemrelevanten Subjekte (Schauspieler, Kinobetreiber, Soloselbstständige, …). Das übergriffige Pathos dieser sozialistisch anmutenden Propaganda gipfelte in Balkonapplaus für systemrelevante Werktätige, Plakat-Kampagnen für die Helden und ein beschönigendes Neu-Sprech aus dem Baukasten von Event-Agenturen.
Schwäche des Rechtsstaats
Der „Lockdown“ ist das Menetekel der Ermächtigung zum totalitären Ausnahmezustand, als englisches Tarnwort und eleganter Euphemismus macht er in den angepassten Feuilletons, die ja so empfindlich sind für das Schand-Vokabular deutscher Geschichte, eine gute Figur. Die so beschönigte „Ermächtigung“ war und ist eine verfassungsrechtlich strittige Angelegenheit, doch im Privaten wirkt sie wie eine massive Herabwürdigung für alle, die doppelt und dreifach dem „Social Distancing“ ausgesetzt sind und sich beim „Homeschooling“ mit übellaunigen Kindern zerteilen, während der Chef die nächste Zoom-Konferenz dazu nutzen will, die Effizienz des Homeoffice mal auszuloten.
Aufgaben der Staatlichkeit wurden per Dekret an die Bürger, Haushalte und Eltern zurückdelegiert und führten zu neuen Sollbruchstellen innerhalb der Familien, der sozialen Beziehungen und der Psychen von Kindern und alten Menschen.
Doch neben solchen „Nebensächlichkeiten", die die Großbaustellen des politischen Hoch- und Tiefbaus stets begleiten, ist die Ermächtigung eine unverhohlene Drohgebärde vor dem bürgerlichen Rechtsstaat. Moralische Güter von gesamtgesellschaftlichem Interesse werden politischen Handlungsspielräumen preisgegeben. Man möchte ausrufen „Hände weg vom Allerheiligsten", doch es scheint, als habe die herrschende Klasse den Skrupel schon verloren.
In Zeiten des Virus war es das schamlose Kalkül der politischen Sphäre, die Bedingtheiten einer freien Gesellschaft und die Unbedingtheiten des Humanitären gegeneinander auszuspielen. Denn die Unvollkommenheit und Schwäche des Rechtsstaats tritt gerade da zutage, wo sich seine Rechtsgüter tangieren, hier Versammlungsfreiheit, da körperliche Unversehrtheit. Die Mauer um diese freiheitlichen Rechtsgüter wird brüchig und obsolet. So wird der Infektionsschutz zum Danaergeschenk.
Kokons aus Wichtigtuerei
Viele Kleinunternehmer hatten noch in Hygienekonzepte und Technik investiert, um unter den verschärften Vorschriften des zweiten Lockdowns weitermachen zu können. Man ließ sie alles für den Neustart vorbereiten, um ihnen später eine lange Nase zu zeigen. Das Wort „Verschärfung“ war die formlos-schroffe Begründung. Sie sollte politische Entschlossenheit vortäuschen und wurde zum sprachlichen Zombie besessener Dressur-Politiker. Hinter dieser wichtigtuerischen Pose und der Vehemenz der Drohungen steckte allenfalls die dünne Erkenntnis, dass Verbote im Vergleich zum Laissez-faire politisch einfacher, markanter und selbstbewusster rüberkommen. Manch einer wollte sich damit zum Kanzlerkandidaten empfehlen.
So wurde das Unnachgiebige zum Prinzip Hoffnung politischer Fingerzeige. Man nahm bewusst in Kauf, dass viele Menschen dabei zu Opfern wirtschaftlicher und psychischer Belastungen würden, denen ein geregeltes Laissez-faire verantwortbare Auswege gelassen hätte. So verwandelt man Zustimmung und eigenverantwortlichen Kooperationswillen bei den Bürgern in Verzweiflung, Wut und Ablehnung und gibt sich gleichzeitig als „Macher“ in Zeiten der Krise.
Der Dauerzustand der Kanzlerin war indes „not amused“, so lehnte sie „Lockerungsdiskussionsorgien“ sofort brüsk ab. Ein täglicher Überbietungswettbewerb der Mahner und Virus-Warner erging sich in immer haarsträubenderen Prognosen und harschen Imperativen. Nichts schien der Politik des Jahres 2020 so fern, wie die Betroffenen mal „auf Augenhöhe“ zu beruhigen und sie „da abzuholen, wo sie stehen“, nämlich im Jammertal. Die Staatsdiener gingen vielmehr deutlich auf Distanz zum Bürger, Wähler und Souverän. Sie verkrochen sich in ihren Kokons aus Wichtigtuerei und erdreisteten sich, den „Leuten da draußen“ permanent Schuld am dauerhaft überhöhten Infektionsgeschehen zuzuweisen und die Neue Normalität mit dem Zeigefinger hinterrücks einzuführen.
Abseitiges, unbequemes Sperrgut
Unsere Kinder haben nicht den Erfahrungshorizont, um die Anmaßung solcher Polit-Aktivisten als langfristige Bedrohung zu werten. Das ist den Älteren vergönnt, die die diskursreichen 70er und 80er Jahre der Bundesrepublik oder die Diktatur, die Dissidenz und den Verfall der DDR zum Vergleich haben. Wir dürfen uns nicht von einer Kanzlerin und ihrer Entourage als abseitiges, unbequemes Sperrgut vors Haus stellen lassen, weil wir unseren Zweck als Duckmäuser nicht erfüllen wollen.
Wir sind es den Erben der sozialen Marktwirtschaft und parlamentarischen Demokratie schuldig, standhaft zu widersprechen und darauf zu bestehen, an Meinungsbildungsprozessen teilhaben und die Korrektur ideologisch geprägter Fehlentscheidungen einfordern zu wollen. Wir müssen der Entfremdung von politischer Klasse und Wahlvolk entgegentreten, damit bei der geforderten Großen Transformation der Westlichen Welt nicht zuerst der Reset-Knopf des Rechtsstaats und seiner freiheitlichen Ordnung gedrückt wird.
Auf den ersten Blick überkommen
Die Vorstellung, dass die Unterschichten heute noch eine von gierigen Unternehmern gelenkte Gesellschaft begütern, die sie knechtet und ausbeutet, ist ein Stereotyp der Kapitalismuskritik und marxistischen Verelendungstheorie. Dieses Gesellschaftsbild erscheint im Angesicht moderner, nicht menschlicher Produktivkräfte (Robotik, KI) auf den ersten Blick überkommen. Denn für eine Unterklasse, die gar nicht mehr die Produktionsmittel (Maschinen, Fließbänder) bedienen und keine ausbeuterische Arbeit mehr leisten muss, weil sie vom Staat komplett „unterhalten“ wird, scheint ein Klassenbewusstsein im herkömmlichen Sinn nicht möglich. Die Anzeichen dafür, dass eine gewisse Saturiertheit proportional zum Grad der Aufmüpfigkeit steht, kann man in unserem Land an der Bereitschaft zur Opposition ablesen: Der Mittelstand schwimmt noch träge in der dicken Suppe der fetten Jahre.
Der technologische Paradigmenwechsel zu einer Güterproduktion des Digitalen und der Robotik wird neue Widersprüche auslösen. Die größte Wertschöpfung wird nämlich in der automatisierten Produktion stattfinden, da, wo keine Arbeiter, sondern nur wenige hochqualifizierte Spezialisten gebraucht werden. Sie wird eine von human-ethischen Problemen befreite Produktivität und einen enormen Reichtum auslösen.
Somit existiert die „klassische“ Ausbeutung nicht mehr, sondern nur noch die von Aspekten der Arbeitswelt befreite, gesinnungsgeprägte Unterdrückung und daraus resultierende soziale Ungerechtigkeiten.
Gesellschaftlich entwertet
Der Staat ist also nicht mehr auf das Gros seiner Untertanen als Arbeiter, Steuerzahler und Wähler angewiesen. Ihre Daseinsmacht wird fast komplett erlöschen und Individuen hinterlassen, deren Existenz gesellschaftlich entwertet ist. Da sich das Staatswesen von seinem ehemaligen Souverän emanzipiert hat, braucht es die Untertanen auch nicht mehr als Wahlvolk, das seine Legitimität regelmäßig begründen muss.
Der neue Staat ist also ein Gebilde aus sich selbst heraus, ohne wesentliche Dynamik politisch konkurrierender Prozesse und ohne Auftrag durch das Volk. Er kann sich in allen Bereichen der Gesellschaft ausbreiten und die Teilhabe auf wenige Spezialisten der Oberklasse begrenzen.
Im Ergebnis werden in der beschriebenen Gesellschaft enorme Klassenunterschiede entstehen, denn die herrschende Klasse bestimmt die Produktionsverhältnisse und vereint nahezu das gesamte Kapital auf sich. Ein echter dialektischer Punkt linker Philosophie also. Gerade solche Erkenntnisse müssten die links-intellektuelle Szene aufhorchen lassen… Aber vielleicht ist es ja gerade opportun, wenn die Entwicklungen zwar den ideologisch-dialektischen Ansprüchen widersprechen, aber geradezu vorteilhaft den politischen Widersachern schaden. Das ist aber sicher zu kurz gedacht. Denn das neue Klassenbewusstsein droht nicht unbedingt mit linker Linientreue.
Bis ins Private kontrollierte Anwesenheit
Man muss nur eins und eins zusammenzählen: Die Tech-Riesen verbünden sich zunehmend mit der herrschenden Klasse und haben schon heute einen Pakt geschlossen, bei dem es um die mediale Entfernung politischer Gegner aus dem öffentlichen Raum und die Unterdrückung von Meinungen geht, die nicht in die vorgegebenen Schemata der politischen Korrektheit passen. Es ist egal, ob man das beschönigend Haltung nennt oder Doktrin – im Ergebnis handelt es sich um ideologische Unterdrückung Andersdenkender, die dem Furor einer Art Kulturrevolution, heute „Cancel Culture" genannt, ausgesetzt werden.
Dieses Zensurkartell hat sich in den letzten Jahren als eine herrschaftsideologische Struktur aufgebaut, mit der vor allem die Meinungsmacht der unteren Schichten in den Social-Media-Kanälen zum Schweigen gebracht werden soll. Die Politik in Deutschland ist auf dem besten Weg, zum tätlichen und demokratieverweigernden Subjekt zu werden, das, wie jeder Unterdrückungsmechanismus totalitärer Staaten, die Subjekte des Souveräns zu Objekten bis ins Private kontrollierter, purer Anwesenheit minimiert.
Linke Intellektuelle, die es eigentlich besser wissen müssten, applaudieren und schauen dabei zu, wie ihre Meinungs- und Deutungshoheit mit Mitteln der Zensur gesichert wird. Davon sind fast alle digitalen Publikationen missliebiger Meinungsführer betroffen. Social-Media-Accounts werden gelöscht, komplette Messenger-Dienste abgeschaltet, Shadow-Banning, Cancel Culture, anonyme Denunziation und Bedrohung gehören mittlerweile zum Alltag von Medien und Menschen, die nicht oder nur unzureichend die Meinung des politischen Mainstreams vertreten. Ein Zweifel an der ideologischen Integrität von Personen reicht schon aus, um zum Opfer eines Denunziations-Mobs zu werden, wie man in universitären Kreisen zahlreich feststellen kann. Das alles ist „rechtsstaatliche“ Wirklichkeit im Jahre 2021, man stelle sich das vor!
Eine Art Todessehnsucht
Die Gewinner dieser Entwicklung nehmen in Kauf, dass der heute noch „gutmeinende“ Bevormundungsstaat morgen vielleicht die Willkür des Jakobiner-Terrors etablieren kann. Was einst der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und demokratischen Kontrolle durch das mittelständische Bürgertum unterworfen war, ist bald an das Kartell der Politik und Tech-Giganten verloren, die Zensuraufgaben einfach gegen Steuerbefreiung tauschen.
Diese Machtkonstellation ist gerade dabei, omnipräsent und omnipotent zu werden. Die Entwicklungen in den USA lassen nichts Gutes ahnen. Allein aus dieser Tatsache heraus wird es ein neues Klassenbewusstsein geben (müssen), denn die herbeieilende Unterdrückung schafft in der Konsequenz Einigkeit und Identität bei den Abgehängten.
Die Abgehängten-Klasse der Neuen Normalität hat keine Ähnlichkeit mit der „Arbeiterklasse“ des 19. Jahrhunderts und ist im Vergleich zur kraftlosen Masse tuberkulöser Tagelöhner geradezu fett und verwöhnt. Wir sprechen hier von einem heterogenen, großen Bevölkerungsanteil, der als fiskalische Melkkuh einst große Bedeutung für Deutschland hatte. Das Land war auf seine Produktivität und auf die Steuereinnahmen angewiesen.
Das Glück der letzten Jahrzehnte (dauerhafter Frieden, politische Sicherheit, steigender Wohlstand und höhere Lebenserwartung) hat das Bürgertum abgestumpft und unempfindlich für die Anzeichen einer Gefahr gemacht. Man könnte es fast als eine Art Todessehnsucht ansehen, mit der westliche Werte zerredet, zerfleddert und angezweifelt werden, obwohl diese immer Garant für ein Leben in Freiheit und Selbstbestimmung waren.
Im großen Stil aussortiert
In einer Welt aber, in der alles heruntergefahren werden soll, was die Erde „aufheizt“, in der Verzichtszwang wie ein moralischer Imperativ aus dem klerikalen Mittelalter wiederaufersteht, in der politische Haltungsfragen wichtiger bewertet werden als Vernunft oder Wissenschaftlichkeit, und in der Geld nicht in Mehrwertprozessen aus Arbeit und Produktion, sondern in den Hochetagen der Finanzpolitik generiert wird – in einer solchen Welt werden Menschen aller Bildungsmilieus und sozialen Gruppen im großen Stil aussortiert und finden sich im Sammelbecken einer gegängelten, sprach- und machtlosen Unterschicht wieder. Noch hält diese neue Unterklasse still. Sie will nicht wahrhaben, dass sie bereits jetzt verloren hat. Sie wacht bald in einer als überwunden geglaubten Unmündigkeit auf, in der der versprochene Glanz wohlstandsbürgerlicher Freiheiten ein für allemal futsch ist.
Der „Klassenkampf“ zielt gemäß der marxistischen Theorie auf einen revolutionären Wandel der Produktionsverhältnisse (Arbeitsteilung und Besitzverteilung). In einer Gesellschaft, die eine Herrschaftsklasse aus Tech-Giganten und politischer Elite hervorgebracht hat, kann der Klassenkampf aber nicht unmittelbar stattfinden, weil die revolutionäre Klasse aufgrund ihrer niedrigen digitalen Kompetenz keine Produktivkräfte des Digitalen zu übernehmen imstande ist. Sie würde das Schiff also nicht navigieren können, das sie kapern möchte. Worin besteht also der Klassenkampf, wenn es nicht in erster Linie um die Produktionsverhältnisse gehen kann? Es wird wohl eher ein Kampf um die Wiedererlangung von Freiheit und politische Teilhabe sein – also um das Recht auf Mündigkeit und Selbstbestimmung.
Karl Marx‘ Theorien hätten hier Bestätigung und Widerlegung zugleich gefunden: Ja, die neuen Produktionsverhältnisse treten zunehmend als Fesseln der Unterklasse auf, was den Klassenkampf befördern wird. Nein, der historische Materialismus ist widerlegt, denn der Kommunismus ist nicht, wie angekündigt, eingetreten, und der Sozialismus war ein Reinfall.
Und doch scheint ein Rückfall in eine frühere historische Entwicklungsstufe möglich. Der Ständestaat ist im Anmarsch, wo extrem reiche Digitalunternehmer und politische Schreibtischtäter über „hoffnungslose Zeitvertreiber“ und weitgehend „nutzlose Arbeitsdarsteller“ bestimmen können. Aber wer weiß: Auch wenn Marx nur halb recht hätte, stünde ein wie auch immer gearteter Klassenkampf bevor, weil die Verhältnisse sind, wie sie sind.
Teil 1 des dreiteiligen Essays finden Sie hier.
Teil 2 des dreiteiligen Essays finden Sie hier.