Während in Deutschland nicht nur Politikerinnen den Spitzenposten für Frau von der Leyen als Triumph Deutschlands feiern wollen und den Deutschen einzureden versuchen, welch große Gnade ihnen durch die Wahl einer Dame mit deutschem Pass und französischer Gesinnung zuteil geworden ist, lassen sich nüchterne Beobachter diesen Sand nicht in die Augen streuen. Frau von der Leyen hat sich ihr Amt in Brüssel durch eine jahrelange systematische Annäherung an die Positionen französischer Politik erschlichen.
Niemand hat so vorbehaltslos französischen Interessen in der Rüstungspolitik Tür und Tor geöffnet wie Frau von der Leyen: Optische Satelliten – obschon in Deutschland verfügbar – wurden in Frankreich bestellt. Beim neuen Kampfflugzeug durften Italiener und Briten gar nicht erst mitmachen. Stattdessen wurde Frankreich zum industriellen Führer ernannt. Beim neuen Kampfpanzer, der ab 2035 den Leopard, den meistverkauften Panzer der Welt, ersetzen soll, einigte sich Frau von der Leyen mit ihrer französischen Amtskollegin Parly auf Parität zwischen Deutschland und Frankreich und ließ es zu, dass ein so bewährtes Entwicklungskonsortium wie Rheinmetall/KMW gesprengt wurde.
Diese hintergründigen Fakten sind viel relevanter für die Würdigung der Amtsführung der bisherigen Verteidigungsministerin als die vielen Pannen und krassen Fälle von Vettern- und Misswirtschaft, die aus dem Verteidigungsministerium eine Goldgrube für McKinsey & Co machte. Indessen wird der künftigen Kommissionpräsidentin nicht erspart bleiben, vor dem von allen Fraktionen angestrengten Untersuchungsausschuss des Bundestages zur Berateraffäre auszusagen. Denn ihre Rechenschaftspflicht ist mit dem Rücktritt als Ministerin nicht beendet, wiewohl von der Leyen hoffen mag und öffentlich bekundet, mit Beginn ihres großen Europa-Projektes von den Lasten der Vergangenheit nicht länger gestört zu werden.
Nostalgische Erinnerung an eine SPD mit Haltung
Wie das Urteil der Geschichte über jene Kanzlerin ausfallen wird, die ihr zu ihrer Fahnenflucht nach Brüssel verholfen hat, werden wir sehen. Nach dem knappen Votum des Europäischen Parlaments kann Monsieur Macron jedenfalls in der Person von Frau von der Leyen über einen französischen Brückenkopf verfügen.
Den Demokratie-Verrat, den das Doppelpack von der Leyen/Lagarde zum Ausdruck bringt, hatten die deutschen Sozialdemokraten im Europaparlament zum Ausgangspunkt ihrer Kritik gemacht. Wie könne man im Europäischen Parlament überhaupt über eine Kandidatin abstimmen, die während des Wahlkampfs als solche nie aufgetreten war. Und dies aus guten Grund, denn angesichts des Scherbenhaufens Bundeswehr, den von der Leyen in 5 ½ Jahren angerichtet hatte, war sie selbst in ihrer Partei kaum noch präsentabel. Sie zog beim letzten Parteitag der CDU als Letzte mit den wenigsten Stimmen in das Präsidium der Partei ein.
Die Kandidatin der SPD, Dr. Katarina Barley, hatte mit großem Einsatz für das Spitzenkandidatenmodell geworben. Über dessen vertragsrechtliche Legitimität mag man streiten. Jedenfalls wurde der Demokratie in Europa ein Bärendienst erwiesen, als Macron und Merkel eine Kommissionpräsidentin nominierten, die zuvor den Wählern nie als Kandidatin präsentiert worden war. Es spricht für ihre Haltung, wenn Frau Barley – ungeachtet der Person – sich sofort nach der Nominierung von Frau von der Leyen gegen ihre Wahl aussprach. Die Reden von Ferdinand de Lasalle zum Verfassungswesen und von Otto Wels im Reichstag klingen nach und lassen nostalgisch an die Haltung der SPD denken, wenn es in der Geschichte auf Haltung ankam. Ein wenig von diesem Esprit hat Frau Barley mit ihrer Konsequenz in Erinnerung gerufen.
Eine Kirmes verantwortungsloser Beliebigkeit
Die Demokratie nimmt Schaden, wenn ein Parlament wie das Europäische Parlament, welches gar kein Parlament ist, mit knapper Mehrheit nachvollzieht und vollstreckt, was Macron und Merkel beschlossen hatten. Die skandalöse Amtserschleichung durch von der Leyen und ihre französischen und deutschen Unterstützer belegt die institutionellen Pathologien in Brüssel/Straßburg. Statt Gewaltenteilung wird der Meinungsbildungsprozess von einem Gewaltenkonglomerat beherrscht, das niemandem rechenschaftspflichtig zu sein scheint. Die Versprechungen der künftigen Kommissionspräsidentin sind also nicht nur deshalb gefährlich, weil sie haltlos und unseriös sind, sondern weil sie im Wege der Ankündigungsinflation von Parteipolitikern das Brüsseler Komplott gegen die nationalen Demokratien vertiefen wollen.
Der Bestätigung von Ursula von der Leyen im Europäischen Parlament ging eine wahre Kirmes voraus: CO2-Freiheit bis 2050, nationale Mindestlöhne und eine europäische Arbeitslosenversicherung; fürwahr ein Horrorprogramm für liberale Geister und Gegner der fortgesetzten Zentralisierungspolitik der EU. Der von Medien gelobte Auftritt der vitalen Kandidaten von der Leyen zeugte von der verantwortungslosen Beliebigkeit des Parteienregimes. Hatte Ursula von der Leyen das Verteidigungsressort zum Land des Lächelns erklärt, so mussten jetzt demagogische Versprechungen herhalten. Mit dieser Kommissionpräsidentin ist Europa dem EU-Populismus ein gutes Stück näher gekommen.
Markus C. Kerber ist Professor für Finanzwissenschaft und Wirtschaftspolitik an der TU Berlin, Gastprofessor an der Université Paris II (Panthéon-Assas) und an der Warsaw School of Economics (SGH); Gründer des Thinktank Europolis