Von Bogumil Balkansky.
"Yet if my line should die / It dies with its teeth in the enemy's throat / It dies with its name on the enemy's tongue." (Klingonischer Schlager aus den 60er-Jahren)
Ist es nicht geradezu schrill, dass wir 2018 noch immer kinderleicht und illegal Filme und Musik (und legal Hekatomben an Pornografie) auf unsere Festplatten laden können, während "beleidigende" Kritik, Satire, Hodensäcke aus Stein und Karikaturen eines Religionsgründers ganz unbürokratisch, ganz ohne spezielle (oder irgendwelche) gesetzliche Grundlage, fast in Echtzeit nur mittels Knopfdrucks aus dem Netz gefegt werden?
Wir sind offenbar von den technischen und juristischen Schwierigkeiten überfordert, die dem Wesen der virtuellen Begegnungsstätten zugrunde liegen. Und die dem Wesen der Berufsbeleidigten zugrunde liegen. Wir sind von der Heftigkeit und der Giftigkeit des Diskurses überfordert. Insbesondere Politiker: „Die letzte Zutat, die im Giftcocktail gefehlt hat" – so sagt mir neulich ein Freund –, „ist noch ein dummer Politiker, der ein dummes Gesetz durchdrückt, und eine dumme Regierung, die es beschließt." Ich vermute, dieser Freund meint Heiko Maas, das „Durchsetzungsgesetz" und die deutsche Regierung. Wie dem auch immer sei, dieser Zensurcocktail scheint jedenfalls zu Ende gerührt (oder geschüttelt) – und verursacht einen schlimmen Kater.
Das jüngste Beispiel: Mein Lieblingsheld Hamed Abdel-Samad: Zwitscher sperrt ihn plötzlich und ohne Angabe von Gründen. Die kurze Vorgeschichte: Abdel-Samad stellt einen Aufruf an Jugendliche in drei Sprachen auf seine Wand, Hasspredigern nicht auf den Leim zu gehen und Hass und Gewalt abzulehnen. Eine edle Botschaft, die von jedem „Linken" unterschrieben wird. Allerdings nicht, wenn sie von Abdel-Samad kommt.
Nach einer Diskussion mit einem Palästinenser im Gesichtbuch erfolgt die Sperre bei Zwitscher. Offenbar steckt ein organisierter Meldemob dahinter. Denn nachdem ein Rechtsanwalt und einige Medien bei Zwitscher anfragen, worum es hier geht, wird die Sperre ebenso kommentarlos aufgehoben. Dazu Abdel-Samad: „Was machen eigentlich Leute, die keinen Anwalt haben und medial nicht präsent sind? Müssen sie immer dieser Willkür ausgesetzt bleiben?"
Goldene Zeit der Engstirnigen und Fanatiker
Die ganz besondere Pikanterie der vorauseilenden Unterwerfung sieht er so: „Alles, was ich auf Facebook schreibe, erscheint automatisch auf Twitter. Allerdings nur die ersten 140 Zeichen. Den Rest muss man dann über den Link auf Facebook lesen. Da ich kein Fan von 140-Zeichen-Botschaften bin, muss Twitter mich dafür bestraft haben, was ich auf Facebook geschrieben habe."
Man müsste meinen, angesichts der technischen Möglichkeiten sei endlich die beste aller Zeiten für Meinungsfreiheit gekommen – einschließlich Kritik, einschließlich Ausdrucksfreiheit, einschließlich Satire.
Leider nein! Es ist stattdessen die goldene Zeit der Engstirnigen, der Fanatiker, der Missionare und der Faschisten gekommen! Endlich können sie wieder mal – aber jetzt noch besser und weltweit – oben genannte Errungenschaften der Aufklärung an ihrer Verbreitung hindern, Kritiker diffamieren und ihnen den Mund verbieten. Alles auch dank der privaten Firmen, die von der Politik gezwungen werden, Entscheidungen zu treffen, für die früher nur Richter zuständig und befugt waren. Nun entscheidet ein unterbezahlter und unterbelichteter Lohnsklave, was noch Meinungsfreiheit ist und was es nicht mehr ist. Und ein Roboter, ob im Zweifelsfall organisierte Meldemeuten im Recht sind.
Inzwischen bezahlen dutzende kritische Netzaktivisten in Bangladesh, Indonesien und anderswo die Inanspruchnahme der Meinungsfreiheit mit ihrem Leben. Und wer bloß darüber berichtet oder Meldungen über die Morde im Netz verbreitet, wird seinerseits schnell Opfer einer Meldemeute.
Eifriges Punktesammeln für’s „Ich bin ja so gegen rechts“
Soll es dabei bleiben? Offenbar ja! Ich sehe Künstler aller Disziplinen (neulich erst die österreichischen Filmschaffenden), die sich organisieren, selbstverständlich auch im Netz, um Kritik, Protest und Widerstand "gegen rechts" besser zu kommunizieren. Und das ist gut so! Ich sehe aber keine einzige Initiative meiner Kollegen, damit Karikaturisten wie Kurt Westergaard, Autoren wie Abdel-Samad, Reformer wie Mouhanad Khorchide, die Menschenrechtlerin Seyran Ateş und Religionskritiker wie Ahmad Mansour nicht mehr unter Polizeischutz leben und arbeiten müssen. Und das ist schlecht so!
Ich sehe stattdessen, dass oben genannte echte Antifaschisten und Humanisten von rechts und von links gleichermaßen angegriffen werden. Und ich sehe nur eifriges Punktesammeln im Netz – für’s "Ich bin ja so gegen rechts". Gutpunkte und Adelung bringen eine Sperre oder Löschung, die von rechts kommt. Löschungen und Sperren von Links muss man meiden, indem man nur dann antiantisemitisch, antihomophob, demokratisch, feministisch und humanistisch ist, wenn es um rechte Parteien, Rechtsradikale, Identitätsfetischisten und Burschenschafter geht. Die meisten Gutpunkte im Netz bekommt man als „engagierter, linker Künstler", wenn man eine Meldemeute anführt, die sich gegen Humanisten richtet, die links sind und auch dann links bleiben wollen, wenn es um jede Quelle von Antisemitismus, Misogynie und Homophobie geht.
Das ist ein bequemer, feiger und ungefährlicher Weg, um als Künstler und Linksaktivist zu gelten, um an Förderungen zu kommen und um künftige Gagen und anhaltende Popularität zu sichern. Wie viel Aufwand, Rückgrat und Mut die Meinungsfreiheit erfordert und was sie uns wert ist, interessiert diese „Aktivistenkünstler" anscheinend gar nicht. Ich versuche ein heftigeres Wort zu finden als „erbärmlich", aber es fällt mir keines ein.
Die in einem vorangegangenen Text beschriebene Facebook-Peinlichkeit, Michelangelos „David" und andere Träger von Steinpenissen wegen Nacktheit gelöscht zu haben, ist vom Rand bis zur Mitte pikant. Am Rand, weil es wieder mal belegt, wie dumm Zensoren und Zensur sind. Zur Mitte hin, weil nicht einmal den Nazis eingefallen ist, klassische Phalli als entartet zu qualifizieren, wohingegen es dem Gesichtbuch genügt, dass sie unartig sind.
Zum ersten Mal überlassen wir Zensur den Maschinen
Ja, es ist so weit! Schon wieder! Höhepunkte unserer Kultur dürfen halt manchmal als beleidigend, ein Ärgernis gar qualifiziert werden und aus der Wirklichkeit gelöscht, ausgeschnitten, verhüllt und – ja! – verleugnet werden. Doch zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit überlassen wir das Zensurieren Maschinen, die von einer privaten Firma betrieben werden. Und nicht, wie bisher üblich, den kleinen, menschlichen Helferlein von Stalinisten, irdischen Stellvertretern von Göttern und Junta-Putschisten.
Und schon wieder sind die Opfer der Zensur nicht nur unartige Kultur, sondern auch (und ebenso wichtig) Kritiker von Faschismus, Antisemitismus, Misogynie, Homophobie, Rassismus, Totalitarismus, Unterdrückung, Zensur, Intoleranz, Ausschließlichkeit, absolutem Wahrheitsanspruch – und vielen anderen Schweinereien, die die Menschen über unseren gemeinsamen Planeten bringen. Also dieselben Opfer, die schon die Nazis erst mundtot und anschließend im Ka-Zett echt tot machen.
Eigentlich – so müsste man meinen – wäre es im 21. Jahrhundert endlich angebracht, endlich chic und endlich möglich, unser aller Kulturerbe und unsere Stimmen gegen das Böse laut zu verbreiten und nicht zum Verstummen zu bringen. Eigentlich ...
Die Frage bleibt: Was tun? Wenn wir weiter ignorieren, dass der Versuch, Beleidigungen aus dem Netz zu bannen, nur dazu führt, alle Kinder des Humanismus mit dem Bade auszuschütten, wird jedenfalls nichts besser. Wenn wir kritische Frager weiter als Phobiker, Faschisten und absichtliche Ignoranten diffamieren, wird es nur schlimmer.
Vielleicht wird es Zeit für einen Aufstand im Netz, vielleicht in Form eines Boykotts? Wenn es möglich ist, dass im Netz die antisemitische Naziparole „Kauft nicht bei Juden!" plötzlich als linke, antizionistische Parole „Kauft nicht bei zionistischen Siedlern" politisch total korrekt wird – dann ist wohl alles möglich.
Inzwischen bin auch ich zur Einsicht gelangt, meine Faulheit zu überwinden und mir eine eigene Blogseite einzurichten, damit mich Sperren und Löschungen nicht in der Verbreitung meiner Texte behindern. Dort werdet ihr in baldiger Zukunft auch Texte lesen können, die ich gar nicht erst zur Veröffentlichung einreiche, weil ich weiß, dass es sinnlos ist, dies zu versuchen. Und natürlich auch Texte, die berufsbeleidigte „Aktivisten" zur Weißglut treiben.
Bogumil Balkansky war Fluglotse, Flüchtlingshelfer und Regieassistent und lebt heute als freier Journalist und Drehbuchautor in Wien. Für den Standard verfasst er autobiografische Glossen aus seiner an Migrations- und Integrationserfahrung reichen (Familien-) Geschichte. Dort erschien auch dieser Beitrag.