Von David Engels.
Nunmehr ist der Ikonoklasmus der „Black Lives Matter“-Proteste auch in Belgien angekommen, wo neben unzähligen weiteren Statuen auch Standbilder von Leopold II. und sogar von Julius Caesar verunstaltet wurden. Gerade diese beiden, sehr unterschiedlich gelagerten Fälle konfrontieren den Kulturhistoriker mit interessanten Fragen – und bedrückenden Antworten.
Es ist nicht das erste Mal, dass Statuen von Leopold II. – vor allem jene, die 1926 prominent vor einem Nebeneingang des königlichen Palasts auf der „Place du trône“ aufgestellt wurde – zum Opfer von Vandalismus werden, denn wie keine zweite Gestalt der belgischen Geschichte steht Leopold II. für die kolonialen Greuel, welche ausgeübt wurden, als das Kongo-Gebiet zunächst zum „Privatbesitz“ des Königs und dann zum Eigentum des belgischen Staates wurde. Und wenn die belgische Präsenz dem Kongo-Gebiet bis heute auch unbestreitbare zivilisatorische Vorzüge brachte, von denen wir hier nur Eisenbahn, Straßen, Urbanistik, Schulen und Krankenhäuser nennen wollen, so ist es doch psychologisch nicht unverständlich, dass Statuen des Herrschers, dessen Regierung Belgien wirtschaftlich ein „Goldenes Zeitalter“ beschert hatte, regelmäßig mit roter Farbe beschmiert wurden.
Rechtfertigt dies aber nun auch die Forderung nach einem Abriss der Statue? Darüber ließe sich in der Tat lange debattieren. So sehr allerdings gerade im vorliegenden Falle gute Gründe dagegen sprechen mögen, eine in der Tat umstrittene Person der belgischen Geschichte weiterhin durch ein imposantes Reiterstandbild hervorzuheben, so sehr wäre eine solche Form „posthumer Geschichtskorrektur“ doch zumindest in den Augen des Historikers artifiziell, ja problematisch: eine alte Debatte, die man in den angelsächsischen Medien ja schon seit Jahren im Disput um die Forderung nachlesen kann, Statuen des radikalen Imperialisten Cecil Rhodes zu beseitigen. Freilich, bereits Hegel formulierte: „Weltgeschichte ist Weltgericht“, doch sollte man je nach Kontext klar trennen. Spontane und situativ wohlbegründete Aktionen, wie etwa, wenn nach dem Sturz einer verhassten Diktatur die Bevölkerung die omnipräsenten Spuren jener Zeit vernichten will, sind psychologisch durchaus verständlich (auch, wenn die historische Wertung solcher verhasster Regime sich manchmal bereits im Laufe weniger Jahre völlig umkehren kann; beziehungsweise wenn sich spätere Historiker freuen, zumindest einige jener Zeugnisse wie etwa die Statuen eines Caligula, Nero oder Commodus wieder auszugraben und Forschung wie Bildung zuzuführen).
Aber jene für unsere Gegenwart so typische arrogante (und häufig genug ignorante) historische Besserwisserei, welche selbst jahrhundertealte Monumente ohnehin bereits halb vergessener Persönlichkeiten zu beseitigen „fordert“, um die museale Realität im Nachhinein mit den jeweiligen Moden der Weltsicht moderner Ideologen in Übereinstimmung zu bringen, scheint mir hochproblematisch – und erinnert nicht ohne Grund an die totalitären Dystopien eines George Orwell. Um so einen Fall scheint es sich auch bei der Vandalisierung der meist über 100 Jahre alten Statuen Leopolds II. zu handeln, umso mehr, als diese ohnehin bereits oft durch Begleittafeln ergänzt sind, welche eben auch die dunklen Seiten der Regierungszeit jenes Königs problematisieren und die Standbilder somit nicht als naiv ehrende Denkmäler, sondern vielmehr als Teil eines gut aufgearbeiteten historischen Erbes erkennen lassen.
Hass der Menge in ideologisch gewünschte Richtung lenken
Freilich: Lesen Demonstranten historische Begleittafeln? Hier kommen wir zu einer weiteren Facette des Problems: Die Wut der Massen richtet sich nicht nur gegen jene Zeugnisse der Vergangenheit, die tatsächlich Stoff zu Diskussion über die bewusste Förderung sozialer oder rassischer Ungleichheit liefern, sondern auch – ja sogar gerade – gegen jene, die mit solchen Untaten gar nichts zu tun haben. In Polen etwa empörte man sich zu recht darüber, dass der amerikanische Mob in Washington D.C. auch eine Statue des polnischen Freiheitshelden Tadeusz Kościuszko beschmiert hatte, obwohl dieser doch zu den Gründungsvätern der amerikanischen Unabhängigkeit und den Vorkämpfern gegen Tyrannis und Unterdrückung gehörte, und in Belgien herrscht Unverständnis, dass neben Bildern Leopolds II., dem Unterdrücker des Kongo, auch jene von König Baudouin, der dem Kongo seine Freiheit zurückgab, geschändet wurden.
Und ebenso absurd: Sind die verstreuten, „afrokritischen“ Äußerungen des lange in Südafrika tätigen Mahatma Gandhi wirklich „wichtiger“ als seine Leistungen für die indische Unabhängigkeit, beziehungsweise die Indien-kritischen Äußerungen Winston Churchills „relevanter“ als sein Kampf gegen die nationalsozialistische Hegemonie über Europa, sodass sich eine Beseitigung ihrer Mahnmäler rechtfertigt? Sind Geschichte und Geschichtspolitik mittlerweile wirklich nur noch ein Wettkampf um die Auszeichnung, wer der „Beleidigtste“ ist, anstatt darin, große Leistungen für die Allgemeinheit zu vollbringen und zu würdigen? Freilich: Jene sterilen Debatten um die Frage, wer das größte Opfer der Geschichte ist, und die sich in Frankreich bereits in handgreiflichen Konflikten zwischen den Ressentiments der muslimischen und den Ressentiments der afrikanischen Bürger niederschlägt, ist nur ein Teil des Problems, eine Fassade, mit der linksliberale Intellektuelle und Politiker den mehr oder weniger blinden Hass der Menge in die ideologisch gewünschte Richtung zu lenken versuchen beziehungsweise ihm nachträglich ein Minimum an Legitimität beilegen.
Denn wenn wir zu recht bezweifeln dürfen, ob jene Demonstranten sich überhaupt über die bereits seit Jahrzehnten geschehene Erinnerungsarbeit informieren, bevor sie Statuen beschmutzen, so sollten wir wahrscheinlich einen Schritt weitergehen und infrage stellen, ob jene Menschen sich überhaupt dafür interessieren, wem jene Statuen gewidmet sind, die sie dann in einer geschichtlich in Ausmaß wie Stupidität wohl beispiellosen Kampagne beschmieren, verstümmeln oder umstürzen – bedenkt man, dass in Belgien mittlerweile sogar Julius Caesar, dessen Relevanz für moderne Menschenrechtsbewegungen doch nun wirklich eher sekundär ist, zum Opfer posthumer Gewalt und einer 2.000 Jahre zu spät gekommenen „damnatio memoriae“ wurde.
Kein Ausdruck von Freiheit, sondern unterschwelliger Selbstzerstörung
Denn das scheint mir der wahre Grund für das Ausmaß der gegenwärtigen Ereignisse zu sein: Nicht die aufgesetzte „Empörung“ über angeblich „salonfähigen“ Rassismus im doch ohnehin schon extrem multikulti-affinen Westen, sondern vielmehr der seltsame, abgrundtiefe Hass gegen jene kulturelle Identität, die zwar bereits stark angeschlagen ist, sich aber noch in den Zeugnissen seiner Vergangenheit konserviert. Jene Anschläge scheinen mir daher nicht einzelnen Personen gewidmet, auch wenn sie ab und an schon fast zufälligerweise jene treffen, deren historische „Größe“ nicht unumstritten ist. Sie richten sich vielmehr gegen die Geschichte des Abendlands als solche.
Sie sind direkter Ausdruck jenes bereits vieldiskutierten Selbsthasses, der eben nicht nur in jenen auseinanderdriftenden Parallelgesellschaften zu finden ist, welche zunehmend unsere Großstädte dominieren. Sondern auch – und wohl gerade! – bei jenen, die von Kindheit an durch Elternhaus, Schule, Medien, Politik und Universitäten in einem Geiste penetranter politischer Korrektheit und ewiger Besserwisserei geprägt worden sind und den hier aufgestauten Ressentiments gegen die eigene Identität konsequent nicht nur durch theoretisches Geschwafel in Seminarraum und sozialen Medien, sondern auch durch einen ikonoklastischen Rundumschlag gegen Statuen, Büsten, Kirchen, Bücher, Filme oder Gemälde freien Raum lassen. Dass die staatlichen wie medialen Institutionen, deren Bereitschaft zur Selbstverteidigung hier konsequent ausgelotet wird, diese Verwüstungen auch noch weitgehend zu unterstützen beziehungsweise nach dem Vorbild der antiautoritären Erziehung zu „verstehen“ vorzugeben, ist nicht nur ein Armutszeugnis, sondern wird früher oder später dieselben Konsequenzen wie die meisten Formen von Appeasement haben …
Freilich, die europäische Geschichte kannte schon viele ikonoklastische Bewegungen, denkt man etwa an die protestantischen Bilderstürmer oder den Vandalismus der Französischen Revolution, doch hatten diese wenigstens noch im Wunsch nach der Wiederherstellung eines „reinen“ Urchristentums beziehungsweise einer Wiederbelebung des antiken Republikanismus eine Art positives Ideal. Die modernen Vandalen europäischer Abstammung allerdings, welche die angeblich antirassistische Kulturrevolution unterstützen, sind ausschließlich vom Wunsch nach der Auslöschung des eigenen Erbes beseelt, vom Ekel an der simplen Tatsache, dass Identität eben nur zu einem kleinen Teil eigenes Verdienst ist, sondern größtenteils von dem abhängt, was vergangene Generationen geschaffen und uns hinterlassen haben – physisch wie psychisch, im Guten wie im Bösen.
Die seit einigen Jahren schon zum Glaubensbekenntnis politischer Korrektheit gewordene naive Vorstellung, sich ausschließlich selbst erschaffen zu können und keine „Grenzen“ mehr hinnehmen zu wollen (seien sie politisch, geschlechtlich, sexuell, religiös, sozial, etc.), ist daher auch kein Ausdruck von Freiheit, sondern vielmehr von unterschwelliger Selbstzerstörung; denn ebenso wie auch ein Baum, dem man zwecks „ungehemmter Selbstentfaltung“ die Wurzeln abschneidet, früher oder später fallen muss, muss auch das Individuum untergehen, das sich von seiner Vergangenheit abschneidet. Genau dieser Trieb zeigt sich gegenwärtig auch konkret überall vor unseren Augen, und die Aussicht, in welche Richtung eine Zivilisation taumeln könnte, in der man zwar Statuen von Mahatma Gandhi abreißen will, gleichzeitig aber – wie in Gelsenkirchen – neue Statuen für Lenin errichtet, kann den Beobachter nur schaudern lassen...
Prof. Dr. David Engels unterhält eine Forschungsprofessur am Instytut Zachodni in Posen, wo er verantwortlich ist für Fragen abendländischer Geistesgeschichte, europäischer Identität und polnisch-westeuropäischer Beziehungen.
Dieser Beitrag erschien zunächst in polnischer Sprache auf der Internetseite der Zeitschrift Tygodnik Solidarność.