Am Sonntag, im ZDF-Sommerinterview, erfuhr die Nation, worum es Angela Merkel geht. „Mir geht es um die Sache“, erklärte sie mit ernstem Blick. Diese Feststellung war ihr so wichtig, dass sie sie kurz darauf mit Nachdruck wiederholte: „Noch einmal, mir geht es um die Sache!“
Eine bedeutsame Bekundung. Wenn es um „die Sache“ geht, ist eines grundsätzlich geklärt: Es geht nicht um „die Person“. Nicht um eine andere und schon gar nicht um die eigene. Wer um „die Sache“ kämpft, ordnet sich unter. Nicht umsonst lauten geläufige sprachliche Wendungen „der Sache dienen“ oder „sich in den Dienst der Sache stellen“. Sachwalter dienen. Dem Wähler, dem Volk, der Partei, dem Land, Europa, Gott – wem oder was auch immer. Auf jeden Fall nicht sich selbst.
Wer „die Sache“ in den Vordergrund stellt, unterdrückt persönliche Interessen oder Motive. Verfechter „der Sache“ sind niemals egoistisch, immer altruistisch. Wer dient, steht unter dem einzig angenehmen Generalverdacht: Er oder sie hat lautere Motive, denn die unlauteren sind immer eigennützig.
Wo steht sie und wofür?
Angela Merkel wucherte im Sommerinterview mit ihrem unbestreitbar größten Pfund. Sie ist schließlich die, die pro Tag gefühlt 25 Stunden arbeitet und in Krisensitzungen länger als jeder Triathlet durchhält. Sie ist die, deren größte persönliche Extravaganz darin besteht, dem taubstummen Gatten in der Uckermark-Datsche Kartoffelsuppe zuzubereiten. Sie ist die, die noch als Umweltministerin aussah wie Zonengabi mit ihrer ersten Banane und sich nur unter Druck auf einen international halbwegs wettbewerbsfähigen Look bringen ließ. Wer würde einer solchen Frau nicht abnehmen, dass es ihr um „die Sache“ geht? Worum denn sonst?
Bleibt die Frage: Was treibt sie im Innersten an? Was ist das übergeordnete Prinzip, dem sie folgt, ihr Glaube, ihr Standpunkt, ihre Überzeugung, ihr Anliegen? Wo steht sie und wofür? Was also ist „die Sache“, um die es ihr geht? Welches der drei Großthemen ihrer Regierungszeit liegt ihr wirklich am Herzen? Umwelt? Europa? Humanität? Alle? Antwort: keines.
In ihren ersten Jahren positionierte sie sich zwar als Gralshüterin des Klimaschutzes, trieb globale Konferenzen voran und versprach überaus ambitionierte Klimaziele für Deutschland. Seit geraumer Zeit hört man von ihr aber kaum noch etwas dazu. Und die Klimaziele begrub sie im Zuge der letzten Regierungsbildung derart sang- und klanglos, dass auch der Letzte verstanden haben müsste, dass „die Umwelt“ offensichtlich keine Herzensangelegenheit der Angela Merkel ist.
Umwelt? Europa? Humanität? Alles Lippenbekenntnisse
Was ist mit „Europa“, ihrem zweiten Steckenpferd? Ebenfalls Fehlanzeige. Schließlich war sie es, die mit ihrer unabgestimmten Politik der offenen Tür größere Gräben innerhalb der EU aufriss als jeder Regierungschef vor ihr. Damit provozierte sie sogar den bisher schlimmsten Rückschlag der EU-Geschichte. Die paar Prozent, die beim Brexit-Votum den Ausschlag gaben, gehen unbestreitbar auf das Konto von Merkels Migrationspolitik.
In den letzten Wochen bewies sie erneut, dass ihre Europaschwüre reine Lippenbekenntnisse sind. Seit Jahren betont sie unablässig die Notwendigkeit „europäischer Lösungen“, nur um plötzlich geschmeidig auf eben nicht EU-weite, sondern „multi- oder bilaterale Vereinbarungen“ umzuschwenken. Wie in so vielen anderen Angelegenheiten: Um „die Sache“ Europa geht es ihr nur so lange, wie es ihr in den Kram passt. Immerhin, eines hat sie erreicht, allerdings ohne Absicht: Mittlerweile sind so ziemlich alle EU-Staaten in der Migrationspolitik geeint – gegen Merkel.
Und wie steht es mit der „Humanität“, dem dritten Megathema, das sie für sich reklamiert? Ihrem fatalen Betriebsunfall von September 2015, der die unkontrollierte Zuwanderung Hunderttausender zur Folge hatte, drückte sie den Stempel der „humanitären“ Großtat auf. Nicht wenige Einfaltspinsel in Bevölkerung und Medien nahmen ihr das tatsächlich ab. Unmittelbar nach der offiziellen Grenzfreigabe für jedermann begann sie allerdings Verhandlungen mit Erdogan, der ihr die lästigen Massen vom Leib halten sollte. Die Schacherei zog sich, aber ein halbes Jahr später setzte der türkische Präsident den Auftrag um, und zwar erwartbar „unhumanitär“, mit kompletter Grenzschließung zu Syrien.
Spätestens als die Kanzlerin ungerührt Menschen im tiefen Matsch von Idomeni sitzen ließ, hätte auch der naivste Merkelanbeter auf die Idee kommen können, dass „humanitäres Handeln“ gerade nicht eine ihrer bestimmenden Richtschnüre ist.
Merkels ehrlichster Moment
Aber was dann? Was ist denn nun „die Sache“, um die es der Kanzlerin geht? Zwei weitere Kandidaten sind schnell vom Tisch: „Bildung“ und „Digitalisierung“ köcheln seit 13 Jahren als angeblich überwichtige Themen durch alle vier Merkel-Wahlkämpfe. Angepackt hat sie in all der Zeit weder das eine noch das andere.
Und sonst? Nicht einmal bei kleineren Sujets ist eine Überzeugung zu erkennen. Die „Ehe für alle“ erklärte sie im Sommer 2017 zur „Gewissensentscheidung“, hob damit den Fraktionszwang auf und sorgte so für eine sichere Mehrheit im Bundestag. Gleichzeitig stimmte sie selbst mit Nein. Sie war also dafür und dagegen. Egal, sie hatte in Nullkommanichts ein für sie potenziell schädliches Wahlkampfthema aus dem Weg geräumt. Nur darum ging es ihr, nicht um „die Sache“.
Apropos Wahl: Am Abend des 24. September 2017 hatte sie einen der wahrscheinlich ehrlichsten Momente ihrer Regentschaft. Nach den katastrophalen Verlusten der Regierungsparteien waren alle Betroffenen sichtbar erschüttert. Einzig Angela Merkel zeigte sich erstaunlich gelassen und verwies nüchtern auf einen Wahlerfolg: Niemand könne an der Union vorbei eine Regierung bilden.
In diesem Moment wurde klar, was der Wahlausgang aus ihrer Sicht bedeutete. Weder die dramatischen Verluste ihrer eigenen Partei noch der Erfolg der AfD berührten sie sonderlich. Entscheidend war, dass die rot-rot-grüne Mehrheit des letzten Bundestages nicht mehr existierte. Angela Merkel würde also auf jeden Fall wieder Kanzlerin werden, egal, in welcher Konstellation. Nur das war wichtig.
Von der Arbeitsbiene zur Killerhornisse
Viele weitere Beispiele wären anzuführen, die alle eines zeigen: Angela Merkel geht es schon lange nicht mehr um „die Sache“. Angela Merkel geht es nur noch um Angela Merkel. Um ihr Ansehen, ihr Vermächtnis, ihr Bild in den Geschichtsbüchern. Darum kämpft sie, um jeden Preis – einen Preis, den andere bezahlen müssen, ihre Partei, ihr Land, nicht zuletzt die von ihr so hochgehaltene EU.
Das ist auch der einzige Grund für die erbitterte Auseinandersetzung mit Horst Seehofer um Zurückweisungen an der deutschen Grenze. Wenn es ihr um „die Sache“ gegangen wäre, hätte sie schnell zustimmen können. Schließlich betreibt sie seit gut zweieinhalb Jahren selbst Abschottungspolitik. Allerdings nur halbherzig und nicht konsequent, weil sie unter keinen Umständen öffentlich eingestehen will, dass sie schwere Fehler gemacht hat. Zurückweisungen in großem Umfang wären ein solches Eingeständnis, würden sofort die Frage provozieren: warum nicht gleich so?
Nein, mit allen Mitteln will sie den Nimbus aufrechterhalten, will sich über die Zeit retten, will vergessen machen, um vielleicht später doch noch irgendwie als „große Kanzlerin“ durchzugehen: im Idealfall als Retterin des Planeten, Anführerin Europas und Weltmeisterin in Humanität.
Es muss so klar gesagt werden: Ihre Behauptung, es gehe ihr um „die Sache“, ist nichts als eine Lüge – und zwar keine lässliche, taktisch begründete, sachlich veranlasste, einem höheren Ziel dienende Lüge. Es ist die ultimative, die unverzeihliche Lüge. Angela Merkel dient nur noch sich selbst.
Deshalb wird sie auch nicht zurücktreten, jedenfalls nicht unter Druck. Die Frau, die als Arbeitsbiene antrat und sich als Killerhornisse entpuppte, wird ihren Gegnern niemals diesen Triumph gönnen. Sie wird unter allen Umständen versuchen, den Zeitpunkt als souveräne, selbstgewählte Entscheidung erscheinen zu lassen. Und wenn sie sich dann irgendwann zurückzieht, wird es um „der Sache“ willen sein. Natürlich.
Robert von Loewenstern ist Jurist und Unternehmer. Von 1991 bis 1993 war er TV-Korrespondent in Washington, zunächst für ProSieben, später für n-tv. Er lebt in Bonn und Berlin.