Von Chile (nicht alles) lernen

Der argentinische Präsident Javier Milei hat viel vor: die Zentralbank auflösen, den Staatsapparat mit der Kettensäge halbieren und die Wirtschaft von allen Fesseln befreien. So will er das geplagte Land vor dem Kollaps bewahren und zu neuem Wohlstand führen. Unmöglich? Nein – der Nachbar Chile hat genau dieses Wunder vollbracht.

Kennen Sie den Charme von Häusern, die in Epochen des Wohlstands geschaffen wurden, aber dann in Zeiten der Entbehrung gealtert sind? Diese morbide Eleganz liegt über Buenos Aires, der Metropole des Tango am Rio de la Plata; und sie entspricht der Geschichte Argentiniens: Vor hundert Jahren war Argentinien eines der zehn reichsten Länder, heute liegt es auf Platz 60.

Gemessen am pro Kopf GDP ist Argentinien also Dritte Welt. Politische Inkompetenz, Korruption und Überheblichkeit haben das Land dorthin gebracht. Der neue Präsident Javier Milei, seit einem Jahr im Amt, hat nun versprochen, den Verfall zu stoppen, Wirtschaft und Gesellschaft aus der Sackgasse zu befreien und das Land auf den Weg zu neuem Wohlstand zu bringen. Das erfordert schmerzhafte Maßnahmen; liebgewonnene Privilegien müssen verschwinden und ideologische Widerstände beseitigt werden. Damit das gelingt, muss Milei nicht weniger vollbringen als ein Wunder. Ist so etwas möglich? Die Antwort ist „Ja“.

Gut 1.000 Kilometer westlich von Buenos Aires, hinter der gewaltigen Gebirgskette der Anden, liegt Santiago. Welches Flair findet man dort? Hier ist es weder morbide noch elegant. Hier wird nicht gekleckert, sondern geklotzt. Die Stadt ist wie im Zeitraffer in die Höhe und in die Breite gewachsen. Konnte man sich früher im Gewirr der Straßen an den Gipfeln der Anden orientieren, so wird dieser Blick heute in allen Himmelsrichtungen durch gigantische Wolkenkratzer versperrt. Der stolzeste unter ihnen, „La Gran Torre“, ist mit 300 Metern das höchste Gebäude Südamerikas.

Neue Stadtautobahnen haben sich wie ein Teller Spaghetti auf den Grundriss der Stadt gelegt, aber trotz kilometerlanger Unterführungen braucht man immer zwei Stunden, um von A nach B zu kommen. Die Straßen quellen über mit SUVs, in denen Kinder zum Sport chauffiert werden, oder Señoras einen Parkplatz vor dem Coiffeur ihrer Wahl suchen. Mit anderen Worten, Santiago hat all das, was den Begriff „nouveau riche“ ausmacht.

Die Chicago Boys

Ja, Chile ist neureich und selbstbewusst, und es hat dieses Selbstbewusstsein durchaus verdient; es ist heute das erfolgreichste Land Südamerikas. 1987 lebten hier 62 Prozent der Bevölkerung in Armut, 2023 waren es nur noch fünf Prozent. In den 30 Jahren von 1980 bis 2010 ist dem Land der Sprung von der Dritten in die Erste Welt gelungen. Das war das „Milagro de Chile“, das chilenische Wunder. Und das kam so:

1970 wurde Salvador Allende chilenischer Präsident. Er folgte dem sozialistischen Vorbild Cubas und verstaatlichte wichtige Industrien. Zusammen mit dem Boykott durch die USA führte das zum wirtschaftlichen Zusammenbruch des Landes, zu Unruhen in der Bevölkerung und zum Militärputsch im September 1973. Die neuen Machthaber griffen nun auf ein wirtschaftliches Konzept zurück, das Jahre zuvor von chilenischen Ökonomen, den „Chicago Boys“, unter der Leitung von Wirtschafts-Nobelpreisträger Milton Friedman der University of Chicago ausgearbeitet worden war.

Viele von den Chicago Boys bekamen jetzt Positionen in der Militärregierung unter Pinochet und konnten die Wirtschaft des Landes wie auf einem weißen Blatt Papier neu konzipieren: streng marktwirtschaftlich, kapitalistisch, verbunden mit der Privatisierung wichtiger Institutionen, etwa der Sozialversicherung. Dieser Schritt wird heute im Rückblick als entscheidender Faktor in Chiles phantastischem Aufschwung bewertet.

Diktaturen

Viele der Veränderungen im System stießen natürlich bei dem einen oder anderen Teil der Bevölkerung auf Ablehnung, wurden aber dennoch durchgesetzt – man lebte ja in einer Diktatur. In dem Maße aber, wie die Erfolge der Wirtschaftspolitik fühlbar wurden, gewann die Regierung an Unterstützung, und die Grausamkeiten des Putsches gerieten in den Hintergrund. 1980 wurde Pinochet von der Bevölkerung in einem Plebiszit mit deutlicher Mehrheit im Amt bestätigt, acht Jahre später verlor er bei einer erneuten Abstimmung, und Patricio Aylwin wurde neuer Präsident. Dieser sanfte Übergang in die Demokratie wird als die andere Hälfte des chilenischen Wunders betrachtet.

Man hat Milton Friedman vorgeworfen, er hätte dem General Pinochet geholfen. Hat er das? Friedman hat dem Land geholfen, nicht dem Diktator. Pinochet ist heute tot, aber Chile erfreut sich des Wohlstands.

Ein Diktator, der tausende von Menschenleben auf dem Gewissen hat, kann seine Schuld durch nichts jemals wiedergutmachen, er kann sie nur noch verschlimmern. So hatte etwa Fidel Castro während eines halben Jahrhunderts kommunistischer Diktatur ein Vielfaches an politischen Morden zu verantworten. Aber er hat diese Schuld noch verschlimmert, indem er das Land über all die Jahre in elendster Armut gehalten hat. Dennoch wird er von vielen in ihrer naiven Wahrnehmung als Held gefeiert.

Das „argentinische Paradoxon“

Was kann Argentinien von Chile lernen? Die beiden Länder sind wie Brüder, sie haben viel gemeinsam, sind aber auch Konkurrenten. Argentinien ist der größere der beiden mit 45 Millionen Einwohnern, Chile hat nur 18 Millionen. Ist der größere Bruder bereit, vom kleineren zu lernen?

Beide Länder haben natürliche Ressourcen im Überfluss und dazu eine hochentwickelte Kultur und gute Ausbildungsstandards. Was fehlt also noch zu wirtschaftlichem Erfolg? Wieso ist Argentinien so arm? Was ist das „Argentinische Paradoxon“?

Ursache ist die instabile Politik des Landes, die durch zu viel Irrationalität und zu wenig Kontinuität zu einer verhängnisvollen Berg- und Talfahrt geführt hat. Politik muss durch Fakten, Logik und Wahrscheinlichkeiten bestimmt werden. Argentinien braucht jetzt Profis in Sachen Wirtschaft, die genug Autorität haben, um Entscheidungen treffen und durchsetzen zu können. Jetzt helfen keine „Evitas“, jetzt braucht man „Chicago Boys“. Da kann der große Bruder etwas vom kleineren lernen.

Es hätte da den idealen Mentor für den frischgebackenen argentinischen Präsidenten gegeben: Sebastián Piñera, zweimaliger Präsident Chiles, erfolgreicher Unternehmer, Milliardär und Bruder des Chicago Boys José Piñera. Der interessierte sich sehr für Mileis Politik und gab ihm in den Medien bereits gute Ratschläge. Dabei sollte es allerdings bleiben. Piñera verunglückte im Februar 2024 tödlich, als der Helikopter, den er selbst steuerte, in einen See stürzte.

In Sachen Militärdiktatur allerdings braucht Argentinien nichts von Chile zu lernen, da hat das Land selbst mit Videla, Galtieri und vielen anderen genügend schlechte Erfahrungen gemacht. Wollen wir Argentinien also – mit Mileis eigenen Worten – alles Gute wünschen:

„Viva la libertad, viva Argentina, carajo“

(Lang lebe die Freiheit, lang lebe Argentinien, verdammt noch mal)

(Der Autor hat von 1977 bis 1986 in Santiago de Chile gelebt, zeitweise in Buenos Aires. Wann immer er in dieser Zeit Deutschland besuchte, fragte niemand, wie es dort wäre; jeder erklärte, wie es dort sei. Falls es Sie interessiert: Die humanitären Verbrechen während der chilenischen Militärdiktatur sind genau analysiert und dokumentiert worden.)

 

Hans Hofmann-Reinecke studierte Physik in München und arbeitete danach 15 Jahre in kernphysikalischer Forschung. In den 1980er Jahren war er für die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) in Wien als Safeguards Inspektor tätig und überprüfte die Einhaltung von Abkommen, welche die Betreiber nuklearer Anlagen mit der IAEA geschlossen hatten und welche der Nicht-weiterverbreitung von Atomwaffen dienten. Später war er als freier Berater für das Management industrieller technisch-wissenschaftlicher Projekte tätig, darunter auch bei Unternehmen aus der Nuklearbranche. Er lebt heute in Kapstadt. Dieser Artikel erscheint auch im Blog des Autors Think-Again. Der Bestseller Grün und Dumm, und andere seiner Bücher, sind bei Amazon erhältlich.

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Leserpost

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Sam Lowry / 23.12.2024

Nachdem all meine Bitten an Gott ins Leere liefen, habe ich soeden allen Beteiligten, Bullen, Knast, Forensik, pp.,  ALLES Schlechte gewünscht. Ist ja Weihnachten. Geht und sterbt schmerzvoll. Man darf sich doch mal was wünschen….

Christiane Neidhardt / 23.12.2024

In München kürzt die Stadt den Personalbestand von 4.500 Stellen um 1.150 Stellen, weil die Steuereinnahmen drastisch sinken. Es geht also auch ohne Milei und Kettensäge.

Richard Loewe / 23.12.2024

meine Bewunderung der “Freiheit” in Chile hält sich in ganz engen Grenzen, denn ein Staat, der seine Bürger entwaffnet, ist eine Diktatur. Aber das sind auch in Deutschland verrückte Ansichten. Sowie, daß man seine Meinung frei äußern kann. Geht gar nicht. Auch in Deutschland. Hat Herr Amin aus U. schön gesagt: Na klar ist die Meinungsfreiheit garantiert. Nur was nach der Meinungsäußerung passiert, das kann man nicht garantieren. Hier in den USA kann ich den Polizisten beleidigen wie es mir in den Sinn kommt - Politiker sowieso. Höflichkeit gesetzlich zu regeln, ist nichts weiter als Diktatur. Bald sind zu scharfe Löffel und Autos verboten oder müssen zumindest registriert werden. Und Chile hat auch eine Zentralbank, Herr Hofmann-Reinecke. Vielleicht schaffen die beiden Freunde JM und DJT ja zusammen die Zentralbank ab, wobei der Donald es einfacher hat: er könnte den privaten Verein Federal Reserve ja einfach ignorieren und eine Abteilung im Treasury Department die offiziellen Zinsen setzen lassen.

Kordula Bayer / 23.12.2024

Milton Friedmann und die Chicagoer gelten originär Libertären als Sozialdemokraten. Das sollte man vielleicht dazusagen.

Lutz Liebezeit / 23.12.2024

Sofern noch Zeit ist, Wohlstand für alle gibt es nur im Nationalstaat. Die Adenauerpolitik hat genau das gezeigt. Der hatte den Spitzensteuersatz auf 96% ab 200.000 DM Jahreseinkommen gelegt. Damals gab es noch Volkseigentum, die Bahn, die Post, die Energiewirtschaft, die Straßen und Autobahnen, .. und alles funktionierte nahezu perfekt. Bis der neoliberale Ungeist ausbrach. Das war Freiheit, Freiheit für die Bürger, und nicht die Freiheit der Konzerne.

Lutz Liebezeit / 23.12.2024

@ Rainer Niersberger Sie gehören hier zu den schlauesten Köpfen, aber bei Merkel haben Sie scheinbar einen blinden Fleck? Merkel hat Deutschland nicht entwirtschaftet. Die Zerstörung der Volkswirtschaft hat kein Vakuum hinterlassen, Merkel hat eine marktradikale Wirtschaftspolitik betrieben. Die heimische Wirtschaft ist corporatisiert worden, der Absatzmarkt gehört jetzt jemand anderem. Feindliche Übernahme. Bill Gates, Joseph Ackermann, George Soros, der Papst, das waren ihre Freunde. Ganz im Sinne der Chicago-Boys. Der Markt bestimmt alles. Dafür mußten Verbrauchergesetze abgeschafft und stillgelegt, das Kartell gebilligt und alles käuflich werden. Das ist viel rationaler, wir sind zur Plünderung für die Mega-Konzerne freigegeben, wir sind nur interessant als “Verbraucher”. Wer braucht schon einen souveränen Staat oder Menschenrechte? Merkel hatte wie die Grünen und Sozialdemokraten “Berater”, z.B. aus Jeff Bezos Amazon-Konzern. Merkels Wirtschaftspolitik hat sich an der Börse orientiert, Aufwärts, Abwärts, Digitalisierung, ihre Politik war immer dann erfolgreich, wenn die Kurse stiegen. Und die steigen bis heute. Kohl, Schröder, Merkel, Scholz haben für Blackrock gearbeitet.

Wolfgang Richter / 23.12.2024

@ Christian Träber - “Wer Soll den Sumpf der ca 5,5 Milionen öffentlich Besdiensteten ausdrocknen.”—Die wo gerade “dran” sind, haben diese Kaste ja in den gerade mal 3 Jahren noch kräftig aufgestockt, nicht in den “Niedriglohngruppen” der JVA, Polizei etc, sondern in ihren Ministerien, gerade zum Ende noch mal hochgelobt mit “Aktion Abendsonne”, damit sich der linksgrüne Abgang dann auch monetär lohnt.

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