Ich glaube, Sie können stolz auf Ihren Vater sein. Er war renitent. Er war nicht angepasst, hatte seine Ideen und seinen Charakter. Ich habe meinen Vater auch erst sehr spät kennengelernt und eigentlich nur oberflächlich. Er war sehr alt. Also ein an Jahren fast viel zu alter Vater. Und er war im Krieg. Aber das auch nicht wirklich. Es verhielt sich in eigenartiger Weise mit ihm. Zu Kriegsbeginn war er schon Mitte dreißig. Wurde eingezogen und an die Ostfront beordert. Wenn ich richtig verstanden habe, sollte er in Polen, erwähnte er nicht einen Ort namens Ostroffmatz oder ähnlich, eine Art Kurzlehrgang erhalten, um anschließend Fronttauglichkeit zu erreichen. In der Nacht vor der abschließenden ärztlichen Überprüfung der körperlichen Voraussetzungen für den bevorstehenden Kriegsdienst, habe er sich, und kannte man ihn später, erschien einem die Geschichte nicht unglaubwürdig, eine Flasche Wodka, eine Kanne Kaffee, zwei Packungen Zigaretten und absolute Schlaflosigkeit verordnet. Dieses Prozedere wirkte sich ungünstig auf einen ohnehin vorhandenen Herzfehler aus. Am nächsten Morgen bekam er vom untersuchenden Arzt, unter Bekundung großen Bedauerns, eine Kriegsuntauglichkeit bestätigt. Er musste dann den Heimweg antreten und konnte seinem Vaterland nicht mehr beistehen. Er wäre auch wohl ein schlechter Soldat geworden. Das Sodatische würde ihm so gar nicht gestanden haben. Er war weder Held, noch Widerstandskämpfer, noch Antifaschist. Er wollte wohl nur sein Leben retten. Und tat das auf seine Weise. Eines war aber auch er ganz sicher nicht: ein Nazi. Was ihn am meisten zu schaffen machte, waren die zu kleinen Stiefel, die man ihm wohl verpasst hatte.
Lieber Herr Bechlenberg! Eine bewegende und zu Herzen gehende Geschichte - vielen Dank für die ehrlichen und tiefen Einblicke. Und schön, dass Sie zumindest für eine kurze Zeit Ihren “Alten” von einer anderen Seite (der Erinnernswerten!) kennengelernt haben.
Ein toller, sensibler Artikel wider die Inflation eines Begriffes. Danke!
Vielen Dank für Ihre wunderbare und lehrreiche Geschichte.
Für mich der wichtigste Beitrag des Autors. Je älter man wird, desto milder fällt das Urteil mit den Altvorderen aus. Respekt dafür, dass Herr Bechlenberg uns diese sehr persönlichen Einblicke gestattet.
Danke für diesen Beitrag, Herr Bechlenberg! Mich treiben ähnliche Gedanken um und ich habe immer ein Zitat aus Thomas Wolfes Roman “Schau’ heimwärts, Engel ” im Hinterkopf : “Wer hat je in seines Vaters Herz gesehen?” Ich habe es nicht und erst zu spät angefangen, den Mann zu verstehen. Scheint das Schicksal von Vätern und Söhnen zu sein…
Mir stiegen beim letzten Satz kurz die Tränen in die Augen. Es waren halt auch damals nicht alle gleich. Schon diese Geschichte beweist es. Mir gehen bei den Vergleichen mit der Nazi Zeit eh die Schnürsenkel auf. Wir werden derzeit von linken und grünen Extremisten versklavt und wenn man aufbegehrt ist man ein Nazi. Aber wir werden kämpfen. Den Genderisten werden demnächst ihre eigenen Sternchen um die Ohren fliegen.
Den ersten Teil der Geschichte hätte ich genauso schreiben können. Mein Alter war ein Spiesser aus dem Bilderbuch. Wirtschftswunder und so. Nachdem ich die ersten Filme über Konzentrationslager gesehen hatte, in der Schule Ende der 70er, wurde ich zum überzeugten Anarchisten, nach einer Woche für Aktion Sühnezeichen in Auschwitz zum Antifaschisten und bis heute anhaltenden Freund Israels. Antifaschismus beinhalte übrigens alles Totalitäre, Religion zählt selbstverständlich genauso dazu. Das nur nebenbei. Mein Vater wurde mit 18 in den Krieg eingezogen, musste in Russland kämpfen und wurde dort verwundet. Über diese Zeit redete er wenig und wenn dann sehr distanziert, meistens waren es irgendwelche Anekdoten aus dem Lazarett, ganz selten kam der Horror durch, den er als Jugendlicher dort durchgemacht haben musste. Zeitlebens war er ein CDU Wähler, wie viele seiner Generation, konservativ aber eher unpolitisch. Trotzdem für mich damals natürlich Anlass endloser Reibung. Manchmal kamen die implantierten Vorurteile über die “Judde” zum Vorschein, wobei er niemals deren Verfolgung im 3. Reich verteidigte und ich später sogar erfuhr, dass sein Vater von der SS bedroht wurde, weil er in seiner Gaststätte noch Juden bediente, wo das schon lange verboten war. Mein Vater verkörperte das Bürgertum, das ich damals hasste, die Nachkriegsgeneration, der es nur auf Wohlstand ankam, die die Vergangenheit vergessen wollte, denen Vietnam egal war und den Kapitalismus feierte. Ich habe in endlosen Streits wahrscheinlich jedes Schimpfwort verwendet, als Nazi hätte ich ihn aber nie bezeichnet. Was Nazionalsozialismus bedeutet, habe ich durch intensives Beschäftigen mit dem Thema gelernt. Ich bin gegen Neonazis vom Schlage Kühnen auf die Strasse gegangen und würde jeden aus der Stadt prügeln, der meint den 20. April feiern zu müssen oder von einem 4. Reich schwadroniert. Die Verwendung des Begriffs durch die heutige Linke ist peinlich, ein Trauerspiel und einfach nur dumm.
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