Derzeit denken viele Deutsche an Auswandern. Lesen Sie hier am Beispiel Brasiliens, wie das im 19. Jahrhundert war – und wie sich die Deutschen erfolgreich integrierten. Brasilien war damals nach den USA das Sehnsuchtsziel schlechthin.
In den hundert Jahren von 1824 bis 1924 ließen sich etwa 220 000 deutschsprachige Einwanderer in Brasilien nieder (im Gegensatz zu etwa 5,5 Millionen Deutschen, die in der gleichen Zeit in die USA auswanderten) und es wird geschätzt, dass etwa 10 Prozent der etwa 220 Millionen Brasilianer Nachfahren von Deutschen sind. Auch im 20. Jahrhundert wanderten noch weitere Deutsche ein, aber ab den 1930’ern versiegte der Strom weitgehend. Schätzungen zu der Zahl der deutschen Einwanderer insgesamt nach Brasilien schwanken zwischen 250.000 und 300.000 (Österreich bzw. die Donaumonarchie und die Schweiz eingerechnet). Nach den Portugiesen, Spaniern und Deutschen wandern ab 1870 auch viele Italiener ein. Ironie der Geschichte dabei: Deutsche und Italiener waren mit die größten Auswanderervölker, die millionenfach die Neue Welt besiedelten, dennoch haben sich ihre Sprachen außerhalb ihrer europäischen Mutterländer kaum durchgesetzt.
Der Anstoß zur systematischen Anwerbung von deutschen Siedlern (was damals auch Österreicher einschloss) ging von der habsburgischen Prinzessin Leopoldine aus, Frau des brasilianischen Kaisers Pedro I (1822-1831), der seinerseits der portugiesischen Braganza-Dynastie entstammte. Leopoldine schätzte ihre Landsleute als zuverlässige und gute Arbeiter und Bauern im gerade erst (1824) unabhängig gewordenen Brasilien und die Deutschen waren die ersten nicht-iberischen Einwanderer.
Der 25. Juli 1824, also vor mittlerweile 200 Jahren, wird allgemein als der Tag der Deutschen Einwanderung angesehen und als solcher auch in Brasilien gefeiert, obwohl es auch vorher schon einzelne deutsche Siedler gab. An diesem Tag kam eine vierzigköpfige Gruppe deutscher Auswanderer im südbrasilianischen Hafen Porto Alegre an, die speziell im Auftrag der brasilianischen Regierung von dem deutschen Werbungsbeauftragten Georg Anton von Schäffer angeworben worden waren. Sie ließen sich in dem von der Regierung angewiesenen Gebiet in der Nähe von Porto Alegre nieder, wo die Siedlung Sao Leopoldo als erste deutsche Niederlassung entstand. Danach kamen immer mehr und wurden systematisch als Pioniere angesiedelt.
Wichtig war der brasilianischen Regierung, dass Familien oder Ehepaare kamen, von denen man sich zu Recht mehr Stabilität als von jungen, ungebundenen Männern versprach. Einen „Wilden Süden“ analog zum Wilden Westen der USA gab es dann in Brasilien auch nicht. Konflikte mit einheimischen Indianern und auch mit den bereits angesiedelten Großgrundbesitzern gab es allerdings schon.
Die Aussicht auf ein neues, selbstbestimmtes Leben
Die Siedler kamen aus allen Teilen Deutschlands, bzw. des deutschsprachigen Raumes (Deutschland als Staat gab es noch nicht), aber besonders aus armen, ländlichen Gebieten, schwerpunktmäßig aus dem Hunsrück, Westfalen und Pommern. Die Gründe waren ähnlich wie auch bei der Auswanderung in die USA: Armut und Schulden wegen der Erbteilung bei Bauern, oder Arbeitslosigkeit wegen der Industrialisierung im Fall der Handwerker und Arbeiter. Kriege und in bestimmten Gegenden Übervölkerung oder Missernten und Hungersnöte, oder die Abhängigkeit von einem Fürsten, spielten auch eine Rolle. Die Aussicht auf ein neues, selbstbestimmtes Leben mit eigenem Land, auch die Exotik und das Abenteuer lockten tausende Auswanderer. Wer gerne mehr zu den damaligen Zuständen im Hunsrück und den Lockruf Brasiliens erfahren will, dem sei der Film „Die andere Heimat“ von 2013 empfohlen.
Wie so oft, wurden viele Auswanderer enttäuscht, aber die meisten blieben und brachten es irgendwann zu einem akzeptablen Leben, teilweise sogar zu Wohlstand. In seltenen Fällen, allerdings erst später im 19. Jahrhundert, ließen sich bereits wohlhabende Deutsche in Brasilien nieder und hatten ein recht angenehmes Leben, wie die bereits ansässigen portugiesischstämmigen Pflanzer.
Die allermeisten deutschen Siedler wurden in den Süden geschickt. Anders als heute, wo der Süden Brasiliens, auch dank der deutschen Siedler, der sicherste, wohlhabendste und stabilste Teil des Landes ist, war es zu Anfang des 19. Jahrhunderts noch eine ziemliche Wildnis. Allerdings war das Klima hier erträglicher als in den tropischen Gegenden weiter im Norden. Neben der Urbarmachung eines unentwickelten Landesteiles sollten sie auch die unsichere Südgrenze zu den sich ebenfalls gerade erst formenden neuen Staaten Uruguay und Argentinien besiedeln und verteidigen.
Saatgut, 70 Hektar Land und etwas finanzielle Hilfe
Die Regierung siedelte die Deutschen speziell als selbständige Kleinbauern an, im Gegensatz zu den sonst in Brasilien vorherrschenden Plantagen mit Sklavenarbeit. Sie bekamen Saatgut, 70 Hektar Land und etwas finanzielle Hilfe von der Regierung, mussten als Pioniere aus dem Urwald erst Schneisen heraushauen, dann Hütten bauen und Felder anlegen und der Regierung im Kriegsfall auch als Soldaten dienen.
Bis die Parzellen einen Ertrag lieferten, dauerte es ein paar Jahre. Neben dem Ackerbau mit Kartoffeln, Reis und Tabak wurde auch Viehzucht hauptsächlich für den Eigenbedarf betrieben mit Milchvieh, Schweinen und Geflügel und Produkte daraus hergestellt, die auch verkauft wurden, obwohl die Märkte weit entfernt waren. Die Vermarktung übernahmen Händler und die Bauern waren von diesen abhängig und mussten die Preise nehmen, die sie kriegen konnten, und die Preise für eingeführte Produkte bezahlen, die der Händler verlangte, da es keine Alternative gab.
Die Deutschen erwiesen sich als gute Bauern und Handwerker und es entstanden kleine Ortschaften mit deutschen Schulen, Vereinen und Kirchengemeinden. Auch kleine Brauereien und Wirtshäuser ließen nicht lange auf sich warten. Für lange Zeit waren die Siedlungen und Städtchen sehr homogen und zogen Neusiedler speziell in Orte, wo ihresgleichen war. Viele Städte und Gemeinden im Süden Brasiliens sind deutsche Gründungen, allerdings kann man nur bei wenigen von ihnen, etwa Blumenau (Foto), Pomerode, Teutonia oder Nova Friburgo dies aus dem Namen ableiten, die allermeisten tragen portugiesische Namen, darunter auch Großstädte wie Curitiba, Brusque und Sao Leopoldo. Während einige kleinere Orte wie Pomerode (gegründet 1863) einen starken deutschstämmigen Bevölkerungsanteil und einen ziemlich eindeutig deutschen Charakter bewahrt haben, mit Fachwerkhäusern und deutschen Vereinen und Festen, sind die meisten von Deutschen gegründete Städte kaum von anderen brasilianischen Großstädten mit Hochhäusern und dem üblichen Völkergemisch zu unterscheiden.
Spielball der Politik
Auch wollte die Regierung mit der Ansiedlung von Deutschen und anderen Europäern sicherstellen, dass sich die „Rassenbalance“ zu Gunsten der Europäer entwickelte, denn schon damals waren sehr viele Sklaven aus Afrika in Brasilien, und auch Mischlinge und auch einige Indianer. Die räumliche Trennung zwischen hauptsächlich weißem Süden und dunkelhäutigem Norden ist bis heute auf der demographischen Karte Brasiliens erkennbar.
Parallel zu den USA nahm die Einwanderung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer weiter zu und bis 1870 waren die deutschen Einwanderer die zweitgrößte Gruppe nach den Portugiesen. Ab 1870 siedeln sich, analog zu den USA, auch vermehrt Italiener in Brasilien an. Mit dem sich anbahnenden Ende der Sklaverei (die endgültige Abschaffung war in Brasilien erst 1888) wuchs der Bedarf an Arbeitskräften, vor allem in der Landwirtschaft, weiter. Die deutsche Einwanderung nahm allerdings im späten 19. Jahrhundert ab, wahrscheinlich wegen des wirtschaftlichen Aufstiegs des deutschen Kaiserreichs, während aus den weiterhin stark landwirtschaftlich geprägten und relativ armen Ländern wie Portugal, Spanien und Italien die Einwanderer weiterhin nach Brasilien strömen und damit den „mediterranen“ Charakter Brasiliens begründen, anders als im Fall der USA.
Erst in den 1930’er Jahren drosselt der nationalistische Präsident Getulio Vargas die Einwanderung drastisch, aus Sorge, Brasilien würde seinen „brasilianischen“ Charakter verlieren, wenn sich überall ethnische Enklaven bilden würden. Die bereits ansässigen Deutschen (und andere Einwanderer, die ihre Kultur ausleben) wurden auf vielerlei Art zwangsweise zu Brasilianern gemacht, durch Verbot von deutschsprachigen Schulen, Vereinen und Zeitungen. Obwohl Vargas‘ Politik eine Art Faschismus war, wurde die deutsche Kultur gerade mit dem Auge auf den Nationalsozialismus unterdrückt, da man fürchtete, die deutschen Einwanderer seien eine fünfte Kolonne. Was Vargas nicht erreichte, das tat die Zeit: Ab einer bestimmten Generation, natürlich auch durch Vermischung und Fortzug in die Zentren, sprachen die Deutschstämmigen kein Deutsch mehr, oder nur noch bei speziellen Kulturfesten, und wurden in das multi-kulturelle Brasilien eingesogen wie alle anderen Völker auch.
Bekannte Deutsch-Brasilianer
Wie Einwanderer überall in der Neuen Welt, haben auch die Deutschen in Brasilien in Politik, Medien, Kunst, Architektur, Musik und Sport ihre Spuren hinterlassen.
Am bekanntesten ist wahrscheinlich das Supermodel Gisele Bündchen (geboren 1980), Deutsch-Brasilianerin der sechsten Generation. Auch der Tennisspieler Gustavo Kuerten (geboren 1976) ist weit bekannt. Vera Fischer (geboren 1951), Schönheitskönigin der späten 1960er Jahre und später Schauspielerin, die noch deutschsprachig aufwuchs, ist älteren Semestern bekannt.
Die Sängerin Astrud Gilberto (geborene Weinert, 1940 - 2023) ist Bossa Nova- und Jazz-Liebhabern (wie der Autor) ein Begriff, vor allem durch ihr weltbekanntes Lied „The Girl from Ipanema“. Ihr Vater kam in den 1930er Jahren direkt aus Deutschland und heiratete eine Brasilianerin. Gilberto selbst wanderte auf dem Höhepunkt ihres Erfolges in den 1960ern wie viele erfolgreiche Künstler in die USA aus.
In den 1980’ern und 1990’ern war auch der Schriftsteller und Umweltaktivist Jose Lutzenberger (1926 - 2002) in den deutschen Medien präsent. Er diente 1990 bis 1992 als erster Umwelt-Staatssekretär unter Präsident Fernando Collor de Melo, dessen Nachname Collor übrigens eine portugiesische Adaption des deutschen Nachnamen Köhler ist, so dass auch der damalige Präsident teilweise deutsche Vorfahren hat.
Ebenfalls international bekannt ist der Architekt Oscar Niemeyer (1907 - 2012), unter anderem der Schöpfer der modernistischen Hauptstadt Brasilia. Seine Großeltern waren deutsche Einwanderer.
Hinweis: Zurzeit, bis zum 29. Januar, gibt es im Foyer der brasilianischen Botschaft in Berlin eine Ausstellung zur deutschen Besiedlung Brasiliens unter dem Thema „Aufbruch in ein fremdes Land“. Eintritt ist frei, keine Anmeldung ist erforderlich. Offen Montag bis Freitag von 10 bis 17 Uhr. Dieser Beitrag basiert zum großen Teil auf der Ausstellung.
Sebastian Biehl, Jahrgang 1974, arbeitet als Nachrichtenredakteur für die Achse des Guten. Vor Kurzem erschien von ihm „Ein Volk sucht seinen Platz. Die Geschichte von Orania und dem Freiheitsstreben der Afrikaaner.“ Dieses kann hier oder hier bestellt werden.