Von Mathias Brodkorb.
Wenn es um die "Rückgabe" von Exponaten aus Völkerkundemuseen geht, kommt die Theorie "kultureller Aneignung" zu voller Entfaltung. Die Artefakte gehören der „Ursprungsgemeinschaft“, die ethnische Zugehörigkeit ist entscheidend. Ist das nicht völkisches Gedankengut?
Es gibt neben der „historischen Gerechtigkeit“ noch eine zweite Begründung, die die Rückgabe von Kulturgütern aus kolonialen Kontexten moralisch rechtfertigen soll: das „ethische Prinzip“ (1) kultureller Bedeutsamkeit. Wegweisend hierfür war eine Rede vom 7. Juni 1978. Der damalige Generaldirektor der UNESCO, Amadou-Mahtar M’Bow, forderte vom Westen die „Rückgabe“ zumindest jener „Kunstschätze“ nicht-weißer Gemeinschaften, die diese „für die wichtigsten halten“ (2). Diese Forderung gehört zum selbstverständlichen Argumentationsinventar westlicher wie nicht-westlicher Museumsleiter (3) – und zwar ganz unabhängig von Rechts- oder Eigentumsfragen. (4) Aber wer entscheidet eigentlich darüber, welche Artefakte für die Identität eines Volkes von „besonderer Bedeutung“ sind?
Für Peter Ganslmayr, einst Leiter des ethnologischen Museums Bremen und Vorreiter der Restitutionsdebatte in Deutschland, war das schon 1980 ganz klar: „Das kann nur durch das Volk geschehen, welches ein kulturelles Erbe verloren hat“ (5). Vorbereitet wurde diese Weltsicht im Jahre 1976 auf einer Konferenz der UNESCO ausgerechnet in Venedig.
Für heutige westliche Ohren hat all das aber trotzdem einen merkwürdigen Klang. Was damit ehemaligen Kolonien des Westens wie selbstverständlich zugestanden wird – das Festhalten an kulturellen Traditionen zur Bewahrung der Identität eines Volkes –, erregt in Deutschlands und Österreichs Öffentlichkeit zuverlässig den Faschismus-Verdacht. Das Recht auf kulturelle Identität wäre damit das alleinige Privileg nicht-weißer „Schwarzer“ geworden.
Angeeigneter Punchy Jerk Rice
Das entspricht bruchlos der Opfer-Täter-Logik des Postkolonialen Narrativs: Während die ehemaligen Kolonien des Westens ein Recht auf kulturelle Identität haben, soll der Westen umgekehrt moralisch dazu verpflichtet sein, dem „Nomadentum“ der Welt eine Heimstatt zu bieten und sich kulturell zu „verflüssigen“, sich also im Namen einer ominösen „historischen Gerechtigkeit“ selbst aufzugeben. Erneut kommen damit unterschiedliche Maßstäbe zur Anwendung. Der britische Starkoch Jamie Oliver dürfte daher nicht schlecht gestaunt haben, welche identitätspolitische Welle seine durchweg harmlose Kreation Punchy Jerk Rice im Jahre 2018 auslösen sollte. Jerk ist eine fruchtige jamaikanische Würzmischung und wird traditionell als Marinade für Fleischgerichte verwendet. Oliver nutzte sie stattdessen, um ein Reisgericht zu veredeln.
Und schon erregte sich eine Labour-Abgeordnete jamaikanischer Abstammung, Dawn Butler: „Diese Aneignung von Jamaika muss aufhören.“ (6) Da Oliver kein ethnischer Jamaikaner sei, habe er nicht das Recht dazu, unerlaubt eine jamaikanische Marinade zu nutzen. Die Theorie zu diesem Irrsinn hat im Jahr 2005 die US-amerikanische Professorin für Moderecht Susan Scafidi geliefert. (7) Seitdem ist die Debatte über „kulturelle Aneignung“ (cultural appropriation) der neueste Schrei auch der postkolonialen Community. Scafidi konstruierte damals ethnisch definierte Eigentumsrechte an Kulturleistungen, die von der UNESCO als „immaterielles Kulturerbe“ (intangible cultural heritage) bezeichnet werden: also Handwerkskünste, Kleidungsstile, Tanz und Sport – oder eben kulinarische Traditionen.
Nicht nur den Schöpfern von Werken sollen Vorteile der Urheberschaft zustehen. Aufgrund einer angeblichen „Gruppenurheberschaft“ (community-group authorship) soll das beim immateriellen Kulturerbe auch für alle Angehörigen einer „Ursprungsgemeinschaft“ (source community) gelten. (8) Nach dieser Logik hätte Jamie Oliver somit allen Jamaikern eine Entschädigung für seinen Punchy Jerk Rice zahlen müssen. Und zwar nicht deshalb, weil sie alle an der Erfindung des Jerk beteiligt gewesen wären, sondern bloß deshalb, weil sie Jamaikaner sind. Genau so funktioniert völkisches Denken. Wer heute Jerk herstellt oder nutzt, ist aber kein Erfinder, kein Urheber.
Kulturelle Güter als Verkörperungen des „Volksgeistes“
Den Unterschied zwischen tatsächlichem Schöpfer und bloßem Anwender schafft Scafidi mit dem deutschen Begriff des „Volksgeistes“ aus der Welt. Kulturelle Güter sind für sie nur als Verkörperungen des „Geistes eines Volkes“ (spirit of a people) bedeutsam. (9) Sie sagt im Akt einer kulturellen Aneignung wortwörtlich: „Im Falle von Kulturprodukten (…) ist das immaterielle Gut der Volksgeist“ (10). Nicht also die kulturelle Schöpfung ist für Scafidi das Bedeutsame, sondern eine quasi-völkische Substanz, die dem Objekt überhaupt erst dessen kulturelle Bedeutung verleiht. Und nur wer der „Ursprungsgemeinschaft“ (source community) (11) und damit demselben „Volksgeist“ zugehört, kann eine Währung ganz anderer Art namens „Authentizität“ (authenticity) ins Spiel bringen. Von ihr spricht Scafidi inihrem Buch mehr als einhundert Mal. „Authentizität“ meint in diesem Zusammenhang bloß dies: Nur die Vertreter eines „Volksgeistes“ haben auch das Recht, weil die durch bloße Geburt verliehene ethnokulturelle Befähigung, über die kulturelle Bedeutung eines „indigenen“ Objektes zu befinden.
Auch bei der Restitutionsdebatte in den Völkerkundemuseen kommt diese Theorie kultureller Aneignung zur Geltung. Demnach können nur Vertreter einer „Ursprungsgemeinschaft“ authentisch darüber Auskunft geben, wie ein kulturelles Artefakt zu verstehen sei. Das soll selbst dann gelten, wenn sie mit den dafür erforderlichen kulturellen Traditionen längst nicht mehr vertraut sind. Die ethnische Zugehörigkeit macht den Unterschied. Scafidis Position ähnelt daher nicht nur völkischem Gedankengut, sie ist strukturell völkisch. Das bestätigt auch Frank Franz im Gespräch mit dem Autor dieses Buches. Franz war bis 2024 insgesamt zehn Jahre lang Bundesvorsitzender der NPD (heute: Die Heimat), jener Partei also, die vom Bundesverfassungsgericht im Jahre 2017 als erwiesen rechtsextremistisch eingestuft wurde.
Er bekennt sich aber nicht zum Hitlerismus, sondern stattdessen zu einem angeblich gleichberechtigten Miteinander aller Völker auf ihren angestammten Territorien, also zu einer „Vielfalt der Völker“ (Ethnopluralismus). Das Ergebnis bleibt trotzdem: Deutschland den Deutschen, Ausländer raus! Dass Scafidis Gedanken zu dieser Ideenfamilie gehören, ist für Franz klar: „Die Gemeinsamkeit zwischen ihrem und meinem Denken besteht vor allem darin, dass wir beide von einem ‚Volksgeist‘, einer ‚Volksseele‘ ausgehen“. Der Volksgeist sei „der Urquell der Identität des Volkes“. Nur wer ihn in sich trage, könne die Kultur eines Volkes „wirklich verstehen, sie leben, sie angemessen weiterentwickeln, sie authentisch verkörpern“. Darin sind sich Franz und Scafidi völlig einig. Hier schließt sich der Kreis zu den Restitutionsdebatten der Gegenwart.
„Die sind nicht ‚Dinge‘! Die reden!“
Auch die materiellen Objekte können angeblich nur durch ihre Einbettung in die Kultur am Ort ihres Entstehens und durch Vertreter der „Ursprungsgemeinschaft“ wirklich verstanden werden. Die Rückgabe von Kulturgütern wird daher nicht mehr rechtlich begründet, sondern längst ethnokulturell und damit völkisch. Stillschweigend werden die heutigen Nachfahren „biologistisch“ an ihre Vorfahren gekettet, „so als würde ein solches Erbe, vergleichbar mit Genen, in einer Blutlinie von einer Generation auf die andere weitergegeben werden.“ (12) Die Kräftigung oder Wiederherstellung dieses völkischen Bandes gilt aus postkolonialer Sicht als das eigentliche Projekt der Rückgabe von Objekten aus dem kolonialen Kontext.
Die „Annexion von Kulturgütern“ durch westliche Museen hat die Afrikaner gemäß Bénédicte Savoy „ihres Menschseins (Spiritualität, Kreativität, Weitergabe)“ beraubt. (13) Mit ihrer Rückgabe gehe es daher „um den Zugang der afrikanischen Jugend zu ihrer eigenen Kultur (…) und Spiritualität längst vergangener Epochen“. Es steht somit zur Debatte, „eine zusammenhängende Kette der Erinnerung wiederzufinden“ (14). Und zwar gerade dort, wo sie längst zerbrochen ist. Zu dieser afrikanischen Spiritualität gehöre es auch, dass materielle Objekte in Wahrheit „handelnde Subjekte“ seien. (15) Bestätigung findet diese These in einem jüngeren Dokumentarfilm, an dem auch Bénédicte Savoy mitgewirkt hat.
Der Historiker Prinz Kum’a Ndumbe III. hat in Bayern sein Abitur abgelegt und an Universitäten in Frankreich und Deutschland gelehrt. Der Enkel des Duala-King Lock-Priso lebt heute als Kronprinz wieder in Douala. Als er in dem Film nach der Bedeutung afrikanischer Artefakte befragt wird, sitzt er auf einem Sessel. Links und rechts von ihm stehen verschiedene Gegenstände. Er sagt in nahezu perfektem Deutsch, aber sichtlich erregt: „Europa muss aufhören zu glauben, sie sind die einzigen Denker auf dieser Welt. Es reicht!“ Dann greift er zu einem Holzstab, um wahllos auf den Artefakten herumzutrommeln: „Alle diese Sachen, die Sie hier sehen“ – der Prinz unterbricht für einen Moment seinen Redefluss, um den Holzstab umso energischer auf die Artefakte niederfahren zu lassen –, „die sind nicht ‚Dinge‘! Die reden!“ (16) Seit mehr als 25 Jahren kämpft der Prinz darum, dass der von Max Buchner seinem Großvater einst entwendete Kanu-Schmuck (Tange) wieder zurück kommt nach Afrika.
Geistige Hochzeit linker und rechter Postmodernisten
Aber nicht der Staat Kamerun soll der Eigner werden. Der Prinz beansprucht den Tange für sich selbst. (17) Bénédicte Savoy hat diesen animistischen Zugang zur Welt in ihre wissenschaftliche Arbeit integriert und salonfähig gemacht. In einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projekt wurden die rund 40.000 kamerunischen Artefakte in Deutschland gesichtet und teilweise untersucht. Sie weist im Abschlussbericht ausdrücklich darauf hin, dass es sich bei ihnen – auch aus ihrer Sicht – nicht um „Objekte“ handelt: „Viele unter ihnen sind mit singulären Kräften, generationsübergreifenden Geschichten, einem Charakter, einer Macht, manche sogar mit einem Willen und einer Sprache ausgestattet, oder um es auf Englisch zu formulieren: sie haben eine agency.“ (18) Savoy begnügt sich also nicht mit der Analyse ihres Erkenntnisgegenstandes, sondern macht sich mit ihm gemein.
Der Preis: Zwischen Obskurantismus und Wissenschaft lässt sich nicht mehr sinnvoll unterscheiden. Postkolonial ausgedrückt klingt das eleganter: Es gehe um die Zurückweisung der „Theologie des Humanismus“ (Cameron), um die „epistemische Gewalt“ (Spivak) des Westens zu unterbinden. An ihre Stelle soll eine gleichberechtigte „Vielstimmigkeit“ treten, die „Koexistenz mehrerer Wissensregime“ (Sarr/Savoy). All das bedeutet im Kern aber nichts anderes als: Der postkoloniale Fortschritt soll in der Zertrümmerung der begründeten Unterscheidung zwischen „wahr“ und „falsch“ bestehen und die Wissenschaft intellektuell in voraufklärerische Zeiten zurückverfrachtet werden. Unter der Fahne des Postkolonialismus halten animistisches und völkisches Denken somit wieder Einzug in die westliche Wissenschaft. Hantiert wird im Hinblick auf Afrika von westlichen Intellektuellen mit Kategorien, die sie für sich selbst mutmaßlich als „völkisch“ ablehnen würden.
Man stelle sich nur den Aufschrei in Deutschland vor, wenn jemand ernsthaft die Forderung aufstellte, in der deutschen Jugend müsse die „Spiritualität“ der alten Germanen wieder zum Leben erweckt werden. Zustimmung für derartige Vorhaben wäre wohl nur von einer mystisch ausgerichteten politischen Rechten zu erwarten: „Viel wichtiger als die Institutionen des politischen Systems sind uns (…) die gesellschaftlich überlieferten Mythen und der darin enthaltene Volksgeist. (…) Wir möchten (…) den alten Geist der europäischen Kulturen wiedererwecken“, sagte schon vor Jahrzehnten der Vordenker der französischen Neuen Rechten Alain de Benoist. (19) Linke und rechte Postmodernisten haben geistig längst Hochzeit miteinander gefeiert, ohne es überhaupt zu bemerken.
Dies ist ein Auszug aus dem Buch Postkoloniale Mythen. Auf den Spuren eines modischen Narrativs. Eine Reise nach Hamburg und Berlin, Leipzig, Wien und Venedig von Mathias Brodkorb, erschienen am 7. Mai 2025 im zuKlampen Verlag, für 28,00 Euro, hier bestellbar.
Mathias Brodkorb (*1977 in Rostock) ist ein deutscher Journalist. Er war Finanz- und Bildungsminister in Mecklenburg-Vorpommern und Vorsitzender der dortigen SPD-Landtagsfraktion.
Anmerkungen:
(1) Ganslmayr, Herbert (1980): Wem gehört die Benin-Maske? Die Forderung nach Rückgabe von Kulturgut an die Ursprungsländer, in: Vereinte Nationen 3/80, S. 88–92, S. 91.
(2) M’Bow, Amadou-Mahtar (1978): A plea for the return of an irreplaceable culturalheritage to those who created it, Quelle: https://translanth.hypotheses.org/ ueber/mbow#Originaltext; zuletzt aufgerufen am 14. August 2024.
(3) Zur minutiösen Aufarbeitung der damaligen Debatte siehe Savoy, Bénédicte (2023): Afrikas Kampf um seine Kunst. Geschichte einer postkolonialen Niederlage, München, S. 64, 101, 103, S. 155.
(4) Ganslmayr 1980, S. 90 f.
(5) Ebd., S. 91.
(6) Quelle: https://x.com/dawnbutlerbrent/status/1030741609984548864, zuletzt aufgerufen am 21. März 2021.
(7) Scafidi, Susann (2005): Who Owns Culture? Appropriation and Authenticity in American Law, New Brunswick (Kindle-Ebook).
(8) Ebd., S. 5.
(9) Ebd., S. 29.
(10) Ebd., S. 51. Das Wort „Volksgeist“ im Original auf Deutsch.
(11) Ebd., S. 3.
(12) Hauser-Schäublin, Brigitta (2021): Provenienzforschung zwischen politisierter Wahrheitsfindung und systemischem Ablenkungsmanöver, in: Sandkühler/Epple/Zimmerer (Hg.) 2021, S. 65.
(13) Sarr, Felwine/Savoy, Bénédicte (2019): Zurückgeben. Über die Restitution afrikanischer Kulturgüter, Berlin, S. 23.
(14) Ebd., S. 17, S. 36.
(15) Ebd., S. 75.
(16) Fellmann, Johannes/Grumbkow, Jochen von und Lederer, Grit (2024): Der Perlenthron – Kameruns Kulturerbe in deutschen Museen, Medea Film Factory, Deutschland/Kamerun, Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=Ex73NmwfE0w, Min. 24:45–25:20; zuletzt aufgerufen am 19. März 2025.
(17) Brief von Prince Kum’a Ndumbe an Uta Werlich vom 28. November 2022, in: Meyer, Andrea/Savoy, Bénédicte et al. (2023): Atlas der Abwesenheit. Kameruns Kulturerbe in Deutschland, Heidelberg, S. 343–350.
(18) Savoy, Bénédicte/Gouaffo, Albert (2023): Das Projekt, in: Meyer, Andrea/Savoy, Bénédicte et al. (2023): Atlas der Abwesenheit. Kameruns Kulturerbe in Deutschland, Heidelberg, S. 9–26, S. 11.266
(19) „Den alten Volksgeist erwecken“, Interview mit Alain de Benoist, DER SPIEGEL 34/1979, Quelle: https://www.spiegel.de/kultur/den-alten-volksgeist-erwecken-alain-de-benoist-a-73b0d5a6-0002-0001-0000-000039908730