Das neue Buch „Postkoloniale Mythen“ von Matthias Brodkorb ist ein intellektueller Befreiungsschlag gegen Geschichtsfälschung.
Matthias Brodkorbs „Postkoloniale Mythen“ ist ein akribisch recherchiertes Werk, das sich mit großer Klarheit gegen die Verzerrungen und Vereinfachungen der sogenannten postkolonialen Narrative wendet. Die Vertreter des „Postkolonialismus“ behaupten sinngemäß, dass der Kolonialismus eigentlich nie wirklich geendet habe und die Schuld an nahezu allen Fehlentwicklungen in der Dritten Welt bei den ehemaligen europäischen Kolonialherren liegt. In einer Zeit, in der historische Wahrheiten oft ideologischen Vorgaben geopfert werden, stellt Brodkorbs Buch daher einen längst überfälligen Widerspruch dar.
Brodkorb nimmt die Leser darin mit auf eine Reise durch die „Brutstätten der Fake History“, insbesondere die Völkerkundemuseen in Städten wie Wien, Berlin, Hamburg und Leipzig und entlarvt ein Milieu unseriöser Historiker, das vom Unwissen der Allgemeinheit speziell in Sachen afrikanischer Geschichte profitiert.
Neue Namen
Exemplarisch für den ideologischen Unsinn der „postkolonialen“ Historiker sind die neuen Namen der Völkerkundemuseen, die sich bemühen, ihren selbst empfundenen „kolonialen Makel“ durch Umbenennungen zu kaschieren: Das Wort „Völkerkunde“ fühlt man offenbar als einen Begriff voll kolonialer Arroganz, weswegen sich einige dieser Museen nun stattdessen lieber „ethnologische Museen“ nennen – obwohl das einfach nur das griechische Wort für „Völkerkunde“ ist.
Brodkorbs Besuche in vier Museen sowie der Biennale in Venedig – mit zahlreichen Quellen dokumentiert auf 273 Seiten – offenbaren ein Muster: Unliebsame Fakten werden systematisch weggelassen, um das absurde Märchen vom „weißen Teufel und nicht-weißen Engel“ zu zementieren. Beispiele für diese Verzerrungen sind zahlreich und schockierend: In einer Tansania-Ausstellung im Berliner Völkerkundemuseum beispielsweise wird das seit Jahrhunderten funktionierende Netzwerk von Sklavenhändlern an Afrikas Ostküste um die Insel Sansibar als eine Art „frühe EU“ verklärt, während der Grund für die Flucht von Sansibars berühmtestem Sohn Freddie Mercury von der Insel gänzlich verschwiegen wird. Dieser Grund aber war ein blutiges Massaker, das die Schwarzafrikaner der Region an ihren arabischen und persischen Kolonialherren 1964 begingen und das die im Museum mühsam gestrickte falsche Legende von der angeblichen Harmonie zwischen islamischen Kolonialherren und Afrikanern vor Ankunft der Europäer empfindlich stören würde.
Neben der Fake History in Museen kritisiert Brodkorb auch jene Geschichtsverzerrung, die kürzlich der Kolonial-Kinofilm „Der vermessene Mensch“ von Lars Kraume gestreut hat: Dort erfahren wir viel über deutsche Grausamkeiten an den Herero, aber so gut wie nichts über die Herero selbst, die ebenfalls als imperialistische Eroberer ins heutige Namibia eindrangen, die einheimischen San unterwarfen oder vertrieben und die Damara zu ihren Sklaven machten. Auch davon, dass es die Deutschen waren, die die Damara aus der Knechtschaft der Herero befreiten, erfahren wir in diesem Film – natürlich – nichts. Kaum besser ist die Situation in den öffentlich-rechtlichen Medien: Das ZDF löschte erst im Dezember 2023 einen Beitrag zu einem angeblichen deutschen Giftgas-Einsatz gegen die Herero. Das Zweite Deutsche Fernsehen musste auf Nachfrage einräumen, dass es diesen Einsatz in Wirklichkeit nie gegeben hat.
All dies, so Brodkorb, ist Teil einer gezielten Fake History, die darauf abzielt, Emotionen zu schüren statt Wissen zu vermitteln. Diese Museen und Medien, so sein Vorwurf, behandeln Afrikaner teilweise wie zu bemutternde Kinder, indem sie deren nicht selten blutige Geschichte weitgehend ausblenden, während postkoloniale Historiker und Journalisten selbst wie trotzige Kinder alles ignorieren, was ihrem eigenen ideologischen Weltbild widerspricht.
Entlarvung postkolonialer Mythen
Ein zentraler Mythos ist die weitverbreitete Behauptung: „Afrika ist arm, weil Europa es beraubt hat.“ Tatsächlich aber ist Afrika heute reicher als je zuvor in seiner Geschichte. Die wirtschaftliche Entwicklung des Kontinents, einschließlich der Bevölkerungsexplosion durch medizinische und infrastrukturelle Fortschritte, wäre ohne den Kolonialismus kaum denkbar. Auch Brodkorb belegt in seinem Buch, dass die Kolonialzeit nicht nur zerstörend, sondern auch aufbauend war.
Ein weiterer zentraler Punkt dieses aufbauenden Aspekts des Kolonialismus ist die Abschaffung der Sklaverei. Brodkorb verweist in seinem Buch z.B. auf die wenig bekannte deutsche Antisklaverei-Lotterie, die allein im Jahr 1891 acht Millionen Mark für den Kampf gegen die Sklaverei sammelte.
Natürlich stiegen auch die Europäer über ein halbes Jahrtausend nach den Arabern in den Menschenhandel mit Afrikanern ein – bemerkenswerterweise zu einer Zeit, in der gleichzeitig die islamischen Barbaresken-Staaten von Afrika aus Jagd auf europäische Sklaven machten. Dennoch ist Tatsache, dass es ohne den europäischen Kolonialismus die Sklaverei höchstwahrscheinlich noch heute gäbe. Denn während sich in Europa ab dem frühen 19. Jahrhundert das schlechte Gewissen so sehr regte, dass Großbritannien 1807 ein Verbot des Sklavenhandels aussprach, ging das Sklaverei-Gewerbe im islamischen Raum munter und ungebremst weiter. Zu einem offiziellen Verbot konnten sich arabische Staaten wie z.B. der Oman erst 1970 durchringen – und das auch offenbar nur auf westlichen Druck hin.
Dieser ausgeklammerten Rolle der Europäer bei der Sklavenbefreiung hält Brodkorb die ausgeklammerte Rolle der Afrikaner bei der Versklavung ihrer Mit-Afrikaner gegenüber: Selten bis nahezu nie haben die Europäer Sklaven selbst gefangen, sondern vielmehr die menschliche Ware bereits „fertig versklavt“ an der Küste zum Kauf serviert bekommen – in der Regel von afrikanischen Händlern.
Präkoloniale Sklavenhalter-Diktaturen wie Benin oder Dahomey werden medial in erster Linie als Opfer von Gewalt und Ungerechtigkeiten dargestellt. Als 2024 der postkoloniale Film „Dahomey“ Gewinner-Film der Berlinale wurde, fragte buchstäblich niemand der zahlreichen rezensierenden Journalisten einmal nach, was denn dieses „Dahomey“ überhaupt sei, das dem Film über koloniale Raubkunst seinen Namen gegeben hat – ein brutaler Menschenjäger-Staat nämlich, der Versklavungskriege gegen seine Nachbarn führte. Ähnlich verhält es sich mit dem medial gehypten Benin mit seinen Bronzen – Brodkorb zitiert den britischen Militärarzt Felix Roth, der die grausamen Menschenopfer in Benin beschreibt: „Lebende Sklavinnen, geknebelt und auf dem Rücken an den Boden geheftet, die Bauchdecke in Form eines Kreuzes aufgeschnitten.“ Solche Realitäten, so Brodkorb, sind für die Kuratoren der Völkerkundemuseen ein Tabu, da sie das Narrativ von der Unschuld der präkolonialen Gesellschaften stören. Brodkorbs scharfe Kritik richtet sich gegen diese Historiker, die die Wahrheitsfindung zugunsten ideologischer Narrative aufgeben. Ihre Auslassungen von Tatsachen grenzen für Brodkorb an Geschichtsfälschung.
Die kommunistischen Wurzeln des Postkolonialismus
Auch auf die kommunistischen Wurzeln des postkolonialen Denkens geht Brodkorb ein, insbesondere auf Jean-Paul Sartre und Frantz Fanon. Sartre glorifiziert Gewalt regelrecht als Mittel zur „kolonialen Befreiung“ (während er gleichzeitig die Gulags der kommunistischen Sowjetunion billigte) und Fanon ruft 1961 offen zur Gewalt gegen Kolonialherren auf. Diese Denker, so Brodkorb, haben ein Narrativ begründet, das historische Komplexität zugunsten ideologischer Einfachheit opfert.
Auffällig wenig Interesse zeigen sowohl diese beiden Gewalt-Befürworter als auch andere Vertreter des Postkolonialen am Präkolonialen: Von „Befreiung“ durch Dekolonisierung kann so pauschal und unkritisch nur sprechen, wer die Geschichte Amerikas, Afrikas oder Australiens vor dem europäischen Kolonialismus ausblendet – eine Geschichte, die in weiten Teilen von genozidaler Gewalt, Sklaverei und Unterdrückung geprägt ist. Natürlich liegen große Teile der prä-kolonialen Geschichte des südlichen Afrikas oder Nordamerikas im Dunkeln, kriegerische Gewalt konnte gar nicht dokumentiert werden, weil weder Opfer noch Täter lesen und schreiben konnten. Doch auch diejenigen Fälle prä-kolonialer Gewalt, die gut dokumentiert sind, werden selten an die große Glocke gehängt – oder haben Sie schon einmal vom Crow-Creek-Massaker (Indianer gegen Indianer) um das Jahr 1325 im heutigen Süd-Dakota mit mindestens 486 Todesopfern gehört? Solche Dinge bleiben unerwähnt, weil man politisch keinen Honig aus ihnen saugen kann.
Nicht-Historiker müssen den Job der Historiker machen
Brodkorb ist kein studierter Historiker. Dennoch liefert er, was eigentlich diejenigen zu liefern hätten, die nicht selten an Universitäten sicher und gut als Professoren versorgt und bezahlt werden – ihren Job aber nicht machen.
Er zeigt auf, dass es im deutschen Kaiserreich, das heutzutage nicht selten als eine Art „Light Version des Dritten Reiches“ voller Rassismus und Militarismus dargestellt wird, eine kritische Öffentlichkeit gab, und dass selbst der „militaristische Gockel“ Kaiser Wilhelm II. im Jahre 1888 die „Bekämpfung des Negerhandels und der Sklavenjagden“ als eine zentrale Aufgabe betonte. Deutsche katholische Zentrumspolitiker wie Ludwig Windthorst treiben dieses Anliegen entschlossen voran, während angeblich für das Kaiserreich so „prägende“ Gestalten wie der brutale Carl Peters ihren Rauswurf erhalten.
Was „Postkoloniale Mythen“ so herausragend macht, ist Brodkorbs Fähigkeit, historische Komplexität nicht nur zu betonen, sondern mit konkreten Beispielen zu untermauern. Brodkorb zwingt seine Leser mit einer Fülle von leicht nachprüfbaren Belegen regelrecht, eingefahrene Denkmuster zu hinterfragen und zeigt, dass die Kolonialzeit moralisch komplex war.
Zum aktuellen Lieblingsthema deutscher Kolonialhistoriker, Deutsch-Südwestafrika und dem Herero-Krieg, merkt er an, dass die Nama sich zuerst aktiv an der Niederschlagung des Aufstandes ihrer traditionellen Erzfeinde, der Herero, beteiligten. Einige Nama, die sich später nicht am Aufstand gegen die Deutschen beteiligten, wie etwa die Berseba-Nama unter Christian Goliath, ließen die Deutschen einfach in Ruhe. Kaiser Wilhelm II. nahm den Trotha-Befehl zur Tötung der Hereros zurück (niemand zwang Deutschland dazu, der Kaiser tat das aus eigenem Antrieb), die sogenannten Konzentrationslager wurden nach dem Krieg wieder aufgelöst. Ein Krieg übrigens, an dem sich viele Schwarzafrikaner gar nicht erst beteiligt hatten bzw. eben doch, aber auf Seiten der Deutschen. Solche Nuancen passen nicht ins Schema der Museen, die jede koloniale Handlung als Akt der Gewalt diffamieren.
Selbst regulär und legal erworbene afrikanische Kunstobjekte werden mittlerweile pauschal als „Raubkunst“ bezeichnet. Verdienste des britischen Kolonialismus wie die Beendigung der Witwenverbrennung in Indien werden kleingeredet, gleichzeitig der arabische Kolonialismus beschönigt. Doch nach der Lektüre von Brodkorbs Buch kann der Leser gar nicht anders, als diese zahlreichen moralischen Widersprüche des postkolonialen Denkens zu erkennen.
Ein Plädoyer für historische Ehrlichkeit
„Postkoloniale Mythen“ ist nicht nur ein Plädoyer für historische Ehrlichkeit, sondern ein unverzichtbarer Beitrag zur Aufarbeitung der Kolonialgeschichte. Dieses Buch verdient höchstes Lob für seine Präzision und seine Fähigkeit, eingefahrene Denkmuster zu durchbrechen, während es gleichzeitig die Verantwortungslosigkeit der Historiker an den Völkerkundemuseen scharf kritisiert.
Matthias Brodkorb liefert nicht nur eine Abrechnung mit einem Milieu, das vom geschichtlichen Unwissen der Öffentlichkeit profitiert, sondern auch einen leidenschaftlichen Appell für eine Geschichtsschreibung, die die Vielschichtigkeit und Ambivalenz der Kolonialgeschichte anerkennt. Es ist ein Werk, das inspiriert und die historische Debatte nachhaltig prägen wird.
Das Buch Postkoloniale Mythen. Auf den Spuren eines modischen Narrativs. Eine Reise nach Hamburg und Berlin, Leipzig, Wien und Venedig von Mathias Brodkorb, erschienen am 7. Mai 2025 im zuKlampen Verlag, ist für 28,00 Euro hier bestellbar.
Simon Akstinat ist ein deutscher Autor und Fotograf. Von 2015 bis 2022 war er Chefredakteur der Jüdischen Rundschau in Berlin.