Alexander Wendt / 07.01.2019 / 13:01 / Foto: Bundesregierung.de / 34 / Seite ausdrucken

Vier Meldungen und ein Trauerspiel oder: Die Gesinnungs-Roboter

Muss Medienexegese sein? Ja, denn solange es Medien gibt, sagen sie etwas über Denksysteme und Sprache. Vier mediale Berichte über Gewalttaten Ende Dezember 2018 und Januar 2019 stehen als Material zur Verfügung. Keine Bange vor dem längeren Text. Später gibt es eine Art Pointe.

Die Meldungen:

• Am frühen Abend des 3. Januar 2019 zerstörte ein Sprengsatz die Schaufenster und Teile der Inneneinrichtung des AfD-Büros in Döbeln, außerdem zwei parkende Autos und ein Fenster des gegenüberliegenden Hauses. Die mutmaßlichen Urheber des Anschlags, drei Männer im Alter von 29, 32 und 50 Jahren, fasste die Polizei kurz danach. Zu einem mutmaßlichen Täter besteht im Bundeszentralregister ein Vorstrafeneintrag, zu den anderen nicht.

• Im bayerischen Amberg schlugen am 29. Dezember 2018 vier Asylbewerber im Alter von 17 bis 19 Jahren – drei aus Afghanistan, einer aus Iran – wahllos auf Passanten ein, und verletzten 12 Menschen.

• Am 31. Dezember fuhr ein Mann im Alter von 50 Jahren in Bottrop und Essen mit seinem Mercedes gezielt auf Menschen zu, und verletzte insgesamt acht. Unter den Verletzten finden sich mehrere Migranten, darunter mehrere Syrer. Der Fahrer gab bei seiner Verhaftung sinngemäß an, er habe mit seiner Tat Terroranschlägen von Ausländern zuvorkommen wollen, und machte allgemein einen verwirrten Eindruck. Andreas N. befand sich 2005 schon einmal wegen einer schizophrenen Erkrankung in stationärer Behandlung.

• Am Silvesterabend kam es in Cottbus zu einer Auseinandersetzung zwischen einer Gruppe Einheimischer und einer größeren Ansammlung Nichtdeutscher. „Nach jetzigem Ermittlungsstand zündeten die Südländer einen Feuerwerkskörper“, zitieren lokale Medien den Sprecher der Cottbusser Polizei Ralph Melcher. „Als dieser detonierte, erlitt ein 26-jähriger Deutscher vermutlich ein Knalltrauma. Daraufhin kam es zunächst zu einer verbalen Auseinandersetzung zwischen beiden Gruppen.“berichtet Polizeisprecher Ralph Meier. Nachdem die Zahl der Ausländer rasch auf etwa ein Dutzend anwuchs, seien die vier Deutschen im Alter zwischen 18 und 26 Jahren mit Fäusten geschlagen und auch getreten worden. Rettungskräfte versorgten später die Verletzungen ambulant. Bevor die Täter unerkannt flüchten konnten, raubten sie einem 20-Jährigen noch dessen Rucksack. Ebenfalls in Cottbus hatte am Neujahrsmorgen ein als südländisch beschriebener Mann mit einem Messer auf einen Deutschen eingestochen, als der versuchte, einen Streit zu schlichten.

Soweit das Material. Um mit Döbeln zu beginnen: In einer ganzen Reihe von Medienberichten hieß es, es habe eine „Explosion“ vor dem AfD-Büro gegeben („Vor einem Büro der AfD in Döbeln haben Unbekannte einen Sprengkörper gezündet“). Spiegel Online, „Süddeutsche“ und andere vermieden auffälligerweise den Begriff „Anschlag“ beziehungsweise „Sprengstoffanschlag“. Die meisten Berichte betonten, die Hintergründe seien unklar, und verzichteten deshalb darauf, Zusammenhänge mit anderen Fällen zu konstruieren.

In einem ähnlichen, wenn auch weniger gravierenden Fall der Vergangenheit fiel die Terminologie deutlich anders aus. Als 2016 ein zunächst unbekannter Täter einen Böller in das geparkte Auto des Freitaler Linkspartei-Politikers Michael Richter warf, schrieben Medien durchgängig von einem „Anschlag“oder „Sprengstoffanschlag“. In mehreren Berichten, etwa im „Tagesspiegel“, kam nicht nur Richter zu Wort sondern auch andere Linksparteipolitiker, die von Rechtsterrorismus sprachen und ausführlich auf andere Anschläge in der Vergangenheit und auch auf den NSU hinwiesen.

Nach dem Anschlag in Döbeln zitierten einige Medien nur kurz einen Vertreter der AfD – und einige gar nicht. Die „Süddeutsche“ und Spiegel Online ließen nur einen Politiker zu Wort kommen: den sächsischen SPD-Vorsitzenden Martin Dulig, der den Anschlag mit der bemerkenswerten Begründung verurteilte, er „helfe der AfD“.

Der Mitteldeutsche Rundfunk lenkte noch den Blick zwar zusammenhanglos – denn die Hintergründe sind ja bekanntlich noch unklar – aber dafür entschieden in eine bestimmte Richtung: „Die ländliche Region um Döbeln gilt als Hochburg der rechten Szene. Hier sind unter anderem die NPD und ‚der dritte Weg’ aktiv.“

Nun gab es Gründe für eine Zurückhaltung, was Spekulationen über Motive und mögliche Zusammenhänge mit anderen Taten angeht. Am Abend des 4. Januar wurden die nach wie vor tatverdächtigen Männer noch vernommen, anschließend auf freien Fuß gesetzt. Die Ermittlungen laufen.

Um auf den Fall des Freitaler Linkspartei-Politikers zurückzukommen: dort war der Terminus „Sprengstoffanschlag“korrekt. Im April 2017 gestand der Freitaler Patrick F., aus rechtsextremen Motiven die Scheibe von Richters Auto eingeschlagen und einen illegal in Tschechien gebauten Böller zusammen mit einer Flasche, gefüllt mit Schwarzpulver und Kieselsteinen, in das Auto des Politikers geworfen zu haben. Bei dem Anschlag von Döbeln wäre der gleiche Begriff genau so gerechtfertigt gewesen, die Detonationswucht war hier sogar bedeutend größer. Es fällt ins Auge, wie unterschiedlich vor allem überregionale Medien in ihren Berichten über zwei ähnliche Anschläge in die Tasten griffen: einmal forte, einmal piano. Jedes Mal fügte sich die Tonalität perfekt in die sonstige Sachsen-Berichterstattung dieser Blätter ein.

Meldung zwei und drei – die Prügeltour der vier Asylbewerber in Amberg und die Amokfahrt von Bottrop – fassten etliche Medien in ihren Kommentaren zusammen. Die “taz” setzt dabei einen Ton, der sich so ähnlich auf Spiegel Online und in der „Süddeutschen“ wiederfindet:

„Während Bundesinnenminister Seehofer eine Schlägerei in Amberg zum Politikum hochjazzt, wird der rassistische Anschlag von Bottrop verharmlost.“Das eine also eine „Schlägerei“, was suggeriert, es hätten auch andere auf die vier prügelnden Asylbewerber eingeschlagen. Was nicht der Fall war. Sie überstanden ihre Prügelattacken unbeschadet. Die Amokfahrt – über die man, siehe Döbeln, eigentlich schreiben müsste, die Hintergründe seien noch unklar – ist für die Redaktion in Berlin schon aufgeklärt: „ein rassistischer Anschlag“(und nicht: „Auto fährt in Menschenmenge”).

Constanze von Bullion schreibt fast identisch in der „Süddeutschen“:

„Zwei Gewaltausbrüche haben Deutschland zur Jahreswende aufgeschreckt, im bayerischen Amberg und im nordrhein-westfälischen Bottrop. Beide Male stehen Migranten im Mittelpunkt, mal als mutmaßliche Täter, mal als Opfer. Der Bundesinnenminister hat nun härtere Gesetze ankündigt – aber nur gegen zugewanderte Straftäter wie in Amberg. Im Bottroper Fall hingegen, wo ein Deutscher sein Auto als Waffe gegen Migranten eingesetzt hat, sieht der Minister keinen Anlass, härter zuzupacken als bisher. […] Aggressiver Fremdenhass spielt im Weltbild des Horst Seehofer eine nachgeordnete Rolle. […]”

Könnte aggressiver Fremdenhass möglicherweise gerade das Motiv der vier prügelnden Migranten von Amberg gewesen sein?

Aber zurück zu Frau von Bullion:

„Fälle wie in Amberg verbreiten Angst, weit über den betroffenen Ort hinaus. Das liegt nicht nur an der Furcht vorm fremden schwarzen Mann, die in ländlichen Regionen Deutschlands weiter verbreitet ist etwa als in Nachbarländern wie Frankreich oder Großbritannien. […] Hätten in Amberg blonde Oberpfälzer randaliert, kein Hahn hätte danach gekräht, und kein Geschäft wäre damit zu machen. […] Ob es aber in Amberg um solche Straftäter geht oder nur um eine ausgedehnte Wirtshausschlägerei, muss sich noch zeigen.“

Wir erfahren erstens: Die Furcht, Opfer einer Straftat zu werden, ist rassismusverdächtig, sofern man sich vor einer bestimmten Straftätergruppe fürchtet. Und zweitens: Bei der Amberger Innenstadt handelt es sich nach Erkenntnissen der “Süddeutschen” um ein ausgedehntes Wirtshaus. Schlagen vier Personen grund- und wahllos auf Passanten ein, dann handelt es sich, siehe auch „taz“, um eine „Schlägerei“. Wobei, darin besteht eine gewisse Übung: Als ein islamischer Attentäter 2014 drei Besucher des jüdischen Museums in Brüssel mit einer Maschinenpistole niedermähte, meldete die „Süddeutsche“auf dpa-Basis eine „Schießerei“, und erwähnte einen „Mann“(Die Begriffe „Anschlag“ und „Terror“ kamen auch hier nicht vor.)

Weiter mit der „Süddeutschen“ zu Bottrop:

„In Bottrop hat ein Deutscher sein Auto offenbar in Tötungsabsicht in Gruppen von Migranten gesteuert, mehrmals und nach Zeugenaussagen sogar noch im Rückwärtsgang. Der Tatverdächtige soll psychisch krank gewesen sein. Aber was unterscheidet derlei politischen Wahn von dem eines Anis Amri oder anderer Attentäter, deren mörderische Methoden in Bottrop kopiert wurden?“

Nun, praktisch alles. Bei Anis Amri handelte es sich um ein Mitglied einer größeren islamistischen Gruppe, er verkehrte in einer salafistischen Moschee in Berlin, plante seine Terrorfahrt und führte sie so aus, wie es Propagandaveröffentlichungen des Islamischen Staates empfohlen hatten. Der Amokfahrer von Bottrop war nicht nur wegen Schizophrenie in Behandlung, und seine Aussagen nach der Tat lassen auf einen Wahnanfall schließen. Es gibt bisher auch keinerlei Hinweise darauf, dass er zu einer Gruppe gehören würde, egal welcher Richtung.

Was dann bei Bullion folgt, schwenkt endgültig ins völlig Wirre ab:

„Horst Seehofer widmet Zuwanderungsproblemen seit Amtsantritt maximale Aufmerksamkeit. Auf Anfragen zu Fremdenhass dagegen, auch in ihm unterstellten Behörden, reagiert er regelmäßig zunächst abwehrend. So war es, als ein Mitarbeiter der Dresdener Polizei bei einer Pegida-Demo auf Presseleute losging. So war es, als Neonazis in Chemnitz randalierten. Oder als sächsische SEK-Beamte sich beim Einsatz mit dem Namen des NSU-Terroristen Uwe Böhnhardt anmeldeten. Oder als gegen Frankfurter Polizisten wegen rechtsextremer Umtriebe ermittelt wurde.“

Die Mär, in Dresden sei ein LKA-Mann bei einer Pegida-Demonstration „auf Presseleute“losgegangen, verdient sieben Punkte auf der zehnstufigen Relotius-Skala. Der LKA-Beamte, der dienstfrei hatte, forderte damals ein Kamerateam des ZDF auf, nicht sein Gesicht zu filmen, und da es unklar war, ob er sich schon auf einer Demonstration befand (wo Gesichterfilmen erlaubt ist) oder erst auf dem Weg dorthin (wo ein Recht am eigenen Bild existiert), ging es um einen Grenzfall. Der Mann erstattete bei Polizeibeamten Anzeige, die Beamten nahmen die Personalien der Journalisten auf, was sich 40 Minuten hinzog, weil sie zunächst ihre Ausweise nicht zeigen wollten. Aber das, wie auch alles andere, was Bullion aufzählt, spielte sich ausnahmslos im Bereich von Länderpolizeien und Länderjustiz ab. Seehofers Zuständigkeit in jedem einzelnen dieser Punkte liegt exakt bei Null. Neue oder andere Regeln bei der Abschiebung straffälliger Asylbewerber fallen dagegen in sein Ressort. Mit diesen Details kann sich eine Kommentatorin der “Süddeutschen” allerdings nicht aufhalten:

„Kein Wunder eigentlich, dass mancher Fremdenfeind inzwischen meint, die Sache mit den Flüchtlingen auf eigene Faust regeln zu können oder mit dem Wagen. Die Zurückhaltung des Bundesinnenministers wird da als Legitimation verstanden.“

Nicht nur besteht also für sie praktisch kein Unterschied zwischen einem psychisch kranken Amokfahrer, der acht Menschen verletzte, und dem Islamisten Anis Amri, der 13 tötete. Hinter dem Fahrer von Bottrop steckt auch – irgendwie – Horst Seehofer, weil er sich nicht zu mehreren sehr unterschiedlichen Vorkommnissen äußerte, die ausnahmslos mit seinem Ressort nichts zu tun haben.

Für Andreas Bocholte in „Spiegel Online“ ist die Prügelorgie von Amberg ebenfalls eine Marginalie, und Bottrop ganz klar rechtsextremer Terror:

„Dass Innenminister Seehofer das Asylrecht verschärfen will, ist nichts Neues. Dass er es allerdings nötig hat, einen eher marginalen Vorfall zu bemühen, um das neue Jahr gleich mit einer durch Betroffenheit kaum übertünchten politischen Offensive zu beginnen, ist nicht nur erbärmlich, sondern gesellschaftlich brisant. Denn es ist zugleich Symptom und Ursache eines Diskurses, der sich in den vergangenen Jahren in Deutschland gefährlich nach rechts verschoben hat. Was in dieser immer weiter nach rechts drehenden Spirale aus dem Fokus zu geraten droht, ist ein ‘Vertrauenssignal’ an jenen vermutlich tatsächlich mehrheitlichen Teil der deutschen Bevölkerung, der sich eher von rechtem Terror als von Asylsuchenden bedroht fühlt. Welcher Politiker mit ähnlich großem Mediengewicht wie Horst Seehofer fordert eigentlich angesichts von den Ereignissen in Bottrop schärfere Gesetze und eine härtere Gangart gegen Rechtsradikale?“

Es mag ja “vermutlich tatsächlich”– schon die Wortkombination ist ein Meisterstück, ebenso wie die “nach rechts drehende[n] Spirale” – es mag also einen Bevölkerungsteil geben, der sich auch nach den islamistischen Anschlägen vom Breitscheidplatz in Berlin (13 Tote), Hamburg (ein Toter), Ansbach ( 15 Verletzte) und in einem Regionalexpress bei Würzburg ( fünf Verletzte, davon vier schwer) und zahlreichen allgemeinkriminellen Straftaten von Asylbewerbern trotzdem mehr durch rechten Terror bedroht fühlt. Aber auch der SPIEGEL-Journalist beantwortet wie die Redakteurin der “Süddeutschen Zeitung” nicht die Frage, was genau er sich als „härtere Gangart gegen Rechtsradikale“vorstellt. Vorbeugende Inhaftierung? Rechtsradikalismus ist ebenso wenig eine Straftat wie Linksextremismus. Oder die Erlaubnis zum Autofahren nur bei wöchentlicher polizeilicher und ärztlicher Kontrolle?

Für die Verurteilung des Amokfahrers von Bottrop und Essen wegen versuchten Mordes beziehungsweise Totschlags – falls er schuldfähig sein sollte – stehen die nötigen Gesetze zur Verfügung. Im Fall einer psychiatrischen Unterbringung wäre das Land Nordrhein-Westfalen zuständig, es gelten die dortigen Regeln. In beiden Varianten gäbe es keinerlei sachliche Zuständigkeit Seehofers, durch irgendeine Bundesgesetzänderung irgendetwas zu verschärfen oder überhaupt Einfluss zu nehmen.

Es ist interessant, auch hier einen Blick auf die mediale Behandlung einer anderen Amokfahrt zu werfen. Im Juni 2015 fuhr der gebürtige Bosnier Alen Rizvanovic mit seinem Geländewagen in Graz in eine Fußgängerzone systematisch auf Menschen zu, tötete drei (wobei er zwischendurch ausstieg und eine Frau erstach), und verletzte 103 Passanten. Die Polizei erklärte damals, es habe sich nicht um einen Terroranschlag gehandelt, sondern um die Tat eines geistig verwirrten Mannes. Rizvanovic erklärte später, er habe aus Wut über die Trennung von seiner Lebensgefährtin so gehandelt. Trotzdem erklärte kein großes Medium die Amokfahrt zu frauenfeindlichem Terror. Der Täter wurde später für schuldfähig befunden und zu lebenslanger Haft verurteilt. Aber es blieb bei der medialen Bewertung, in Österreich wie in Deutschland: keine Terrorfahrt, weil der Täter in geistiger Verwirrung handelte. Die Bewertung ist nicht unplausibel, gerade, wenn es um den Amokfahrer von Bottrop geht, der nachweislich wegen Schizophrenie in Behandlung war. Bei weitem nicht jeder Schizophrene ist gefährlich. Aber typisch für diese psychische Erkrankung sind gravierende Denkstörungen und Wahnvorstellungen. Typisch ist die völlige Abkopplung von der Wirklichkeit.

Von der vierten Meldung – Cottbus, Übergriffe zu Silvester und Neujahr– hätten die meisten Leser vermutlich nie etwas erfahren, hätte nicht der Sprecher der Stadt Jan Gloßmann auf Facebook geschrieben: „Sollte der oder die Täter hier noch ein Gastrecht genießen und kein unbeschriebenes Blatt sein, werden wir nicht zögern, ihm oder ihnen klarzumachen, dass er oder sie ein Ticket in die Heimat zu lösen haben.“

Das nahmen etliche Medien zum Anlass, um am Rand auch über die Ereignisse zu schreiben, hauptsächlich aber, um den Kommentar des Stadtsprechers zu skandalisieren: „Erklärung der Stadt Cottbus sorgt für Entsetzen“(Frankfurter Rundschau)

Um mit dem Vokabular von “Spiegel Online” zu Amberg zu sprechen: Der Messerstich und die Schläge durch Migranten: ein marginaler Vorfall. Entsetzen beziehungsweise Berichtinteresse kommt erst auf, wenn ein Sprecher der Stadt etwas sagt.

In keinem der vier Fälle schaffen es die aufgezählten Medien, auch nur halbwegs sachlich und angemessen zu berichten. Die Ereignisse werden entweder heruntergedimmt oder aufgeblendet, es wird – außer im Fall Döbeln – schon kommentiert, es werden Parallelen zu anderen Fällen gezogen, bevor überhaupt der Sachverhalt geklärt ist. Es wird, je nachdem, weggelassen (in Döbeln das Wort „Anschlag“) oder evidenzfrei hinzugefügt (rechter Terror in Bottrop).

Schon vor und erst recht nach dem Fall Relotius stecken etablierte Presseorgane in einer Krise. Nach Relotius gab es die einen oder anderen Stimmen, etwa von ZEIT-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo und dem designierten SPIEGEL-Chefredakteur Steffen Klusmann, das jahrelange Wirken von Claas Relotius nicht einfach als Einzelfall und punktuellen Betrug abzutun, sondern als Symptom einer Branche, die gerade dabei ist, sich selbst abzuwracken.

Ein Gegenmittel gegen den selbstverschuldeten Bedeutungsverlust könnte darin bestehen, die Benutzung des Wortes Anschlag künftig davon abhängig zu machen, was passiert ist, und nicht davon, ob das Anschlagsopfer einem politisch sympathisch ist oder nicht. Darin, zu schreiben – und zwar immer, wenn das zutrifft – dass die Hintergründe eines Vorgangs noch ungeklärt sind, statt zu spekulieren. Mit Begriffen wie „marginal“vorsichtig zu sein, wenn zwölf Menschen verletzt wurden. Bei der Bewertung von Taten mutmaßlich psychisch Gestörter besonders zurückhaltend zu verfahren und mindestens die forensische Begutachtung abzuwarten, statt je nach Fall zu warten, was der Täter sagt, um aus ihm dann nach Bedarf einen psychisch gestörten Einzeltäter oder einen Rechtsterroristen zu machen, dem noch Horst Seehofer auf den Beifahrersitz fantasiert wird. Nützlich für die Medien wäre es, nur dann von Schlägerei und Schießerei zu schreiben, wenn es tatsächlich zwei schlagende beziehungsweise schießende Parteien gibt. Es würde helfen, bei der Kritik an einem Politiker ein wenig darauf zu schauen, ob er für bestimmte Vorfälle und Missstände überhaupt zuständig ist. Und nicht zuletzt: eine gravierende Tat wie einen Messerstich wichtiger zu nehmen als einen Kommentar dazu. Vielleicht sollten Journalisten bei der Behandlung von Nachrichten außerdem das Wort “Narrativ” aus ihrem Begriffsvorrat streichen.

Die Frage ist: Angenommen, Medienarbeiter würden ihre Misere erkennen – könnten sie überhaupt anders? Oder funktioniert der Griff in die Tastatur und die Wahl von fortissimo oder piano so reflexhaft, dass sie nicht mehr umlernen könnten?

Bis jetzt vollzieht sich der Niedergang der herkömmlichen Medien als Trauerspiel nach klassischem Muster: Der Protagonist geht seinen Weg sturheil bis zum Ende, obwohl die Umkehr für ihn nicht unmöglich ist.

Was, übrigens, ist das Ende?

Wenn sehr viele Medienschaffende derart ähnlich und voraussehbar schreiben – dann wird eine Software sie zügig verdrängen, schneller, als sie die nächsten zehn Meldungen umschreiben können.

Was sie können, kann ein Bot allemal. Und zwar billiger.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf Alexander Wendts Publico.

Foto: Bundesregierung.de

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rink, H.-J. / 07.01.2019

Sehr geehrter Herr Wendt, ich empfinde den real existierenden Journalismus als Gefährdung für die freiheitlich demokaratische Grundordnung. Ihr Beitrag ist jedenfalls nicht geeignet, meine Einschätzung diesbezüglich zu widerlegen. Mit freundlichen Grüßen, bleiben Sie dran!

Andreas Krause / 07.01.2019

Lass sie doch so weitermachen. Die schaufeln sich ihr eigenes Grab.

Michael Scheffler / 07.01.2019

Es gibt Selbstbesinnung! Heute darf z.B. Herr Locke - im Bezahlbereich der FAZ -  über die “Berichterstattung aus dem Osten Deutschlands” schreiben. Da “leben” seinen Worten zufolge “Reflexe und Klischees seit dreißig Jahren fort.” Der gleiche Herr Locke, der die - sicher aus Unkenntnis - die Dresdner für den Mord an einem Eritreer (er wurde von einem Landsmann umgebracht) mitverantwortlich machte. Bitte googlen “Hauptsache, weg aus Dresden” und andere Artikel in FAZ, Dresdner MoPo etc. Auch hätte damals das “Verhalten der Polizei ... für Spekulationen” gesorgt. Es war aber schon 2015 nicht alles schlecht: “Am Samstagabend waren etwa 3000 Menschen im Gedenken an den jungen Eritreer durch das Dresdner Zentrum gezogen. Auf Schildern war „Je suis Khaled“ zu lesen, in Anlehnung an das „Je suis Charlie“, dass sich nach den Anschlägen in Paris um die Welt verbreitet hatte.” Der Einsatz dieser aufrechten Dresdner reichte aber leider nicht aus: die Migranten meinten, dass sie sich “Auch ohne Pegida ... in Dresden nie wieder sicher fühlen“ werden. Sie sehen also Herr Wendt, die Demokratie hat Selbstheilungskräfte, Herr Locke schreibt bestimmt sehr selbstkritisch. Um ‘89 herum hätten wir von Wendehälsen gesprochen, aber wie wollen uns ja zum Mutbürger entwickeln und niemend, der auf der richtigen Seite steht, diskreditieren.

Rudolf Stein / 07.01.2019

Man kann sich solche Artikel sparen. Dafür sollte man Lenin lesen, besonders was er über die proletarische Presse schreibt und deren Aufgabe im Zuge der ideologischen Umgestaltung der Gesellschaft. Presse hat lt. Lenin eine Treibriemen-Funktion. Dieser Treibriemen hat die Aufgabe, die Regierungspolitik auf ein großes Rad zu transportieren, mit dessen Hilfe dasVolk parteilich überzeugt werden muss. Diese Parteilichkeit ist essentiell. Heute benutzt die Presse den Begriff der Parteilichkeit nicht mehr, er ist ideologisch verschlissen. Aber jede noch so kleine Nachricht in der Mainstreampresse atmet den Leninschen Begriff der Parteilichkeit weiter. Und wer in der Lage ist, sein Gehirn und sein Gehör zu nutzen, hört beim Lesen der Mainstreampresse im Hintergrund die Geräusche des Treibriemens ...

M. Haumann / 07.01.2019

Unmittelbar nach der Tat im Bottrop mussten schnell die bekannten “Experten” in die Artikel und Kameras, die uns unbeleckt von jeder Kenntnis der Person und ihres Geisteszustandes die opportune Diagnose “rechter Terror” einbläuen sollten. Der forensische Psychiater könnte die medialen Schnellschützen jetzt natürlich in die Bredouille bringen, falls er eine akute paranoide Episode bei bekannter Schizophrenie und den Patienten als nicht schuldfähig diagnostizieren sollte. Was, wenn der jetzt das immer so hilfreiche Nazi-Narrativ versaut? Dann wird es die bewährten zwei Alternativen geben: gar nicht mehr berichten (oder klein versteckt auf Seite 4 unter “Diverses”). Besonders missionarisch getriebene Medien werden aber den Spin hinkriegen, dass auch ein Geisteskranker im Verfolgungswahn ohne die grassierende “rechte Stimmung der Gesellschaft” oder, besser noch, ohne die AfD keine Ausländer, sondern allenfalls Einheimische, seine Oma oder seinen Osteopathen umbringen würde, was ja moralisch gesehen viel besser ist. Und wenn man dazu schon Wetten abschliessen könnte, tja, dann sagt das Trauriges über den Zustand der Medien in Deutschland 2019.

Berni Klein / 07.01.2019

Vielen Dank für diese sachliche sprachliche Analyse. Ich würde mir wünschen, dass Sie daraus eine Serie machen. Die Namen der Autoren zu nennen, könnte sehr dabei helfen, die Journalistenzunft zu einem Umdenken zu bringen. Außerdem schärft es das Bewusstsein derjenigen Leser, die die erwähnten sprachlichen Akzentsetzungen noch nicht so bewusst und kritisch wahrnehmen.

Rolf Lindner / 07.01.2019

Man könnte ja eine Karl-Eduard von Schnitzler Medaille an derartig berichtende Zeitungen, Zeitschriften oder einzelnen Journalisten ausloben und den VEB Orden und Ehrenzeichen wieder aktivieren. Seine Schule ist es in jedem Fall.

Karla Kuhn / 07.01.2019

Wenn es Frau Boullion schreibt, wirds schon stimmen. Wir sollten es wie bei manchen Wahlauszählungen in Hessen machen und nur noch “schätzen”, bzw. am Knopf abzählen, es stimmt, es stimmt nicht etc. Wir, die “virtuellen Leser”,- sehr viele davon, haben in DREI Jahren das Wunder vollbracht nur noch “zwischen den Zeilen” zu lesen.  Aber vielleicht haben sie recht und die meisten Journos sind bald überflüssig aber nicht nur wegen einem Roboter, sondern auch wegen fehlender Leserschaft, den Spiegel trifft es hoffentlich zuerst.

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