Der parteilosen Sozialdemokrat (und Achgut.com-Autor) Gunter Weißgerber sprach mit der Budapester-Zeitung über das schwierige deutsch-ungarische Verhältnis. Aufgeschrieben von Jan Mainka.
Was sind die wesentlichen Gründe für die Verschlechterung des deutsch-ungarischen Verhältnisses?
Der westeuropäisch dominierten Europäischen Union fehlt zu ihrem großen Glück die doppelte Diktaturerfahrung der Mittel-Osteuropäer. Wo diese die Mitte zwischen den Extremen Links- und Rechtsextremismus suchen, verorten viele sogenannte Linksliberale des Westens die Mitte zwischen Linksaußen und der tatsächlichen politischen Mitte. Die momentane EU ist wie ein Zirkuszelt mit einer nach links abfallenden Mittelstange. Das heißt, die politische Statik der Europäischen Union ist lädiert.
Viktor Orbán weiß eine Zweidrittel-Mehrheit der Ungarn hinter sich. Wäre er ein linksliberaler Ministerpräsident vom Schlage eines Jean Asselborn, hätten er und die meisten Ungarn in der linksliberal domestizierten EU keine Probleme. Die schöne neue Welt wäre ungestört. Sie ist jedoch schwer gestört. Die Ungarn und Polen mit ihrer doppelten Diktaturerfahrung spielen das verlogene Spiel jedoch nicht mit. Sie pochen auf ihre Lebensweise, genährt aus ihren in Jahrhunderten gewonnenen Erfahrungen auf ihrem mittel-osteuropäischen Außenposten.
Ungarn und Polen retteten die Mitteleuropäer mehrfach in der Geschichte. Vergessen haben das nur die Westeuropäer. „Wenn es dem Esel zu gut geht, geht er aufs Eis“, heißt ein altes Sprichwort. Ungarn, Polen und die Balten erinnern ihre Partner in der EU daran. In ihrer Überheblichkeit fühlen diese sich daraufhin schwer brüskiert und schlagen wild um sich.
Die Europäische Union ist noch immer ein closed shop. Drinnen sind die, die die Weisheit mit Löffeln konsumiert haben, draußen sind die, die sich alles selbst erkämpfen mussten.
Viele Maßnahmen der ungarischen Regierung könnten ohne weiteres als klassisch linke Politik betrachtet werden. Warum finden sie bei linken deutschen Politikern keinen Anklang? Werden hier etwa ideologische Aspekte über „Realpolitik für die kleinen Leute“ gestellt?
Selbstverständlich entsprechen viele Maßnahmen der Orbán-Regierung klassisch linker Politik. Das Problem ist nur: sie wird vom „Falschen“ praktiziert. Würde diese Politik – also beispielsweise die äußerst dynamische Anhebung der gesetzlichen Mindestlöhne, forcierte Reallohnerhöhungen, die Befreiung weiter Teile der Bevölkerung aus der Fremdwährungskreditfalle, die behördlich verfügte Senkung der Wohnnebenkosten (Energie und Müllabfuhr), die Unterstützungen bei der Wohnraumschaffung, finanzielle Hilfe für junge Familien und vieles mehr – ein vom Westen der EU hofierter linker ungarischer Politiker praktizieren, er würde ohne Ende abgefeiert werden.
Viktor Orbán ergeht es wie Donald Trump: Wenn der Falsche das Richtige tut, dann ist es nicht richtig. Wären beispielsweise Barack Obama, Hillary Clinton oder Joe Biden auf die historisch unerhört bedeutsame Idee der Abraham-Vereinbarungen zwischen Israel und den Vereinigten Emiraten gekommen, hätte es Friedensnobelpreise gehagelt. So ist Donald Trump zwar ein Friedensstifter, allerdings ohne größeren Applaus.
Inwiefern verfängt das permanente antiungarische Dauerfeuer von Seiten weiter Teile der deutschen Mainstream-Medien und der Politik bei den einfachen Bürgern in Deutschland? Wie weit gelingt es ihnen, die deutschen Bürger gegen Ungarn aufzuhetzen und antiungarische Ressentiments zu säen?
Die deutsche Medienlandschaft ist linksliberal domestiziert. Bereits die klassische Mitte gilt inzwischen als „rechts“. Das bleibt nicht ohne Wirkung auf die Bevölkerung – stärker im Westen als im Osten. Auch hier wirkt der Unterschied zwischen einfacher und doppelter Diktaturerfahrung. Wo es der vor 1989 erwachsen gewordene Ostdeutsche noch intuitiv spürt, ob er propagandistisch hinter die Fichte geführt wird, merkt das der normale Westdeutsche erst hinter der Fichte.
Der DDR-Bürgerrechtler, SDP-Gründer und langjährige SPD-Bundestagsabgeordnete (1990-2009) Gunter Weißgerber ist ein großer Freund Ungarns – siehe dazu u.a. seinen Gastbeitrag im BZ Magazin 45/2020. Wir unterhielten uns mit ihm über die Gründe für die Verschlechterung des deutsch-ungarischen Verhältnisses und mögliche Wege für seine Verbesserung.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der deutschsprachigen Budapester Zeitung. Sie erscheint wöchentlich in Budapest.