Die Europäer haben sich in eine sicherheitspolitische Sackgasse manövriert – allen voran Deutschland. Die Bundeswehr steht blank da und wer seine Identität nicht verteidigt, kann auch sein Land nicht verteidigen.
Präsident Trump und Außenminister Marco Rubio betrachten den Ukraine-Krieg nicht als Verteidigung der Demokratie, sondern als überholten Stellvertreterkonflikt zwischen den USA und Russland. Während Washington Kiew bislang militärisch unterstützte, um Moskau zu schwächen, rückt nun eine Annäherung an den Kreml in den Fokus. Kiew soll zu Verhandlungen gedrängt werden – selbst um den Preis steigender Verluste.
Rubio machte in einem Interview mit „Fox News“ unmissverständlich klar, dass die bisherige Strategie nicht länger tragfähig sei. Noch schärfer äußerte sich Trumps Sicherheitsberater Mike Waltz: Er warf der ukrainischen Führung vor, den Krieg aus fragwürdigen Motiven fortzusetzen. Die Geduld und die finanziellen Ressourcen der USA seien begrenzt – nun müsse Europa mehr Verantwortung übernehmen.
Doch es gibt ein Problem: Die Europäer haben sich kollektiv in eine sicherheitspolitische Sackgasse manövriert – allen voran Deutschland, die größte Wirtschaftsmacht und bevölkerungsreichste Nation des Kontinents. Bereits im Februar 2022 schlug Heeresinspekteur Alfons Mais Alarm: Die Bundeswehr sei nicht verteidigungsfähig. Seine Worte klangen ebenso naiv wie ratlos: „Ich hätte in meinem 41. Dienstjahr im Frieden nicht geglaubt, noch einen Krieg erleben zu müssen. Und die Bundeswehr, das Heer, das ich führen darf, steht mehr oder weniger blank da.“
Mais hat damit ein folgenschweres Defizit offengelegt, das in der Bundesrepublik jahrelang ignoriert wurde. Die strukturelle Schwäche der Bundeswehr ist kein Zufall, sondern das Ergebnis einer sicherheitspolitischen Kultur, die über Jahrzehnte auf Abrüstung, Risikovermeidung und politische Symbolik setzte. Während andere Staaten ihre Streitkräfte modernisierten, hat Deutschland die eigene Wehrfähigkeit systematisch vernachlässigt – nicht zuletzt, weil die politische Führung kein strategisches Bedrohungsszenario akzeptieren wollte.
Von 500.000 Soldaten auf 50.000 Berufsoldaten
Die Bundeswehr, einst die Speerspitze der NATO in Mitteleuropa, ist von einer schlagkräftigen Armee mit 500.000 Soldaten und über 2.000 Panzern zu einem von Beamten in Uniform geführten bürokratischen Koloss mit geringer Kampfkraft verkommen. Heute umfasst die Truppe 181.600 aktive Mitglieder, darunter lediglich 56.706 Berufssoldaten. Von den knapp 300 Kampfpanzern sind gerade einmal 90 einsatzbereit.
Das Ausmaß der Ineffizienz zeigt sich besonders in der Verwaltung: Während das Bundesamt für Personalmanagement der Bundeswehr mit 6.800 Mitarbeitern für die Organisation von 260.000 Soldaten und zivilen Angestellten zuständig ist, kam das Heerespersonalamt der Wehrmacht am 1. August 1943 mit nur 277 Mitarbeitern aus, um 240.525 Offiziere zu verwalten – während Unteroffiziere und Mannschaften direkt in ihren Einheiten geführt wurden.
Doch nicht nur die materielle Abrüstung und organisatorische Ineffizienz prägen das Bild der Bundeswehr, auch ihre gesellschaftliche Wertschätzung hat spürbar abgenommen. Laut der „Bevölkerungsbefragung 2010“ des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr empfanden 66 Prozent der Befragten die Anerkennung der Streitkräfte als unzureichend.
Diese mangelnde gesellschaftliche Akzeptanz spiegelte sich in wiederkehrenden Kontroversen wider – von den Prozessen um das Zitat „Soldaten sind Mörder“ über die 1995 initiierte Wehrmachtsausstellung, die das deutsche Heer zwischen 1939 und 1945 als marodierende Verbrecherbande darstellte, bis zu den Debatten um das Ehrenmal für gefallene Bundeswehrsoldaten. Sie offenbaren die Haltung der staatstragenden Parteien, die jede Form positiver nationaler Identität als suspekt betrachten.
Vor allem im linken Spektrum gilt Patriotismus als rückständig, die Bundeswehr wurde lange als Relikt eines überwundenen Militarismus diffamiert. Ein Sinnbild dieser Haltung lieferte Angela Merkel 2013, als sie nach ihrem Wahlsieg die Deutschlandfahne mit sichtlichem Widerwillen beiseite warf. Ebenso bezeichnend ist Robert Habecks Aussage, er habe Vaterlandsliebe „stets zum Kotzen“ gefunden und mit Deutschland „nie etwas anzufangen gewusst“ – ein Ausdruck der Geringschätzung nationaler Symbole durch die politische Elite.
Die Folgen der Geringschätzung
Eine aktuelle Forsa-Umfrage zeigt die Folgen dieser Geringschätzung für das eigene Land: Nur 17 Prozent der Deutschen bereit wären, ihr Land im Falle eines militärischen Angriffs mit der Waffe zu verteidigen – im Vergleich zu 74 Prozent in Finnland. Diese geringe Bereitschaft bleibt seit Jahren konstant: Im Februar 2024 lag sie bei 19 Prozent, im November 2023 bei 17 Prozent. Eine Mehrheit von 60 Prozent lehnt den bewaffneten Kampf ab, während 19 Prozent eine gewisse Bereitschaft äußerten, aber nur unter Vorbehalt.
Die schwindende emotionale Verbundenheit junger Deutscher mit ihrem Land spiegelt sich auch bei Migranten wider. Eine umfassende Studie des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ der Universität Münster aus dem Jahr 2016 offenbarte alarmierende Tendenzen: 47 Prozent der Befragten hielten die Gebote des Islam für wichtiger als deutsche Gesetze, 36 Prozent sahen im Islam die einzige Lösung für die Probleme der Gegenwart, und 32 Prozent wünschten sich eine Rückkehr zur Gesellschaftsordnung wie zu Zeiten des Propheten Mohammed.
Doch die Ergebnisse reichen noch weiter: 86 % der zweiten und dritten Generation betonten ihre Verbundenheit mit der eigenen Herkunft, während nur 52 % kulturelle Anpassung für notwendig hielten. 75 Prozent forderten ein Verbot von Büchern und Filmen, die religiöse Gefühle verletzen. Die Trennlinien zwischen Migranten und Deutschen verlaufen dabei zunehmend entlang von Volkszugehörigkeit und Religion. Der Befund könnte kaum gravierender sein: Eine Gesellschaft, die ihrem eigenen Land gleichgültig oder ablehnend gegenübersteht, kann keine schlagkräftige und loyale Armee hervorbringen.
Die Bundeswehr ist mit ihrer prekären Lage keineswegs ein Einzelfall. Die meisten Armeen in Mittel- und Westeuropa haben ihre Streitkräfte systematisch reduziert. Seit dem Zerfall der Sowjetunion 1991 wurden europäische Heere drastisch verkleinert – Deutschland und Italien halbierten ihre Truppenstärken, während Frankreich, Spanien und das Vereinigte Königreich ähnliche Kürzungen vornahmen.
Geld alleine wird das Problem nicht lösen
Eine Ausnahme bildet Polen, das entgegen diesem Trend seine militärische Stärke konsequent ausgebaut hat. Nach der Annexion der Krim 2014 wuchs die polnische Armee von 99.000 auf 116.000 Soldaten im Jahr 2020 und erreichte 2024 mit 216.000 Truppen eine der größten Streitkräfte der NATO. Gleichzeitig stiegen die Verteidigungsausgaben kontinuierlich: 2024 betrugen sie 4,2 Prozent des BIP, mit einer geplanten Erhöhung auf 4,7 Prozent im Jahr 2025 – einer der höchsten Werte innerhalb des Bündnisses.
In der vergangenen Woche hat die EU beschlossen, 800 Milliarden Euro für Investitionen in die Rüstung bereitzustellen. Welchen Anteil Deutschland davon schultern wird, ist unklar. Fest steht hingegen, dass die künftige Bundesregierung ein militärisches Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro aufsetzen will. Zudem wird auch die Reaktivierung der Wehrpflicht gefordert. Deutschland soll kampffähig werden, um Europa gegen eine russische Invasion zu verteidigen.
Was die EU zur Sicherung ihres Territoriums benötigt, hat das Kieler Institut für Weltwirtschaft vorgerechnet. Demnach erfordert eine realistische Verteidigungsstrategie 300.000 zusätzliche Soldaten, mindestens 1.400 Kampfpanzer sowie 2.000 Schützenpanzer. Darüber hinaus sind 700 Artilleriesysteme, darunter 155mm-Haubitzen und Mehrfachraketenwerfer, notwendig, um großflächige Kampfhandlungen effektiv führen zu können.
Ein entscheidender Faktor in der modernen Kriegsführung ist der Einsatz von Drohnen. Um den technologischen Rückstand gegenüber Russland aufzuholen und die eigene Kampfkraft zu stärken, müsste Europa jährlich 2.000 Langstreckendrohnen produzieren. Ergänzend dazu wären 1 Million 155mm-Artilleriegeschosse erforderlich, um eine kontinuierliche Feuerkraft über mindestens 90 Tage intensiver Kampfhandlungen hinweg sicherzustellen.
Die größte Hürde für Europas Verteidigungsfähigkeit ist die fehlende Koordination: 29 nationale Armeen mit unterschiedlichen Ausrüstungsstandards und Führungsstrukturen verhindern eine schlagkräftige Zusammenarbeit. Ohne engere Abstimmung und gemeinsame Rüstungsproduktion bleiben die strategischen Ziele unerreichbar.
Statt verbindlicher Zusagen ein unverbindliches Kommuniqué
Den europäischen Staats- und Regierungschefs ist bewusst, dass Europa militärisch eigenständiger werden muss. „Ich möchte glauben, dass die USA uns zur Seite stehen werden, aber wir müssen darauf vorbereitet sein, dass dies nicht der Fall sein wird“, erklärte Emmanuel Macron. Die künftige Unterstützung für die Ukraine bleibt indes ungewiss. Ein neues Hilfspaket ist umstritten – in Deutschland wäre es nur durch massive Neuverschuldung finanzierbar.
Beim Treffen mit EU-Ratspräsident António Costa und Kommissionschefin Ursula von der Leyen drängte Wolodymyr Selenskyj auf eine Ausweitung der Militärhilfe. Doch während die EU einen Wiederaufrüstungsplan verabschiedete, blieb die konkrete Unterstützung für die Ukraine aus – statt verbindlicher Zusagen gab es lediglich ein unverbindliches Kommuniqué.
Die geplanten Maßnahmen sind jedoch nur dann gerechtfertigt, wenn die Annahme zutrifft, dass Russland in absehbarer Zeit die EU angreifen könnte. Deutschland, Polen und die baltischen Staaten halten dies innerhalb der nächsten drei bis zehn Jahre für möglich – eine Einschätzung, die auch BND-Präsident Bruno Kahl teilt. Im Baltikum wächst die Sorge, dass ein Angriff bereits im Zuge des Zapad-2025-Manövers erfolgen könnte, das im September in Belarus stattfinden wird.
Die wachsende Sorge vor einer russischen Aggression gründet sich auf die massive Aufrüstung Moskaus. Ende 2024 waren 700.000 Soldaten in der Ukraine stationiert – eine erhebliche Ausweitung seit Kriegsbeginn. Gleichzeitig wurde die Rüstungsproduktion drastisch gesteigert: Die Panzerproduktion wuchs seit 2022 um 220 Prozent auf 1.550 Einheiten, die Fertigung gepanzerter Fahrzeuge um 150 Prozent auf 5.700 Stück. Zudem wurden 450 neue Artilleriesysteme produziert und 1.800 Lancet-Langstreckendrohnen eingesetzt – ein Anstieg von 435 Prozent gegenüber 2022.
In Moskau weist man die Befürchtung eines russischen Angriffs auf Europa kategorisch zurück. Im Juni 2024 gab Wladimir Putin in St. Petersburg eine klare Einschätzung ab.
„Man hat sich ausgedacht, dass Russland die NATO angreifen will. Seid ihr völlig übergeschnappt?! […] Es wäre tatsächlich Unsinn – wenn nicht der eigentliche Plan dahinterstände, das eigene Volk zu täuschen: ‚Alarm! Russland wird uns bald angreifen! Wir müssen dringend aufrüsten und Waffen in die Ukraine schicken.‘“
Warschau könnte bis zu 18,6 Millionen Männer mobilisieren
Obwohl Putins Zusicherungen mit Vorsicht zu genießen sind – schließlich hatte er noch Wochen vor der Invasion betont, Russland plane keinen Angriff auf die Ukraine – bleibt die Vorstellung einer direkten Konfrontation mit Europa zweifelhaft. Dass Russland militärisch dazu fähig wäre, große Teile von Ost- und Mitteleuropa zu kontrollieren, erscheint unrealistisch.
Allein in Polen liegt die Wehrbereitschaft der Bevölkerung bereits bei 47 Prozent. Im Falle einer Generalmobilmachung, die das Land zuletzt 1939 erlebte, könnten sofort 1,7 Millionen Reservisten aktiviert werden. Sollte es tatsächlich zu einem russischen Angriff kommen, könnte Warschau bis zu 18,6 Millionen Männer mobilisieren – eine gewaltige Verteidigungskraft, die die strategischen Risiken für Moskau erheblich erhöhen würde.
Dass sich Polen gezielt auf den Ernstfall vorbereitet, zeigt sich an den jüngsten Maßnahmen: Alle wehrfähigen Männer sollen künftig eine militärische Grundausbildung absolvieren, um die Verteidigungsbereitschaft weiter zu stärken. Auch materiell ist die polnische Armee gut aufgestellt. Derzeit verfügt sie über 677 einsatzbereite Kampfpanzer, darunter moderne Leopard 2, Abrams und K2, sowie rund 23.100 Militärfahrzeuge.
Im Falle einer europäischen Aufrüstung wäre eine russische Invasion mit konventionellen Waffen faktisch ausgeschlossen. Doch die historische Erfahrung lehrt, dass militärische Überlegenheit allein keinen strategischen Erfolg garantiert. Die Rote Armee verfügte 1941 mit über 23.000 Panzern und 18.000 Flugzeugen über die größte Streitmacht der Welt, doch mangelnde Führung, operative Starrheit und fehlende strategische Vorbereitung machten sie verwundbar.
Die moralische Verfassheit Deutschlands
Europa steht heute vor einer ähnlichen Herausforderung: Aufrüstung allein wird nicht die Lösung sein, solange es an einer kohärenten Strategie, klaren Einsatzkonzepten und politischem Willen mangelt. Entscheidend sind Moral, Opferbereitschaft und ein gefestigtes Selbstverständnis der Soldaten als Verteidiger ihres Staates – eingebettet in eine lebendige militärische Tradition, wie sie zu Beginn des Kalten Krieges noch selbstverständlich war.
Wie wichtig dies ist, zeigt sich daran, dass der damalige Oberbefehlshaber der NATO-Streitkräfte, Dwight D. Eisenhower, am 23. Januar 1951 eine Ehrenerklärung für die Soldaten der Wehrmacht abgab. Diese Geste war die Voraussetzung für die Wiedereingliederung ehemaliger Wehrmachtsangehöriger in die neu gegründete Bundeswehr und trug dazu bei, eine stabile militärische Identität in der Bundesrepublik zu etablieren.
Heute ist die Bundeswehr jedoch weit davon entfernt, aus ihrer Vergangenheit die notwendige Gestaltungskraft für eine innere Erneuerung zu schöpfen – die Brüche in ihrer historischen Kontinuität sind zu tief. Militärhistoriker Sönke Neitzel kritisiert, dass die Bundeswehr sich weigert, ihrer wenigen Kriegshelden öffentlich zu gedenken. Auch die Politik zeigt wenig Interesse: Sein Vorschlag, ihre Bilder aufzuhängen, wurde vom Verteidigungsausschuss des Bundestags abgelehnt.
Der marode Zustand der Bundeswehr spiegelt die moralische Verfassung der bundesrepublikanischen Gesellschaft ebenso wider wie die geringe Bereitschaft, für den eigenen Staat einzustehen. Umso widersprüchlicher erscheinen die leidenschaftlichen Appelle deutscher Spitzenpolitiker zur bedingungslosen Unterstützung der Ukraine – denn in letzter Konsequenz bedeuten sie, dass deutsche Soldaten kämpfen und sterben müssten.
Ohne moralische Erneuerung bleibt Wehrfähigkeit eine Illusion
Die Kehrtwende in der US-Außenpolitik erfordert eine nüchterne Bestandsaufnahme Europas. Doch es genügt nicht, die eigene militärische Schwäche zu beklagen und reflexhaft eine Aufrüstung zu fordern. Ohne eine strategische Kultur, die Verteidigung als staatliche Kernaufgabe begreift, und ohne eine moralische Erneuerung bleibt Europas Wehrfähigkeit eine Illusion. Entscheidend ist, dass der Staat die gesellschaftlichen Grundlagen schafft, damit ein positives Bekenntnis zu Deutschland wieder selbstverständlich wird.
Was dafür nötig ist, formulierte Verteidigungsminister Theodor Blank bereits bei der Gründung der Bundeswehr am 12. November 1955: „In entscheidendem Maße wird es auf die Menschen ankommen und auf den Geist, mit dem diese Menschen an ihre Aufgabe herangehen.“ Nur auf diese Weise – so Blank – könne aus den Trümmern des Alten etwas Neues erwachsen, das den veränderten sozialen, politischen und geistigen Situation gerecht wird.
Dieser Grundsatz gilt auch heute: Ohne nationale Identität bleibt jede militärische Aufrüstung ein Kartenhaus. Europa kann nur verteidigen, wer den Mut hat, seine eigene Identität zu bewahren.
Christian Osthold ist Historiker mit dem Schwerpunkt auf der Geschichte Russlands. Seine Monographie über den russisch-tschetschenischen Konflikt ist in der Cambridge University Press rezensiert worden. Seit 2015 ist Osthold vielfach in den Medien aufgetreten.