Fabian Nicolay / 14.11.2021 / 16:00 / Foto: Mini Misra / 7 / Seite ausdrucken

Versuch, sich in die anderen hineinzudenken

Seit der Grundschule hat man das Aufbegehren des Jugendlichen fahrlässig betrieben. Man hat alles dafür getan, große Skepsis gegenüber den angeblichen Axiomen der Moderne in ihm zu verankern. Zwei Gedankenexperimente zum besseren Verständnis des Anderen.

Gedankenexperiment Eins: Psychogramm eines Enthaltsamen

Nehmen wir an, ein „schwer erziehbarer“ Jugendlicher rebelliert gegen sein Umfeld, seine Eltern, Freunde und alle, die in seinen Augen konventionell leben. Niemand will ihm Böses, aber er fühlt sich auf eine existenzielle Art von seinen Mitmenschen bedroht. Keinem, vielleicht noch nicht einmal ihm selbst, ist klar, warum er dieses Aufbegehren so unnachgiebig, so total und zynisch betreibt. Er ist noch sehr jung und nicht reich an Erfahrungen. Aber er fühlt sich gedemütigt, ohne je krasse Demütigungen erfahren zu haben, er fühlt sich arm an Zuwendung aber materiell überfüttert, und er fühlt keinen Glauben an sich selbst und seine Kreativität, weil er irgendwie konform im Denken, reizüberflutet, digital eingetaktet und gefangen in einem Narzissmus ist, der sich selbst im Spiegel seiner eigenen Opferrolle betrachtet. Er möchte nicht Teil einer Gesellschaft sein, deren Chancen und Perspektiven sich als pure Zwangsläufigkeit aus Bildung, Leistung, Wachstum und Konsum darstellen. Er ist wütend auf die Generationen vor ihm, die ein Leben genossen haben, das er für falsch und unverantwortlich hält. 

Er verachtet den Fleischhunger, das Wohlstandsgeschwätz, das Wachstum auf Kosten Anderer, die dicken Karren der Parvenüs, die hohlen Phrasen und Versprechen der Politiker, Kapitalismus, Turbo-Kapitalismus, Lobbyismus, Rassismus, Sexismus und den fetten Machbarkeitswahn einer entfesselten Industrie. Er verabscheut die Angst der Alten vor dem Verlust ihrer kostspieligen Lebensgewohnheiten, die alle jene schlechten Eigenschaften schon immer für gerechtfertigt hielten und sie stets unter den Teppich zu kehren vermochten. Ein Gefühl der Machtlosigkeit frustriert ihn, und es macht ihn aggressiv. Er ist ruhelos, weil er nicht weiß, wo er beginnen soll mit seinem Leben für eine Zukunft, die ihm vorgegeben wird, aber zwangsläufig in einer Sackgasse enden muss. Er sieht sich und seine Generation als Opfer eines Weltgeschehens, das kurz davor ist, den Ereignishorizont eines Schwarzen Lochs zu überschreiten.

Seit der Grundschule hat man das Aufbegehren des Jugendlichen fahrlässig betrieben. Man hat alles dafür getan, große Skepsis gegenüber den angeblichen Axiomen der Moderne in ihm zu verankern. Optimismus war in den Augen seiner Lehrer unreifes Getue, das die Augen vor den gigantischen Problemen der Welt verschließt. Man hat ihm Misstrauen und Wut gegenüber seiner Elterngeneration gelehrt, deren Generalverdacht zum Inhalt hat, dass seine Zukunft in Wahrheit von seinen eigenen Eltern verspielt wird. Er fühlt sich mit dieser Erkenntnis allein gelassen und sucht Trost bei seinesgleichen, die genauso empfinden wie er. Er möchte sich von der Last seines Schuldenrucksacks befreien, den ihm seine Eltern aufgebürdet haben. Er möchte endlich Spaß haben und sich auf ein unbeschwertes Morgen freuen dürfen. Dafür würde er auf alles verzichten, was die Alten eigentlich für lebenswichtig erachten. Er ist jung, dynamisch und anspruchslos. Er hat nie Entbehrungen erfahren müssen, ist sich aber sicher, sie gern anzunehmen, wenn sie ihn nur zu dem Neuen Menschen machen, der er sein will. 

Er glaubt, jeder noch so schwierigen Situation gewachsen zu sein, solange sie den drohenden Weltuntergang verhindert. Denn die Apokalypse ist so klar wie Kloßbrühe – es sei denn, diejenigen, die ihm das einbrockt haben, löffeln jetzt sofort die Suppe selbst aus. Sprich, sie müssen endlich verzichten, abschwören, loslassen von der Verschwendung seiner eigenen, noch verbleibenden Lebensgrundlagen. Seine Existenz hängt ja nur an der Frage, ob sie verbrauchs-quantitativ und damit moralisch verantwortbar ist. Dafür kann und will er einstehen, nicht aber für die Verschwendung, in die ihn seine Eltern hineingeboren haben. Das hat man ihm in der Schule und den Jugendkadern der Partei immer gesagt. Er hat sein Gewissen lange geprüft und festgestellt, dass seine geistigen Vorbilder die richtige Haltung haben müssen, wenn sie das Unmögliche, Übermenschliche fordern. Das sind solche Entbehrungen, die, wenn nicht freiwillig, dann durch Zwang von der halsstarrigen Gesellschaft gefordert werden müssen. Von nichts kommt nichts. Also darf es auch mal wehtun, sagen seine Idole immer. Er fühlte sich um seine Zukunft bisher betrogen. Nun will er denjenigen diese Zukunft endlich entreißen, die ihr ohnehin nie begegnen werden.

Gedankenexperiment Zwei: Pathologie einer Kulturrevolution

Eine Jugendbewegung entsteht, ein Aufbegehren gegen fast alle Paradigmen des modernen, westlichen Lebensstils ist deutlich spürbar. Nehmen wir an, dass diese Jugendbewegung gewinnt, unabhängig davon, ob die Schlüsse, die sie heute zieht, auch in ferner Zukunft als richtig erachtet werden. Es ist eine Frage der höheren Moral, die nicht nur für die Gegenwart gilt, sondern weit in die Zukunft abstrahlt. Die Alten sind nicht im Besitz dieser höheren Moral, deshalb ist ihnen das Recht abzusprechen, für die Jungen zu sprechen. Nur die jungen Sprecher sind glaubhaft, sie entreißen den Alten das Mikrofon, beschimpfen sie, drohen und verkünden Worte der Panik und des bevorstehenden Todes. Sie nennen ihre erstaunten Zuhörer Mörder, weil sie sicher sind, dass der lange Arm ihrer Verschwendung zum jähen Ende des Homo sapiens führen wird, wenn man ihn nicht rechtzeitig abhackt.

Die Grüngardisten wollen mit ihrer Kulturrevolution den Neuen Menschen erschaffen, einen Hybrid aus physisch-schuldbehafteter Anwesenheit aber gesinnungs-ethischer Daseinsberechtigung. Der Neue Mensch verpflichtet sich deshalb selbst der Nachhaltigkeit, der Ressourcen-Askese, der Verantwortung gegenüber kommenden Generationen und dem Paradigma eines neuen, globalen Bewusstseins, das jeden lokal-wirtschaftlichen Prozess, jede Güterproduktion und jeden Einzelverbrauch ins Verhältnis setzt zur Leidensfähigkeit des Planeten. Der Planet ist die Religion. Dieser Dienst am Planeten bewahrt das Heilige und beseitigt alle lebensfeindlichen Aspekte von überkommener Technik- und Luxuskultur. 

Die Kulturrevolution des Neuen Menschen begehrt gegen die planetare Ausbeuterei vergangener Generationen auf und vernichtet das Althergebrachte und Unvernünftige seiner Feinde endgültig. Darin steckt der tiefe Sinn des Neuen Daseins: Jeder Mensch stellt sich seiner eigenen Verantwortung, in dem er seinen Verbrauch und seine Bedürfnisse dem Kollektiv gegenüber rechtfertigt und offenlegt. Ohne Selbstverpflichtung und Rechtfertigung gibt es keine Belohnung. Ein entsprechendes Nachhaltigkeitskonto muss jeder führen. Es ist für alle einsehbar und es ist fälschungssicher, denn der digitale Begleiter jedes Kollektivisten dokumentiert lückenlos Mobilitätsverhalten, Wärmebedarf und Wasserverbrauch, Essgewohnheiten und eigeninitiativ erbrachte Nachhaltigkeitsdienste zur Rückgewinnung und Transformation von Energieäquivalenten. Zuwiderhandlungen führen zur Enteignung bestehender individueller Ressourcenpläne. Verbrauchsverbrecher werden schnell Reue zeigen, denn ohne Licht und Wärme will kein Mensch lange ausharren.

Es ist keine Frage der Zeit, wann wir das Heft aus der Hand geben, zwangsläufig. Die Kulturrevolution wird sich Bahn brechen. Es spielt keine Rolle, ob sie gewollt, lanciert oder auch fahrlässig zugelassen wurde. Tatsache ist, sie verfängt bei der Jugend, und anscheinend haben wir kaum argumentative Hebel, mit denen wir den Erdrutsch der Erkenntnis und der Vernunft – unserer Vernunft – aufhalten können. Die neue Vernunft der Grüngardisten aber stellt sich als eine höhere Moral dar. In Wahrheit ist sie mehr Angst als Vernunft, weshalb sie so apodiktisch daherkommt. Echte Vernunft lässt immer Zweifel zu.

Wenn wir Alten oder Älteren es zulassen, dass die Grüngardisten und ihre Helfershelfer aus den betagten Reihen ihr Werk vollenden können, müssen wir es eventuell einfach zulassen – um der Falsifizierung willen. Wir werden aber die Beweisführung nicht mehr erleben. Wir können uns zu Lebzeiten ja verweigern und uns einen Spaß daraus machen, bevor wir uns aus der Schönen Neuen Welt verabschieden. Unsere Kinder und Enkel müssen allerdings bleiben, denn ihre Zukunft liegt im dauerhaften Zugriff der Kulturrevolutionäre. Dann sollten wir es unseren Kindern überlassen, in einer Konterrevolution zum passenden Zeitpunkt der Vernunft wieder zu ihrem Platz zu verhelfen. Der Weg dahin wird aber über Entbehrung, Verzicht, Erfahrung und Einsicht gehen müssen. Dann wird der Neue Mensch mit altem Gesicht vielleicht zugeben, dass er damals irrte.

Ende der Gedankenexperimente.
 

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Foto: Mini MIsra

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Boris Kotchoubey / 14.11.2021

Man denkt immer, dass man in einen anderen hineindenkt, während man in sich selbst hineindenkt. Ein Hineindenken in ein indokrinertes judenhassendes Hitlerjugendführerchen ist meiner subjektiven Meinung nach keine würdige Beschäftigung. Es hat ja bekannterweise gereicht, ein paar ganz große Führer der Bewegung zu erhängen, und das Problem wurde, zumindest für eine längere Zait, gelöst.

christoph ernst / 14.11.2021

Kluger, guter Beitrag. Shelby Steele (Jahrgang 1946) schreibt über die Tragik seiner Generation, dass ihre Jugendrevolte erfolgreich gewesen sei. Das habe immense Orientierungslosigkeit produziert. Jetzt erleben wir die Folgen.

Andreas Thomsen / 14.11.2021

Es ist nur der radikalisierte, zum Aktivismus getriebene Teil der Jugend, der aber natürlich am lautesten schreit und in den Medien das stärkste Echo findet. Haben nicht ungefähr ebeso viele Jugendliche in einer Umfrage angegeben, sie würden FDP wählen, wie Grüne? Aufgabe der Älteren ist aber, nicht dem Mob nach dem Mund zu reden, sondern sich jedem bunten, grünen.  roten, braunen, blauen, schwarzen Massenwahn entgegenzustellen, um unseren freiheilichen, demokratischen, sozialen Rechtsstaat für die die nächste Generation zu erhalten, wenn sich der Aufruhr gelegt haben wird.

A. Ostrovsky / 14.11.2021

Vernunft ist eine kulturelle Meisterleistung, über Jahrhunderte langsam gewachsen, über Jahrhunderte immer von den Besten ihrer Generation bezahlt, oft genug mit dem Leben. Aber selbst wenn die, die die Vernunft ihr ganzes Leben lang nur gegen die Feinde der Vernunft verteidigt haben, in Armut, Verachtung, unter dauerndem Druck und Bedrängnis durch die jeweilige Macht ihr Leben dieser heiligen Sache, der Vernunft, gewidmet haben, ohne dafür auf dem Scheiterhaufen zu landen, DARF man den Feinden der Vernunft nicht weiter die Oberhand, das angenehme Leben und das Leben in Reichtum überlassen. Wer die Vernunft missachtet, sie verhöhnt, indem er den lächerlichsten Stuß als Wissenschaft verkauft, und sich dafür auch noch reich bezahlen und feiern lässt, MUSS BEKÄMPFT werden, von denen, die solche Schmach und Verachtung der Vernunft nicht ertragen können. Es gibt da keinen Ermessensspielraum. Wenn man von den Feinden bedroht wird, die gesamte Existenz in Frage gestellt wird, MUSS man KÄMPFEN, bis die Unvernunft besiegt ist und wieder ihre lächerlichen Erklärungen sabbert, man hätte ja das Gute gewollt aber man hätte ja gar nicht gewusst, ..... Es ist eine Schicksalsfrage der Menschheit seit TAUSENDEN Jahren, ob die Dummheit sieht oder die Vernunft. Dieser Kampf besteht seit den Anfängen der Geschichtsschreibung. Die Waffen der Vernunft waren nie Gewalt, Krieg oder Diktatur. Das sind die Waffen der Unvernunft. Die Vernunft kämpft mit den Waffen der Vernunft, denn die sind stärker.

Rolf Menzen / 14.11.2021

Erstens: Da bei der letzten BT-Wahl die “Jugend” zu gleichen Anteilen FDP und Grüne gewählt hat, sollte man nicht pauschal von “der Jugend” sprechen. Zweitens: Zumindest zu meiner Jugendzeit haben wir einen Scheißdreck darauf gegeben, was die Lehrer erzählt haben. Sowohl bei linken als auch bei rechten Lehrern.

sybille eden / 14.11.2021

Wenn die ” Grüngardisten” merken, dass man Grass nicht essen kann und es keinen Strom mehr fürs Internet gibt, wird es sehr schnell vorbei sein mit der “Kulturevolution”.

Ludwig Luhmann / 14.11.2021

Man fragt andere, was sie denken. Was sie dann sagen, ist das, was sie denken. Selbst in das Gesagte kann man dann noch viel hineininterpretieren. - Sich in das Ungesagte einer anderen Person hineinzudenken, ist eine Reise in das eigene Denken.

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