Hannes Stein / 29.02.2012 / 19:52 / 0 / Seite ausdrucken

Verspätete Anmerkungen zur Totalitarismustheorie

Je näher ich mir die Totalitarismustheorie anschaue, desto fremder schaut sie zurück. Gewiss, ich verstehe schon: Als Hannah Arendt diese Theorie entwickelte, wollte sie darauf aufmerksam machen, dass der Nationalsozialismus weniger dem italienischen Faschismus ähnlich sah (der doch eine Operette war) als vielmehr dem Stalin´schen Kommunismus. Dieselben Aufmärsche, dieselben Fahnen, dieselben blutigen innerparteilichen Säuberungen, diese zentrale Bedeutung der Geheimpolizei. Aber wenn ich die Nazi-Herrschaft mit dem sowjetischen Kommunismus vergleiche, fallen mir doch vor allem die Unterschiede ins Auge.

1. Zunächst einmal war der Nationalsozialismus für die allermeisten arischen Volksgenossen eine sehr vergnügliche Angelegenheit. Mir gefällt der Begriff der „Zustimmungsdiktatur“, den, glaube ich, Götz Aly entwickelt hat. Der gemeine Deutsche konnte endlich die Sau rauslassen, er konnte die jüdischen Nachbarn berauben (schauen Sie sich diese Fotos an). Auch der Krieg war für die Deutschen erstmal ein Mordsspaß. Die Wehrmachtssoldaten konnten halb Europa ausplündern und ihren Familien das Zeug schicken, das sie in Frankreich und Polen gestohlen hatten. Man musste schon ein Gegner des Systems sein, um das nicht toll zu finden. (Schlimm wurde es für die meisten Deutschen erst, als die Briten anfingen, die deutschen Städte aus der Luft anzuzünden. Aber diese Kalamität hatten ja nicht die Nazis verursacht – oder nur indirekt. Deswegen hat der Luftkrieg die Bevölkerung nur noch enger an das Regime geschweißt.)

Der Kommunismus war dagegen nie eine Zustimmungsdiktatur, jedenfalls nicht in der Sowjetunion. Er bedeutete dort für die Mehrheit von Anfang an: Hunger, Entrechtung, Angst. Der Terror der Kommunisten richtete sich ja nicht nur gegen wirkliche oder eingebildete Gegner, sondern auch gegen „Saboteure“, und zum Saboteur konnte jeder werden, der sich nur fünf Minuten bei der Arbeit verspätete. Der Kommunismus war in diesem Sinne „totalitärer“ als der Nationalsozialismus. Aber verträgt dieses Adjektiv denn eine Steigerungsform?

2. Dann sind die Ideologien, die hinter diesen beiden Gesellschaftssystemen stehen, doch sehr verschieden. Der Nationalsozialismus basiert auf einem tiefen Geschichtspessimismus: Dasein ist Kampf, die Gesetze der Natur sind ewig und unabänderlich, und die Natur kennt keine Gnade. Wenn man sich eine Göttin der Nazis vorstellen wollte, dann wäre sie eine riesenhafte Gottesanbeterin, die Menschenopfer zwischen ihren Mahlwerkzeugen zermalmt. Die Nazis glaubten, dass Krieg der natürliche Zustand der Menschheit sei. Die arische Rasse stand in diesem Krieg als Minderheit. Sie musste erbarmungslos zuschlagen, wenn sie von den slawischen und anderen Untermenschen nicht überrollt und bastardisiert werden wollte. Eigentlich gibt es keine nationalsozialistische Utopie; nur die furchtbare Vision eines bis in alle Ewigkeit eingefrorenen Sklavenimperiums mit den deutschen Volksgenossen an der Spitze.

Der Kommunismus dagegen war ein außer Rand und Band geratener verweltlichter Messianismus. Am Ende stand die Vision einer brüderlichen, ganz und gar mit sich versöhnten Menschheit. Seine Parolen lauten deshalb: Wo man hobelt, fallen Späne. Für die glänzende Zukunft müssen wir heute Opfer bringen. Dabei verdrehten sich diese Parolen bald auf perverse Weise. Es hieß nicht mehr: Für diese grandiose Zukunftsvision ist kein Opfer zu schade. Sondern es hieß: Wenn die Opfer so blutig sind, wenn Menschlichkeit so gar keine Rolle mehr spielt – dann MUSS das Ziel, dem die Opfer gebracht werden, ja offenbar ganz wunderbar sein!

3. Noch ein interessanter Unterschied: Die Liste der Künstler und Schriftsteller, die dem Kommunismus anhingen und Oden auf Stalin verfassten, ist lang. Und es befinden sich, das muss leider gesagt werden, erstklassige Namen darunter. Brecht war ein großer Dichter, ebenso Aragon; Picasso war leider eben doch ein großer Maler; Hanns Eisler war ein bedeutender Komponist. Die Liste der erstklassigen Intellektuellen, die Anhänger er Nazis waren, ist kurz. Mir fallen auf Anhieb vier Namen ein: Benn, Céline, Ezra Pound und Cioran. Diese Differenz ist damit zu erklären, dass der Kommunismus immer noch die Sprache der Aufklärung und der Menschenrechte sprach. Der Nationalsozialismus eher nicht, obwohl er sich natürlich auch als „wissenschaftliche Weltanschauung“ empfahl.

4. Weitere Differenz, diesmal eine moralische: Die sowjetische Armee ist für manche Menschen wirklich eine Befreiungsarmee gewesen. Es ist kein romantischer Unsinn, wenn sich „Jakob der Lügner“ in Jurek Beckers immer noch wunderbarem Roman nach den Russen sehnt. Wären sie gekommen, hätte der Schrecken für ihn und die anderen Insassen des Ghettos ein Ende gehabt. Auch mein Freund Norman Manea hat die Russen als Befreier erlebt. Die deutsche Wehrmacht dagegen hat niemanden jemals befreit. Keinen einzigen Menschen. Auch die Ukrainer nicht, die im ersten Moment glaubten, die Deutschen würden sie vom kommunistischen Albdruck erlösen (viele von ihnen taten sich darum als besonders brutale „Hiwis“ beim Umbringen der ukrainischen Juden hervor). Für die Nazis waren die Ukrainer keine Verbündeten, sondern Untermenschen; sie sollten nicht befreit, sondern ausgehungert und versklavt werden.

5. Ein aufschlussreicher Unterschied in den Konzentrationslagern der beiden Systeme: Hier wie dort gab es eine Hierarchie. Ganz oben die uniformierten Bewacher, versteht sich, gleich darunter die Kriminellen, darunter die politischen Häftlinge. Aber in den Lagern der Nazis war diese Hierarchie starr, denn sie war „rassisch“ definiert: Tiefer als jeder deutsche Kommunist standen die Polen und Russen, und jene wiederum waren lichtjahreweit von den Juden und Zigeunern entfernt, die eben einfach nur vertilgt, ermordet, „vernichtet“ werden sollten. In den kommunistischen Lagern dagegen konnten die Bewacher sich plötzlich unter den Häftlingen wiederfinden. Häftlinge wiederum konnten, wenn sie sich durch Spitzeldienste bewährten, unter die Bewacher aufsteigen. Es soll Leute gegeben haben, die diese makabre Karriere mehrfach durchliefen.   

6. Kommen wir endlich zur „Endlösung der Judenfrage“. Ich weiß von keinem anderen Genozid, der dermaßen radikal geplant und durchgeführt worden wäre. Das heißt: Das Ziel war nicht nur, die Juden von irgendwo zu vertreiben oder sie in einem speziellen Gebiet zu ermorden. Nein, alle Juden sollten umgebracht werden, überall, wo sie sich auch aufhielten. Ich weiß auch von keinem anderen Genozid, der dermaßen grundlos gewesen wäre. Die Deutschen hatten mit den Juden ja keinen Streit. Es ging nicht um Macht, es ging nicht um Land. Ich weiß ferner von keinem Genozid, der eine ermaßen bunte, internationale Koalition von Mördern vereint hätte. Es mordeten oder halfen beim Mord: Deutsche, Österreicher, Litauer, Letten, Esten, Ukrainer, Polen, Kroaten, Franzosen, Flamen, Wallonen, Griechen, sogar manche Serben und Russen ... habe ich jemanden ausgelassen? (Nicht aber die Bulgaren, Dänen und Albaner; es soll ihnen nicht vergessen sein.)

Das, was meistens als Kriterium für die Einzigartigkeit der „Endlösung“ angeführt wird, nämlich die „industrielle Massenvernichtung“, ist in Wahrheit keines. Es handelt sich hier um eine gedankenlose Phrase. Die Juden in der Ukraine wurden nicht „industriell“ umgebracht, sondern an Ort und Stelle erschossen, erschlagen, erstochen, erwürgt, verbrannt. Einzigartig kommt mir aber dies vor: ein Völkermord ohne handfestes, materielles Motiv, begeistert unterstützt und begrüßt von den Deutschen, den Österreichern und ihren Verbündeten, der nur deswegen nicht auf dem ganzen Globus stattgefunden hat, weil die Deutschen Gott sei Dank militärisch besiegt wurden.

Stimmt, der Kommunismus war auch immer wieder genozidal gegen einzelne Völker. Der Hungermord an der Ukraine etwa war ein genozidaler Akt (und die Hälfte seiner Opfer waren Kinder). Bei Tim Snyder kann man in „Bloodlands“ nachlesen, dass die „große Säuberung“ der Jahre 1937 bis ´39 vor allem auch ein Massenmord an Polen gewesen ist. Die Deportationen der Wolgadeutschen, der Finnen, der Krimtataren,  der Kalmücken, Tschetschenen und Inguschen, die Todesmärsche gewesen sind. Aber es hat in der Sowjetunion nie eine so radikale Maßnahme wie die deutsche „Endlösung“ gegeben. Nicht einmal der „Holodomor“ hatte zum Ziel, sämtliche Ukrainer umzubringen. Außerdem bin ich nicht sicher, ob das Wort „Genozid“ hier ganz richtig ist: Der Hungermord war nämlich nicht nur etwas, was Russen Ukrainern angetan haben. Er war auch etwas, was Ukrainer Ukrainern angetan haben. Die örtlichen Parteikader bestanden nicht aus Fremden.

Vergleichen—nicht wahr?—kann man nur, was nicht miteinander identisch ist. Ich bin sehr dafür, den Nationalsozialismus mit dem Kommunismus zu vergleichen; und ich bin dafür, beim Vergleichen äußerst genau hinzuschauen. Zum Schluss ein Zitat von Robert Conquest, dem großen britischen Historiker des stalinistischen Terrors. Ich fand das Zitat in seinem Buch „Reflections on a Ravaged Century“. Es geht so:

„Late in 1997 the Paris `Le Monde´ interviewed me by phone. I was asked did I find the Holocaust `worse´ than the Stalinist crimes. I answered yes, I did, but when the interviewer asked why, I could only answer honestly with `I feel so´. Not a final judgement, let alone to suggest that the Holocaust was much `worse´ than the Stalinist terrors, or to decry the view of the great Jewish Soviet writer Vasily Grossman, whose own mother was killed by the Nazis, that there is almost nothing to choose between the two systems. Still, this primary `feeling,´based indeed on knowledge, has a validity of ist own. I would argue, too, that, whatever view one takes, without feeling the Holocaust one cannot feel, or understand, Stalinism.“

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