Die Fronten im Ukraine-Krieg verschieben sich, doch das nutzt in Kievs präkärer Lage höchstens politisch, wenn überhaupt. In den Machtzentralen beider Länder werden derweil innere Konflikte ausgetragen.
Die aktuelle Phase des Ukraine-Kriegs lässt sich treffend als paradox beschreiben. Während die russischen Truppen ihre Offensive im Donbass verstärken, bringt die Ukraine die Russen in Kursk in Bedrängnis. Gleichzeitig kämpft Kiew mit einer militärischen Führungskrise, und in Moskau erschüttern Korruptionsskandale die obersten Ränge des Verteidigungsministeriums.
Die russischen Streitkräfte haben ihre Offensive im südlichen Donbass massiv intensiviert. Besonders besorgniserregend für die Ukraine ist der unerwartete Vorstoß einer russischen Einheit, die ursprünglich von Awdijiwka in Richtung Pokrowsk vorrückte, aber plötzlich ihre Richtung änderte und nach Süden auf die Stadt Selidowo zustürmte. Diese Offensive führte zu einer schweren Krise in der ukrainischen Verteidigung östlich der Frontlinie, insbesondere im Gebiet um Karlowka, das bis zum 30. August vollständig von den russischen Truppen erobert wurde.
Doch die russische Aggression endet hier nicht. Weitere Offensiven wurden von Marjinka und Krasnohoriwka in Richtung Kurachowe gestartet, einem entscheidenden logistischen Knotenpunkt für die ukrainischen Streitkräfte im südlichen Donbass. Gleichzeitig setzen russische Einheiten ihren Vormarsch zwischen Wuhledar und Kurachowe fort. Die militärische Lage spitzt sich immer weiter zu, da diese Region nun von mehreren Seiten unter Druck gerät.
Die anfänglichen Erfolge verfblassen
Trotz dieser ernsten Lage im Donbass hält das ukrainische Militär an seiner Offensive in der Region Kursk fest. Hier konnten ukrainische Truppen zwar einige Fortschritte erzielen, etwa die Eroberung des Dorfes Martynowka an der Straße Sudscha-Kursk, aber das allgemeine Tempo der Offensive hat sich deutlich verlangsamt.
Die anfänglichen Erfolge durch mobile Panzergruppen verblassen, da die russischen Streitkräfte ihre Reserven in diese Region verlegt haben. Dies führte zu einer Verstärkung der Front und zu schweren Verlusten auf ukrainischer Seite durch Drohnen, Panzerabwehrraketen und Artillerie.
Die ukrainischen Streitkräfte sahen sich gezwungen, ihre Taktik zu ändern und setzen nun vermehrt auf Infanterieangriffe, unterstützt durch Artillerie, Drohnen und Panzer. Eine ähnliche Anpassung der Taktik war bereits bei der Offensive in der Region Saporischschja im Jahr 2023 sowie bei der russischen Offensive bei Awdijiwka im Winter 2024 notwendig geworden.
Doch die Situation bleibt schwierig: Bisher ist unklar, ob es den ukrainischen Truppen gelungen ist, strategisch wichtige Gebiete wie Mala Loknja zu sichern. Der Versuch, von Osten und Westen zur Straße Sudscha-Lgow vorzudringen, blieb ohne Erfolg. Auch der Sturm auf den Bezirkshauptort Korenewo scheiterte, und Teile des nahegelegenen Olgowka, die Grundlage des Durchbruchs, gingen wieder verloren.
Russen bauen Pontonbrücken
Den größten Erfolg erzielten die ukrainischen Truppen südlich von Korenewo, wo sie die Dörfer Snagost, Wischnjowka und Krasnooktjabrskoje einnahmen. Hier erreichten ihre Angriffsspitzen den Fluss Seim und schnitten Korenewo von der benachbarten Stadt Gluschkowo ab, die auf der anderen Seite des Flusses liegt. Trotz der Zerstörung der Brücken im Bezirk Gluschkowo setzen russische Truppen den Bau von Pontonbrücken fort, um ihre Einheiten vor Ort und an der Grenze zur Ukraine in Tetkino weiterhin zu versorgen.
Das ist allerdings nicht der einzige Erfolg für Moskau. So haben die russischen Streitkräfte östlich von Sudscha nicht nur das ukrainische Vorrücken gestoppt, sondern führen nun auch Gegenangriffe durch. Diese zielen offenbar darauf ab, die ukrainischen Kräfte zurück nach Sudscha und über den Fluss Psel zu drängen. In den Dörfern Spalnoje und Borki entbrennen heftige Kämpfe, da die ukrainischen Streitkräfte versuchen, eine stabile Verteidigungslinie zu errichten.
Hinzu kommt das Folgende: Entlang der gesamten Kursker Front führen die russischen Luftstreitkräfte Dutzende von Bombenangriffen durch. Solange die ukrainischen Truppen mit mobilen Gruppen angriffen, waren diese Angriffe ineffektiv, da russische Bomben mittels Satellitennavigation auf stationäre Ziele gelenkt werden. Doch als die ukrainische Offensive ins Stocken geriet, nahm die Intensität der russischen Luftangriffe auf das ukrainische Hinterland und die vorderen Linien massiv zu.
Im Donbass stellt sich die Lage deutlich prekärer dar. Die plötzliche Wende der russischen Offensive bei Pokrowsk nach Süden hat die ukrainische Verteidigung vor eine schwere Prüfung gestellt. Innerhalb weniger Tage verloren die ukrainischen Streitkräfte die Kontrolle über die Stadt Nowogrodowka, die fast vollständig von russischen Truppen erobert wurde.
Im Zuge ihres Rückzugs verließen die ukrainischen Truppen fast kampflos das strategisch wichtige Dorf Karliwka und alle Gebiete entlang des dortigen Stausees. Damit nähert sich die Frontlinie nun sowohl von Norden als auch von Osten dem Gebiet um Ukrainka und Selidowo. Auch die russische Gruppierung südöstlich von Selidowo wurde aktiver und begann, von den eroberten Städten Marjinka und Krasnohorowka in Richtung Kurachowe vorzurücken, einem weiteren wichtigen logistischen Zentrum der ukrainischen Streitkräfte.
Ob das russische Kommando plant, gleichzeitig mit dem Vormarsch auf Kurachowe auch die Stadt Pokrowsk anzugreifen, bleibt unklar. Ein Sturm auf die Großstadt würde erhebliche Kräfte und Zeit erfordern. Derzeit konzentrieren sich die russischen Truppen darauf, die Vororte von Pokrowsk, wie das Dorf Hrodowka und umliegende Gebiete, unter ihre Kontrolle zu bringen.
F-16 selbst abgeschossen?
Während die militärischen Herausforderungen weiter zunehmen, entschloss sich Wolodymyr Selenskyj zu einem überraschenden Personalwechsel an der Spitze der Luftstreitkräfte. Am Freitag entließ er per Dekret den bisherigen Kommandeur Mykola Oleschtschuk.
Diese Entscheidung fiel nur einen Tag, nachdem ukrainische Behörden bestätigt hatten, dass ein US-amerikanischer F-16-Kampfjet bei einem Einsatz abgestürzt war und der Pilot dabei ums Leben kam. Selenskyj begründete seine Entscheidung mit dem Wunsch, die militärische Führung der Ukraine zu stärken, ohne jedoch weitere Details zu nennen.
Der Absturz der F-16 stellt einen herben Rückschlag für die Ukraine dar, die monatelang den Westen gedrängt hatte, diese modernen Kampfjets zu liefern. Es war der erste dokumentierte Verlust dieser Art, nur wenige Wochen nachdem die Ukraine begonnen hatte, diese Überschallflugzeuge zu erhalten.
Die Abgeordnete der Werchowna Rada, Maryana Besuhla, äußerte, dass der Absturz möglicherweise durch Eigenbeschuss verursacht und die F-16 durch das eigene ukrainische Luftabwehrsystem abgeschossen wurde. Oleschtschuk wies diese Anschuldigungen zurück und warf Besuhla vor, die Führung der Streitkräfte diskreditieren zu wollen. Er betonte, dass die Ermittlungen zu dem Vorfall noch andauern.
Generalleutnant Anatolij Krywonoschko, der bisher die Luftwaffenoperationen in der zentralen Ukraine leitete, wird vorübergehend die Aufgaben des Oberkommandos übernehmen. Dies ist nicht das erste Mal, dass Selenskyj einen hochrangigen Militärführer entlässt. Bereits Anfang dieses Jahres wurde der beliebte Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, Walerij Saluschnyj, von seinem Posten enthoben und durch Oleksandr Syrskyj ersetzt.
Syrskyj war 2022 für das erfolgreiche Gegenoffensive in der Region Charkiw verantwortlich und führt nun die Angriffsoperation der ukrainischen Truppen in der Region Kursk im Westen Russlands.
Strafverfahren gegen hochrangige Offiziere des russischen Verteidigungsministeriums
Während die Ukraine mit ihren eigenen Herausforderungen ringt, steckt das russische Verteidigungsministerium in einer neuen Krise. Der ehemalige stellvertretende Verteidigungsminister Pawel Popow wurde wegen Betrugsverdachts verhaftet. Er soll sich durch den „Patriot“-Park, ein weitläufiges Museums- und Ausstellungsgelände, das er selbst verwaltete, persönlich bereichert haben.
Popow ist bereits der zehnte hochrangige Vertreter des Verteidigungsministeriums, der in den letzten Monaten in einem Korruptionsfall verhaftet wurde. Die Ermittlungen gegen ihn sind Teil einer größeren Serie von Strafverfahren gegen hochrangige Offiziere des russischen Verteidigungsministeriums, die im April mit der Verhaftung des stellvertretenden Verteidigungsministers Timur Iwanow ihren Anfang nahm.
Innerhalb eines Monats wurden weitere führende Militärs verhaftet, darunter der ehemalige Kommandeur der 58. Armee, Iwan Popow, sowie die früheren Leiter der Hauptabteilungen für Personal und Kommunikation des Ministeriums, Jurij Kusnezow und Wadim Schamarin. Auch der Leiter der Abteilung für staatliche Verteidigungsaufträge, Wladimir Werteletzkij, wurde in Haft genommen.
Besonders bemerkenswert ist der Fall des ehemaligen Leiters der Militärbaugesellschaft, Andrej Belkow, der am 25. Juli verhaftet wurde. Nur einen Tag später, am 26. Juli, wurde auch der frühere stellvertretende Verteidigungsminister Dmitrij Bulgakow festgenommen, der für die Logistik der russischen Streitkräfte verantwortlich war.
Tiefe Risse im inneren Gefüge des russischen Militärs
Die Verhaftungen werfen ein grelles Licht auf die tiefen Korruptionsprobleme innerhalb der russischen Militärführung. Der „Patriot“-Park, ein monumentales Projekt, das 2014 von Sergej Schoigu, dem damaligen Verteidigungsminister, eröffnet wurde, steht im Zentrum dieser Ermittlungen. Der Park, der auch die Hauptkirche der russischen Armee beherbergt, wurde während des Krieges gegen die Ukraine zunehmend für Propagandazwecke genutzt, insbesondere zur Ausstellung erbeuteter Militärtechnik.
Pawel Popow, der seit den 1990er-Jahren unter Schoigu im Zivilschutzministerium arbeitete und 2013 mit ihm ins Verteidigungsministerium wechselte, steht im Mittelpunkt dieses Skandals. Ihm wird vorgeworfen, Bauunternehmen, die im Park tätig waren, gezwungen zu haben, unentgeltlich Arbeiten an seinen eigenen Landhäusern durchzuführen. Nach Fertigstellung der Gebäude soll Popow das Gelände weiterhin genutzt haben, um die technische Betreuung seines Grundstücks zu finanzieren.
Die Verhaftungswelle im russischen Verteidigungsministerium, die in den letzten Monaten immer mehr hochrangige Generäle erfasst hat, zeigt die tiefen Risse im inneren Gefüge des russischen Militärs. Trotz dieser massiven internen Probleme schweigt Schoigu zu den Korruptionsvorwürfen und den Verhaftungen seiner ehemaligen Stellvertreter. Ob er alte Weggefährten schützen will oder vielmehr versucht, seinen eigenen Kopf aus der Schlinge zu ziehen, bleibt vorerst unklar.
Begrenzter Einfluss des Internationalen Strafgerichtshofs
Die gegenwärtigen Entwicklungen an den Fronten in der Ukraine und Russland sowie die internen Krisen in Kiew und Moskau zeigen, wie sehr dieser Krieg nicht nur militärisch, sondern auch politisch geführt wird.
Auch Wladimir Putins geplante Reise in die Mongolei ist davon betroffen. Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag hat Ulan Bator aufgefordert, den russischen Präsidenten zu verhaften. Allerdings ist klar, dass es nicht dazu kommen wird. Dmitrij Peskow erklärte gegenüber der Presse, dass im Kreml keine Besorgnis über eine mögliche Verhaftung bestehe.
Es ist politisch allerdings äußerst heikel, dass die Mongolei ihren prominenten Gast, der auf Einladung von Präsident Uchnaagiin Chürelsüch in das asiatische Land reist, nicht festsetzen wird. Die Mongolei hat nämlich das Römische Statut des IStGH unterzeichnet, seit das Gericht im März 2023 einen Haftbefehl gegen Putin erlassen hat. Damit wäre das Land formal verpflichtet, ihn zu verhaften.
Aus diesem Grund hatte der russische Präsident im August 2023 nicht am BRICS-Gipfel in Südafrika teilgenommen. Dass die Mongolei den Haftbefehl nun offen ignoriert, zeigt deutlich den begrenzten Einfluss des Internationalen Strafgerichtshofs – und wie wenig die Weltgemeinschaft gegen die Machtspiele von Wladimir Putin ausrichten kann.
Dr. Christian Osthold ist Historiker mit dem Schwerpunkt auf der Geschichte Russlands. Seine Monographie über den russisch-tschetschenischen Konflikt ist in der Cambridge University Press rezensiert worden. Seit 2015 ist Osthold vielfach in den Medien aufgetreten.