Verschlusssache Boris Pistorius, Teil 2: Lügen aus dem Ministerium

Achgut.com bekam vom niedersächsischen Innenministerium zunächst keinerleit Antwort auf Mails mit Fragen zu zahlreichen offenbar verschwundenen Verschluss- und Geheimakten im Geschäftsbereich des Ministeriums, die wir selbstverständlich rechtzeitig vor Erscheinen unseres Beitrags „Die Verschlusssache Boris Pistorius" gestellt hatten. 14 Stunden nach Erscheinen des Artikels, gestern um 20:14 Uhr traf dann eine Antwort ein. Es dauerte offenbar eineinhalb Tage, um ein entsprechendes Narrativ für die Vorgänge aufzubereiten. Wir dokumentieren die Antwort am Schluss. Dort dokumentieren wir auch fünf "Kleine Anfragen" der FDP-Fraktion, die diese aufgrund der Achgut.com Berichterstattung auf den Weg gebracht hat. Zu diesem Zeitpunkt kannte noch niemand die Antwort an Achgut.com aus dem Innenministerium. 

Insgesamt kann man nun wohl die schrittweise Entfaltung eines politischen Skandals miterleben. Zur Erinnerung: Die ursprüngliche Frage der FDP-Abgeordneten lautete schlicht: "Gibt es derzeit eingestufte Akten im Geschäftsbereich des MI [Innenministeriums], deren Verbleib unklar ist oder die seit mehr als einem Monat im Aktenbestand fehlen?" Das hatte das Ministerium, wie berichtet, bis auf einen Fall verneint. Eine einfache Frage und eine einfache Antwort, deren Wahrheitsgehalt allerdings durch eine Mitteilung des Geheimschutzbeauftragten bei der Polizeidirektion Hannover schwer erschüttert wurde. Sollte also das niedersächsische Innenministerium wider besseres Wissen Abgeordnete belogen haben?

Bei der Beantwortung dieser Frage ist die aktuelle Antwort des Innenministeriums an Achgut.com äußerst hilfreich, trotz aller wolkigen Formulierungen. Im Klartext lässt sie sich wie folgt zusammen fassen:

1. Die Informationen und Unterlagen über nicht auffindbare oder verschwundene VS-Akten, die Achgut.com vorliegen, sind echt. Sie haben aber keinen Eingang in die Beantwortung der o.g. Frage gefunden.

2. Damit hat das Innenministerium die Kleine Anfrage der FDP vom 17. Juli defintiv nicht wahrheitsgemäß beantwortet. 

3. Der Schwarze Peter für das Nicht-Erwähnen der verschwundenen VS-Akten wird dem Polizeipräsidium Hannnover zugeschoben. Von dort habe man "Fehlanzeige" gemeldet.

4. Am 31.07.2019 telefonierten der Hannoveraner Polizeipräsident Kluwe und der Landespolizeipräsident Brockmann über "Hinweise in seiner Behörde", dass "ältere Akten offenbar nicht hinreichend dokumentiert seien". Sie gingen der Einfachheit halber nicht von einem "unklaren Verbleib" aus, sondern lediglich von einer "nachlässigen Dokumentation". "Im Ergebnis" waren sich die beiden Herren dann einig, "dass diese Feststellung von der Fragestellung der Kleinen Anfrage 18/4188 nicht umfasst und in der Beantwortung deshalb nicht zu berücksichtigen sei." So nennt man im Hannoveraner Amtsdeutsch offenbar die glasklare Absprache zweier Behördenchefs, einen unangenehmen Tatbestand zu vertuschen und das Parlament nicht wahrheitsgemäß zu informieren.

5. Inzwischen konnte die "weit überwiegende Anzahl der Aktenzeichen" angeblich zugeordnet werden, was heißen soll, dass sie nicht verschwunden waren, sondern nur nicht gefunden wurden. Auf wundersame Weise kann der Verbleib von Akten, von denen in den uns vorliegenden Papieren definitiv gesagt wurde, dass "eine sichere Aussage" über ihren Verbleib "nicht möglich“ sei, nun doch nachvollzogen werden. Da erhebt sich die Frage: Warum hat man dies den Parlamentariern nicht genau so mitgeteilt, sondern kommuniziert die überraschende Rückkehr der Akten in den Stuhlkreis der Behörde erst nach einer Anfrage beziehungsweise der Veröffentlichung eines Beitrages durch Achgut.com? 

6. Trotz aller Bemühungen konnten 22 der in unserem Beitrag aufgeführten Akten immer noch nicht dingfest gemacht werden.

Das heißt: Das niedersächsische Innenministerium gibt offiziell zu, dass mindestens 22 streng vertrauliche oder geheime Akten – Stand heute – verschwunden sind. 

Im Gegensatz zu einer einzigen relativ trivialen Akte, deren unklarer Verbleib in der Antwort auf die FDP-Anfrage vom 1. August zugestanden wurde, sind es Stand heute immer noch 22  Akten mit unter Umständen äußerst brisantem Inhalt. Beispielsweise können V-Leute und andere gefährdete Personen aufgrund der in den betroffenen Behörden herrschenden Zustände nicht sicher sein, dass Ihre Identität geschützt ist.

Das niedersächsiche Innenministerium hat dem Parlament daher die grobe Unwahrheit gesagt. Bis zum heutigen Tage versucht man, eklatantes Amtsversagen zu verharmlosen und zu vertuschen. 

7. Innenminister Boris Pistorius steht einem Amtsapparat vor, dessen Führungs-Figuren nach jetzigem Stand glauben, nach Gutdünken entscheiden zu können, welche Wahrheit man dem Parlament zumuten kann und welche nicht. Trotz aller Bekundungen, der Minister und sein Staatssekretär hätten von alldem nichts gewusst, so liegt die politische Verantwortung für den Umgang des Innenministeriums mit den Landtagsabgeordneten eindeutig bei Pistorius.

8. Die Vorgänge sind noch nicht zu Ende erzählt und werden zunächst einmal ein parlamentarisches Nachspiel haben.

Inzwischen hat die FDP-Fraktion im niedersächsischen Landtag eine umfangreiche (aus formalen Gründen fünfteilige) "Kleine Anfrage" zur Causa auf den Weg gebracht. Die Einleitung der einzelnen Anfrageteile ist stets identisch, die Fragen am Schluss beziehen sich jeweils auf unterschiedliche Sachverhalte. Wir dokumentieren die parlamentarische Anfrage hier im Wortlaut: 

Teil 1

Kleine Anfrage zur kurzfristigen schriftlichen Beantwortung 
gemäß § 46 Abs. 2 GO LT 

Abgeordnete Dr. Marco Genthe, Dr. Stefan Birkner, Christian Grascha und Jörg Bode (FDP)

Hat das Innenministerium verschwundene VS-Akten verschwiegen? Teil 1

Anfrage der Abgeordneten Dr. Marco Genthe, Dr. Stefan Birkner, Christian Grascha und Jörg Bode (FDP) an die Landesregierung, eingegangen am      

Auf die Anfrage der FDP-Landtagsfraktion „Aktenführung im Geschäftsbereich des MI“, antwortete die Landesregierung auf die Frage, ob es derzeit eingestufte Akten im Geschäftsbereich des MI geben würde, deren Verbleib unklar ist oder die seit mehr als einem Monat im Aktenbestand fehlen, dass ausschließlich das Landeskriminalamt Niedersachsen (LKA NI) den unklaren Verbleib eines Dokuments gemeldet habe. Bei dem betreffenden Dokument handele es sich um eine durch das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) übersandte Ausgabe des periodischen Informationsschreibens „BfV-aktuell“ (Drs. 18/4280). „Weitergehende Erkenntnisse zu einem ungeklärten Verbleib eingestufter Akten konnten im Rahmen der kurzfristigen Erhebung nicht erlangt werden. Im Ministerium selbst liegen Hinweise auf das Fehlen von eingestuften Dokumenten nicht vor“ (Drs. 18/4280).

In einem Artikel vom 26.09.2019 von Dirk Maxeiner auf der Internetseite www.achgut.com wird nun berichtet, dass die Geheimschutzbeauftragte bei der Polizeidirektion Hannover bereits eine Woche vor Beantwortung der Anfrage offenbar zu anderen Ergebnissen gekommen sei. „Diesen Verdacht legen Unterlagen und Informationen nahe, die Achgut.com aus mehreren Quellen vorliegen, darunter eine Aufstellung von verschwundenen Verschluss- beziehungsweise Geheimakten aus dem Geschäftsbereich des Ministeriums. Unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die FDP-Anfrage werden darin über 80 – in Worten achtzig – hochsensible Akten (VS-Akten) als vermisst gemeldet. Dazu heißt es: ‚Es ist denkbar, dass...eine kürzere Aufbewahrungsdauer festgelegt wurde, sie ordnungsgemäß vernichtet wurden und dass nur der entsprechende Vermerk („Vernichtungsverhandlung“) nicht mehr auffindbar ist. Eine sichere Aussage darüber ist jedoch nicht möglich‘“ (https://www.achgut.com/artikel/die_verschlusssache_boris-pistorius).

Laut dem betreffenden Artikel seien diese Informationen am 24.07.2019 intern zur Beantwortung der kleinen Anfrage der FDP kommuniziert worden.

1. Welche nachgeordneten Behörden und Einrichtungen wurden im Zuge der Beantwortung der FDP-Anfrage wann konkret abgefragt? Bitte aufschlüsseln.

2. Wann sind der Landesregierung von nachgeordneten Behörden Ergebnismitteilungen zugegangen? Bitte nach Behörden und Zeitpunkt aufschlüsseln.

3. Wem aus der Landesregierung und nachgeordneten Behörden wurden diese Mittelungen/Berichte wann zur Kenntnis gegeben?

Teil 2 (Einleitung identisch, nur weitere Fragen):

1. Welchen Inhalt hatten die Mitteilungen/Berichte? Bitte aufschlüsseln.

2. Wann wurde durch wen entschieden, welche Mitteilungen/Berichte Teil der Antwort auf die Anfrage werden?

3. Bleibt die Landesregierung bei der Aussage, dass keine weiteren eingestuften Akten vermisst werden bzw. ihr Verbleib unklar ist?

***

Teil 3 (Einleitung identisch, nur weitere Fragen):

1. Welchen konkreten Inhalt hatte die Mitteilung der PD Hannover?

2. Wer aus der PD Hannover hatte wann Kenntnis über die betreffende Mitteilung?

3. Wann wurde diese Mitteilung an wen außerhalb der PD Hannover zur Kenntnis gegeben?

***

Teil 4 (Einleitung identisch, nur weitere Fragen):

1. Hatte der Präsident der PD Hannover Kenntnis von dem betreffenden Sachverhalt?

2. Gab es Kommunikation zwischen dem Präsidenten der PD Hannover und dem Innenministerium über diesen Sachverhalt?

3. Falls ja, wann, mit wem und welchen Inhalt hatte die Kommunikation?

Teil 5 (Einleitung identisch, nur weitere Fragen):

1. Wer war innerhalb der Staatskanzlei in die Beantwortung der FDP-Anfrage eingebunden?

2. Wann hat der Ministerpräsident davon Kenntnis erlangt, dass es über die in der Antwort zu der FDP-Anfrage genannten Sachverhalte weitere Fälle gab (verschwundene VS-Akten)?

3. Was hat die Staatskanzlei nach Bekanntwerden dieses Sachverhaltes unternommen?

Die Antwort des Innenministeriums auf die Anfrage von Achgut.com:

Die Pressesprecherin des Innenministeriums in Hannover antwortete Achgut.com im Wortlaut:

"Sehr geehrter Herr Maxeiner ,

bezüglich Ihrer Anfrage können wir Ihnen Folgendes mitteilen:

Die nachfolgenden Ausführungen beziehen sich auf die Beantwortung der Kleinen Anfrage zur kurzfristigen Beantwortung 18/4188 der Abgeordneten Dr. Birkner und Dr. Genthe vom 17.07.2019 und hier auf die Frage 3: „Gibt es derzeit eingestufte Akten im Geschäftsbereich des MI, deren Verbleib unklar ist oder die seit mehr als einem Monat im Aktenbestand fehlen?“

Zur Beantwortung der Anfrage wurde der Geschäftsbereich, einschließlich der nachgeordneten Behörden und Einrichtungen, hinsichtlich der Vollständigkeit des Bestands an eingestuften Akten abgefragt. Im Rahmen der kurzfristig vorzunehmenden Überprüfung hat bis dahin ausschließlich das Landeskriminalamt Niedersachsen (LKA NI) den unklaren Verbleib eines Dokuments gemeldet. 

Alle weiteren Behörden und Einrichtungen – einschließlich der Polizeidirektion Hannover - haben Fehlanzeige gemeldet. Die entsprechende Meldung der Polizeidirektion Hannover datiert vom 24.7.2019.

Am 31.07.2019 informierte Herr Polizeipräsident Kluwe sodann Herrn Landespolizeipräsidenten Brockmann telefonisch über Hinweise in seiner Behörde, dass ältere Akten offenkundig nicht hinreichend dokumentiert seien. Diese Akten entstammen dem Zeitraum vor 2003. Hinsichtlich dieser Akten gehe man jedoch nicht von einem unklaren Verbleib, sondern von einer nachlässigen Dokumentation in den Nachweisbüchern aus. 

Im Ergebnis ihres Telefonats waren sich Herr PP Kluwe und Herr LPP Brockmann einig, dass diese Feststellung von der Fragestellung der Kleinen Anfrage 18/4188 nicht umfasst und in der Beantwortung deshalb nicht zu berücksichtigen sei. Deshalb erfolgte auch kein weiterer schriftlicher Bericht der Polizeidirektion Hannover.

Über den oben dargestellten Sachverhalt wurde niemand außerhalb der Landespolizei informiert. Herrn Innenminister Pistorius und Herrn Staatssekretär Manke war der dargestellte Vorgang daher bis zum heutigen Tage auch nicht bekannt. 

Bereits am 31.7.2019 konnte problemlos die weit überwiegende Zahl der Aktenzeichen zugeordnet werden. Zwischenzeitlich haben die Nachforschungen ergeben, dass von den im Internetbeitrag in Rede stehenden und zu prüfenden Vorgängen lediglich bei 22 der Nachweis noch nicht im erforderlichen Umfang geführt werden konnte. Bei den übrigen hat sich die Anfangsvermutung bestätigt, dass eine mangelhafte Dokumentation in der Vorgangsregistratur zu diesen Verdachtsfällen geführt hat. Dabei gab es folgende wesentliche Erkenntnisse:

-           nachweislich vorhandene Vorgänge wurden im Zuge der Bearbeitung anderen Aktenzeichen zugeordnet, die Neuzuordnung war gleichermaßen nicht in den Nachweisbüchern dokumentiert

-           nachweislich zu Sammelvorgängen zusammengefügte Einzeldokumente waren gleichermaßen in den Nachweisbüchern nicht entsprechend gekennzeichnet

-           nachweislich vorhandene Vorgänge, die im Geheimhaltungsgrad im Laufe der Bearbeitung umgestuft wurden, waren teilweise in den Nachweisbüchern nicht entsprechend dokumentiert.

Bei den bisher behandelten Vorgängen ist kein Verlust zu verzeichnen. Bei den noch offenen Vorgängen läuft derzeit eine Einzelfallprüfung, sie stammen zu mehr als der Hälfte aus den Jahren 1989/90.

Zu den Inhalten dieser Akten kann naturgemäß auf Basis ihre VS-Einstufung keine Aussage getroffen werden."

Den ersten Teil dieses Beitrages finden Sie hier

Inzwischen berichten auch andere Medien. Die Hannoversche Allgemeine titelt Pistorius unter Druck: Noch mehr vertrauliche Polizeiakten verschwunden als bekannt Das Innenministerium hat am Donnerstagabend eingeräumt, dass der Verbleib von 22 Akten der Polizeidirektion Hannover aus den Neunzigerjahren bisher nicht ermittelt werden konnte. Jeder Einzelfall werde jetzt geprüft. Innenminister Boris Pistorius (SPD) wusste davon angeblich nichts.

Foto: Wolfgang Wilde /Niedersächsisches Ministerium für Inneres und Sport CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons

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Emmanuel Precht / 27.09.2019

Sehr gut! Haben sich die “Luftpistole der Demokratie”, oder andere “Qualitätsmedien der Einordnung”, schon geäußert? Möglicherweise gibt es dort eine interne Anweisung C. Relotius zum Schreiben zu bewegen, die Veröffentlichung liegt dann beim wort(ver)gewaltigenden C. Kleber. Schließlich gibt es beruhigenden Erklärungsbedarf, wider dem Wasser auf die Mühlen der Falschen. Die leitende Staatsphyikerin soll im Kanzleramt leise vor sich hinmurmelnd “das ist nicht hilfreich” bei der Überwachung des Stuhlkreisaufbaus beobachtet worden sein. Wohlan…

Nico Schmidt / 27.09.2019

Sehr geehrter Herr maxeiner, es ist offensichtlich alles in bester Ordnung und konnte problemlos zugeordent werden. Alles, was feht ist alt und gar nicht wichtig. Was aber in den alten Ladenhütern steht, ist geheim. Das verstehen Sie doch wohl. Wenn das Donald Trump passieren würde, wären unsere Qualitätsmedien schon Dauergast in Hannover. So passiert einfach gar nichts. Hier läuft etwas fürchterlich schief. MfG Nico Schmidt

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