Die EU-Kommission hat ein „Vertragsverletzungsverfahren“ gegen Deutschland eingeleitet. Aber es geht gar nicht um einen Verstoß gegen einen bestimmten Artikel des EU-Vertrages von Lissabon, sondern um einen allgemeinen Machtanspruch: Die EU-Kommission will feststellen lassen, dass der Europäische Gerichtshof (EuGH) die oberste Instanz in allen Rechtsfragen in Europa ist. Demnach wären die Verfassungen der EU-Mitgliedstaaten den EU-Verträgen unterstellt. Sie wären damit als Verfassungen praktisch außer Kraft gesetzt. Eigentlich sind aber die Mitgliedstaaten die konstituierenden Vertragsparteien der EU. Damit sind auch die Verfassungen dieser Mitgliedstaaten die tragenden Säulen des europäischen Rechts. Doch nun sollen die EU-Verträge auf einmal selbst eine Verfassung sein.
Damit würde die Souveränität der Mitgliedstaaten durch eine Souveränität der EU-Organe ersetzt. Diese würden fortan aus eigener Kompetenz die weitere Entwicklung bestimmen. Die Nationalstaaten würden zu bloßen regionalen Untereinheiten eines neuen Staatswesens namens „Europäische Union“ werden. Das wäre ein Verfassungsumsturz in Europa. Es wäre wirklich ein Umsturz, denn das Ganze würde nicht etwa als demokratischer Gründungsakt durch eine repräsentative, verfassungsgebende Versammlung vollzogen, sondern durch die Hintertür von Strafverfahren und Gerichtsurteilen gegen einzelne EU-Mitgliedstaaten. Es würde also versucht, durch einzelne Rechtsakte außerhalb des gültigen Rechtsrahmens vollendete Tatsachen zu schaffen. Mit dieser Macht des Faktischen soll hinter dem Rücken der Bürger eine Verfassungswende in Europa durchgesetzt werden.
EU-Organe handeln „ultra vires“
Man muss sich noch einmal den Sachverhalt vor Augen führen, um den der Rechtsstreit zwischen der Europäischen Union und der Bundesrepublik Deutschland geht. Es ist ein grundlegender Sachverhalt: Die europäischen Verträge schließen die Finanzierung von Mitgliedstaaten durch gemeinschaftliche Organe der EU ausdrücklich aus. Die Staatsanleihen-Ankaufsprogramme der Europäischen Zentralbank (EZB) stellen eine solche Staatsfinanzierung dar. Hätte man bei Abschluss des Vertrags von Lissabon (und zuvor von Maastricht) erklärt, dass damit solche Ankaufsprogramme in der EU legalisiert würden, wären diese Verträge nie unterschrieben worden.
Doch im Zuge der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) wurde in den vergangenen Jahren das, was ausdrücklich ausgeschlossen war, durch einen Akt der Vertragsinterpretation für Recht erklärt – es wurde also keine Veränderung des geschriebenen Rechts (der Verträge) versucht, sondern das geschriebene Recht nachträglich umgedeutet. Dagegen hat das deutsche Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in seinem Urteil vom 5.5.2020 auf der Position der Europäischen Verträge bestanden und festgestellt, dass die Anleihen-Kaufprogramme der EZB und deren Billigung durch den EuGH außerhalb des rechtlichen Rahmens, in dem sich die EU bewegt, erfolgt sind. Das BVerfG hat die Handlungen von EZB und EuGH in dieser Sache als sogenannte „Ultra-Vires-Akte“ bewertet – als Akte, die die Grenzen des bestehenden Rechts überschreiten. Das EuGH-Urteil wurde vom BVerfG als „schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar“ und „objektiv willkürlich“ eingestuft.
Eine Wende der Staatsfinanzierung in Europa
Das Anleihekaufprogramm PEPP und erst recht der „Wiederaufbaufonds“ in Höhe von 750 Milliarden Euro bedeuten eine grundlegende Verschiebung der Staatsfinanzierung in Richtung EU-Organe. Der Finanzteil der FAZ (1.6.2021) charakterisiert den Fonds als „neue Referenz am Anleihemarkt“, und der Haushaltskommissar der EU, Johannes Hahn, spricht von einem „großartigen Tag für Europa“. Unter der Überschrift „EU-Stabilitätspakt, auf Nimmerwiedersehen?“ berichtet die FAZ am 4.6.2021 von Bestrebungen, die – gegenwärtig suspendierten – europäischen Schuldenregeln gar nicht wieder in Kraft zu setzen. Doch im Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland spielt das überhaupt keine Rolle. Die Stellungnahmen von Seiten der EU-Kommission versuchen gar nicht zu belegen, durch welche Passagen der EU-Verträge diese Wende der Staatsfinanzierung in Europa gedeckt ist. Sie argumentieren ganz pauschal mit einer Alleinzuständigkeit der EU-Organe.
Der Sprecher der EU-Kommission, der am 9. Juni die Einleitung des Vertragsverletzungsverfahrens gegen Deutschland verkündete, nannte das EZB-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 20. Mai 2020 einen „gefährlichen Präzedenzfall“, der zu einem „Europa à la carte“ führen könne. Doch „Europa à la carte“ ist kein Rechtsbegriff, sondern ist politischer Suggestiv-Sprech. Mit „à la carte“ wird die Tatsache überspielt, dass es hier um den besonderen Bilanzraum eines Staates geht und den damit verbundenen demokratischen Verantwortungszusammenhang, den eine Verfassung herstellt. Diese besondere Verbindlichkeit ist ja der Grund, warum Verfassungsstaaten in der Regel räumlich kleiner sind als Geltungsräume von zwischenstaatlichen Vertragsbündnissen. Die geringere gemeinsame Haftbarkeit ist gewissermaßen der Preis für die größere räumliche Ausdehnung.
Irreführender Gebrauch des Worts „Europäisches Recht“
Es taucht heute vielfach das Wort „Europäisches Recht“ auf. Damit wird der Eindruck erweckt, es gäbe so etwas wie einen einheitlichen Gesamtkorpus von Recht, der identisch ist mit dem Regulationsrecht der EU-Organe und vom EuGH in Luxemburg letztinstanzlich ausgelegt würde. In Wirklichkeit ist das Regulationsrecht der EU-Organe nachgeordnetes Recht, weil es sich aus den EU-Verträgen ergibt, deren Träger die nationalen Verfassungsstaaten sind. Deren Verfassungsrecht nimmt einen Rang ein, von dem aus eventuelle Kompetenzüberschreitungen der EU-Organe festgestellt und geahndet werden können. Es gibt also keinen Automatismus, der dem EU-Recht einen pauschalen Vorrang gibt, bloß weil es für ein größeres geographisches Gebiet gilt. Auf diese platte Rechts-Raumlehre läuft aber die Drohung mit dem „Europa à la carte“ hinaus. Mit dieser Drohung soll jedwede „Ultra-Vires“-Prüfung durch das Verfassungsgericht eines EU-Mitgliedstaats fortan ausgeschlossen sein.
Der Alleinvertretungsanspruch der EU
Von Anfang an hatte die EU-Seite auf das BVerfG-Urteil vom 5.5.2020 mit einem pauschalen Alleinvertretungsanspruch reagiert. Die Kommissionspräsidentin von der Leyen erklärte damals apodiktisch: „Das letzte Wort über EU-Recht wird immer in Luxemburg gesprochen. Nirgendwo sonst.“ Mit „Luxemburg“ war der EuGH gemeint. Der EuGH meldete sich auch selbst zu Wort (ein ungewöhnlicher Fall von „Gerichtspolitik“ in eigener Sache): „Um die einheitliche Anwendung des Unionsrechts zu wahren, ist nur der zu diesem Zweck von den Mitgliedstaaten geschaffene EuGH befugt, festzustellen, dass eine Handlung eines Unionsorgans gegen Unionsrecht verstößt.“
Die geforderte Deckungsgleichheit von Unionsrecht und Unionsgerichtsbarkeit hört sich zunächst vernünftig an. Aber wer setzt eigentlich die Grenzen des Unionsrechts? Denn die europäische Ebene ja nicht einzige Normen-Ebene. Schon im Rahmen des Nationalstaats beanspruchen Bundesländer und Kommunen im Namen des Subsidiaritätsprinzips das Recht auf eigene Normensetzung und -entwicklung. Und in der Entwicklung der Vertragsgemeinschaft EU waren bisher immer die Mitgliedsländer die Träger der Normenentwicklung. Nur was sie auf EU-Organe ausdrücklich übertrugen, war dann deren Kompetenz. Deshalb kann ein Europäischer Gerichtshof manches Urteil fällen, aber das Letzturteil über das Recht in Europa können die Europarichter nicht beanspruchen. Die Mitgliedstaaten müssen sich vorbehalten, aus der Perspektive der Integrität ihrer Verfassung Übergriffe und Anmaßungen der EU-Organe zurückzuweisen. Genau in diesem Sinn hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom Mai 2020 Recht gesprochen, wie die FAZ am 10.6.2021 noch einmal in Erinnerung ruft: „Es war das erste Mal, dass Karlsruhe eine Rechtsfigur zur Anwendung brachte, die es über Jahre hinweg entwickelt hatte: die ‚Ultra-Vires‘-Kontrolle. Sie greift aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts, wenn eine europäische Institution, der EuGH eingeschlossen, die Ermächtigungen überschreitet, die ihr von den Mitgliedsstaaten übertragen wurde.“ Das BVerfG hat mit seinem Urteil nichts anderes getan, als das Prinzip der europäischen Rechtsetzung durch einzelne, explizite Rechtsübertragungen seitens der EU-Mitgliedstaaten hochzuhalten.
Eine Spaltung der Rechtsstaatlichkeit in Europa?
In einer Vertragsgemeinschaft hängt die Entwicklung von Recht und Gesetz in den Händen der vertragsschließenden Parteien, hier also in den Händen der Staaten. Würde nun im Bereich der Judikative so getan, als gäbe es rechtlich einen Einheitsstaat, käme es zu einer Spaltung der Rechtsstaatlichkeit in Europa: Es gäbe einen EU-Einheitsstaat der Judikative mit Sitz in Luxemburg und eine aushandelnde EU-Vertragsgemeinschaft des Rats der Regierungschefs und Minister. Damit würde die Tür geöffnet zu einer neuen Führungsrolle der rechtsprechenden Gewalt (der Judikative) in europäischen Dingen – auf Kosten der Rolle der Gesetzgebung in gewählten Parlamenten der repräsentativen Demokratie (der Legislative). Wird ein EU-Einheitsstaat eine Richterautokratie sein, deren Macht durch keine Gewaltenteilung mehr eingehegt wäre? In einem Kommentar, der gleichfalls am 10.6.2021 in der FAZ (im Wirtschaftsteil) unter der Überschrift „Die Machtfrage“ erschien, heißt es: „Will die Kommission auf juristischem Wege einen europäischen Bundesstaat aus dem Hut zaubern? Es ist töricht, diese hochpolitische und eben nicht juristische Diskussion überhaupt auf diesem Wege vom Zaun zu brechen.“
Der Verfassungsanspruch der EU wurde 2005 zurückgewiesen
Das Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland ist ein Angriff auf die Rechtsposition aller nationalen Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Es ist ja nicht so, dass es hier keine eindeutige Rechtslage gäbe. In der Verfassungsfrage bewegen wir uns nicht in einem Niemandsland, das rechtlich unbesetzt ist. Es gibt ja die europäischen Verträge, insbesondere den Vertrag von Lissabon. Dieser Vertrag ist geschlossen worden, nachdem ein Versuch, eine EU-Verfassung zu schaffen, ausdrücklich durch demokratische Voten zurückgewiesen wurde: Im Jahr 2005 ist die Vorlage einer EU-Verfassung in Referenden in Frankreich und in den Niederlanden mit eindeutiger Mehrheit abgelehnt worden. Es ging dabei nicht um nur um einzelne Artikel, sondern es wurde der Verfassungsrang also solcher für die EU abgelehnt.
In Deutschland wurde dies Votum allerdings verwischt: Der „Vertrag von Lissabon“ wurde hierzulande vielfach fälschlich als „Verfassungsvertrag“ bezeichnet. Damit wurde die Hintertür die „Verfassung“ wieder hineingemogelt, die die Franzosen und Niederländer ausdrücklich ausgeschlossen hatten. So hat sich eine Grauzone etabliert, in der die Eigenständigkeit der Mitgliedstaaten und der Vorrang der EU-Organe nebeneinander existierten. Nun hält die EU-Kommission offenbar die Zeit gekommen, um die staatsrechtliche Machtfrage in Europa erneut zu stellen.
Die Gefechtslage
Doch die Gefechtslage ist unübersichtlich. Auf der einen Seite ist das Urteil des BVerfG vom 5.5.2020 wirklich sehr konsequent. Es hat ausdrücklich festgestellt, dass deutsche Verfassungsorgane, Behörden und Gerichte weder am Zustandekommen noch an der Umsetzung, Vollziehung und Operationalisierung von Ultra-Vires-Akten mitwirken dürfen. Das gilt auch für die deutsche Bundesregierung, für den Bundestag und für deutsche Gerichte. Sie haben die Rechtspflicht, die Mitwirkung an EZB-Anleiheankäufen (und an Durchsetzungs-Urteilen des EuGH) abzulehnen. Das gilt auch für das jetzt eingeleitete Vertragsverletzungsverfahren. Nach den Maßstäben des Ultra-Vires-Urteils des BVerfG hat die Bundesregierung die Rechtspflicht, dies EU-Verfahren gegen Deutschland ausdrücklich zurückweisen und ihrerseits Klage gegen die EU-Kommission wegen Verletzung der EU-Verträge zu führen. Ein Kompromiss erscheint da eigentlich unmöglich.
Auf der anderen Seite hat man mehrfach erlebt, dass immer wieder „kreativ“ das Bestehen gegensätzlicher Rechtspositionen entschärft wurde. So wurde auch das Urteil zu den PEPP-Käufen entschärft: Mit ein paar Zusatzinformationen wurde dafür gesorgt, dass die EZB-Staatsfinanzierung auf einmal keine Staatsfinanzierung mehr war. Hier ist offenbar eine große Angst vor einer Konfrontation mit EU-Organen im Spiel. Man hat Angst, dass diese Konfrontation, obwohl sie ja eine Verteidigung der demokratisch-republikanischen Tradition in Deutschland wäre, zu Reibungen und Feindseligkeiten in Europa führen würde. So fügt man sich lieber einer im Grunde autoritär-bevormundenden europäischen „Einheit“, in der alle Fäden in sehr kleinen Gremien zusammenlaufen.
Wird das Grundgesetz stillgelegt?
Es kann also passieren, dass Deutschland tatsächlich sein Grundgesetz verliert, ohne es recht zu merken. Es ist die Verfassung, die über Jahrzehnte ein guter Rahmen war, der die Bundesrepublik vor Abenteuern und maßlosen Zielen bewahrt hat. Solche Ziele sollen nun unter dem täuschenden Titel „europäischer Wiederaufbau“ alles mitreißen. Das gilt auch für die Wirtschaft und das Finanzsystem, denn hier wird ja die deutsche Stabilitätskultur aufgegeben – zugunsten einer fiktiven Ökonomie durch künstliche Geldvermehrung und Schulden, deren Bezahlung niemand mehr real darstellen kann. So läuft „mehr Europa“ auf „mehr Fiktion“ in wirtschaftlichen und staatlichen Dingen hinaus. „Mehr Fiktion“ bedeutet mehr Willkür und Haltlosigkeit, und damit sind wir bei dem Krisenmodus, der diese Zeit regiert.
Die Menschen sind daran gewöhnt worden, dass sie auf nichts mehr vertrauen dürfen, was ihre bisherige Erfahrungswelt in Betrieben und Schulen, in Stadt und Land ausmachte. Wo bisher diese Erfahrungswelt der Bürger war, ist jetzt Klimakrise und Coronakrise. Es findet eine fundamentale Entwertung dieser Erfahrungswelt statt, und das gilt auch für den Bereich des Rechts: Die Festigkeit einer Verfassung erscheint überflüssig. Sie wird ersetzt durch die „Größe“ gerichtlicher Geltungsbereiche. So sieht man gerade im Krisenmodus der Gegenwart die Chance, um mit dem fiktiven Kunstgebilde „europäisches Recht“ jene Verfassungen zu verdrängen, mit denen sich Länder über Jahrzehnte und Jahrhunderte behaupten und entwickeln konnten. Und jetzt hält man die Stunde für gekommen, um die Machtfrage zu stellen.
„Wer wirklich verhindern will, dass Karlsruhe im Sinne des Grundgesetzes und der EU-Verträge über die Verfassungsidentität wacht, müsste das Verfassungsgericht oder Deutschland als souveränen Staat abschaffen.“
(Reinhard Müller im Leitartikel der FAZ am 10. Juni 2021)
Teil 1 des Essays finden Sie hier
Teil 2 des Essays finden Sie hier