Mario Draghi wird am 31. Januar das Bundesverdienstkreuz verliehen. Vorgeschlagen hat ihn dafür Heiko Maas, wie verschiedene Pressestimmen zu berichten wissen. Man kann sich nur schwer vorstellen, dass ein griechischer Minister ein Mitglied der Troika für eine hohe Auszeichnung seines Landes vorschlagen würde. Die Bildzeitung ist empört, dass „Graf Draghila“ – der die Sparer um die Zinsen brachte – die höchste Anerkennung der Bundesrepublik erhalten soll. Ich finde: Maas‘ Vorstoß ist in sich schlüssig. Und so löste die eigentlich uninteressante und nichtige Meldung, dass Mario Draghi das Bundesverdienstkreuz erhält, ein Nachdenken über das Leben und das Universum und die Sozialdemokratie in mir aus.
In einem früheren Beitrag beschäftigte ich mich mit dem Blick der Briten auf Deutschland. So eine Außenbetrachtung kann manches deutlich herausarbeiten, was einem als direkt Beteiligter nicht auffällt. In diesem Zusammenhang stieß ich auf einen Artikel des Historikers Norman Stone, der 1996 in der Sunday Times ein vernichtendes Urteil über die deutsche Europapolitik fällte. Auf dem Weg zur Währungsunion sei er wieder da, der alte deutsche Führerkult.
Ungeachtet fachlicher Einwände von Seiten deutscher Wirtschaftswissenschaftler sei die Politik der Bundesrepublik längst auf Linie gebracht, das Projekt Währungsreform werde fanatisch durchgezogen. Deutschland sei fest entschlossen, seinen Selbsthass, der ihm alles Nationale verwehre, in Form eines europäischen Deutschlands zu kompensieren. Dass Maas, der öffentlich verkündete, er sei wegen Auschwitz in die Politik gegangen, Draghi für das Bundesverdienstkreuz vorschlägt, ist also durchaus stringent.
Die linken Parteien in Deutschland und in Europa lassen sich in zwei Kategorien einteilen. Auf der einen Seite haben wir es mit dem Establishment zu tun. Den Champagner-Sozialisten der Sozialdemokratie, denen es immer schwerer fällt, ihre Stammwähler zu verstehen und zu vertreten. Man kann den Neoliberalismus nicht nur so ein bisschen kritisieren, dann macht man sich unglaubwürdig. Emmanuel Macron hat genau diesen Antagonismus für sich genutzt und die Parti Socialiste in der Bedeutungslosigkeit versenkt. Die Grünen haben den Widerspruch schon längst im internationalen Klimakampf aufgelöst und bleiben so von ihm unberührt. Sie können genüsslich regionalen Bio-Schaumwein trinken (aus der Champagne darf er wegen des CO2-Fußabdruckes nicht kommen) und ihren abgehalfterten Kollegen von der SPD beim Absaufen zusehen.
Nicht nur die SPD ist schuld
Ihrem Klientel müssen sie nicht mal das Wasser predigen, denn Papi zahlt ja den Wein. Die andere Seite wird gut durch den Schwenk der britischen Labour Party von Tony Blair zu Jeremy Corbyn versinnbildlicht. Im Europaparlament sind die Marxisten der südlichen Mitgliedstaaten die größten Kritiker der EU. Der internationale Klassenkampf wird durch die verteilungspolitischen Konsequenzen unterschiedlicher Produktivitätsniveaus in einer Währungsunion wieder sehr national. Die Interessen des spanischen oder portugiesischen Arbeiters zu vertreten, ist für einen linken Europaabgeordneten der iberischen Halbinsel ganz selbstverständlich. Die deutsche Linke veranstaltete als Reaktion auf dahingehend interpretierbare Äußerungen Sahra Wagenknechts einen Schauprozess auf dem Parteitag im Juni 2018.
Der sozialdemokratische Teil der ersten Gruppe wird europaweit abgestraft. Wer politisch noch einen Blumentopf gewinnen will, muss extremer sein. Grün oder sozialistisch-national – freiheitsfeindlich ist beides. Das Sozialistisch-Nationale kann in Deutschland nicht so unbeschwert begrüßt werden wie in Frankreich oder Italien, auch wenn einige Stimmen in der AfD dies aufgreifen. Die SPD hat sich somit für den Weg der Grünen entschieden und dabei vergessen, dass es die Grünen schon gibt.
Dass die SPD den Schuss nicht gehört hat, zeigte sie, freimütig wie ein Labrador, zur letzten Bundestagswahl mit der Aufstellung von Martin Schulz als den größten Spitzenkandidaten aller Zeiten. Einen Politiker ins Rennen zu schicken, der untrennbar mit der EU-Blase verknüpft ist – ein lauteres „Qu'ils mangent de la brioche!“ kann man seinen Stammwählern nicht entgegenschmettern. Der Vorschlag von Heiko Maas, Mario Draghi das Bundesverdienstkreuz zu verleihen, reiht sich nahtlos ein. Aber es ist nicht nur ein Problem der SPD. Die ist nur – Überraschung – so tölpelhaft, das Implizite symbolisch zu verdeutlichen. Die Gegenstimme aus FDP und Union, die sich nun ostentativ an der Causa Draghi stören, sind ein politischer Reflex. Es ist ja nicht so, dass CDU, CSU und FDP erst seit 2020 in politischer Verantwortung sind. Mit ihrer Entscheidung für den Euro-Rettungsschirm hat die FDP dem Italiener die Auszeichnung bereits zum Amtsantritt 2011 ans Revers geheftet. CDU/CSU haben die EZB zu der politischen Institution werden lassen, die sie heute ist.
Seht her, was wir alles für Europa machen!
„Scheitert der Euro, dann scheitert Europa.“ So einen Satz kann nur ein deutscher Kanzler sagen. Diese Verabsolutierung macht ein Abwägen von Pro und Contra, ein Gegenüberstellen verschiedener Lösungsmöglichkeiten unmöglich. Deutschland will in Europa aufgehen – aber zu seinen Vorstellungen. Dem Symbol der Niedrigzinspolitik das Bundesverdienstkreuz zu verleihen, zeigt die Leidensbereitschaft dieser Politiker, die sich schon lange um größere Dinge zu kümmern haben als um den Stammwähler zu Hause. Seht her, was wir alles für Europa machen! Dass die Einteilung der Mitgliedsländer in Schuldner und Gläubiger – die zentrale und verheerende Konsequenz der Euro-Rettungspolitik – ein enormes Konfliktpotenzial birgt, welches sich in der Hochphase der Griechenlandkrise auf anti-deutschen Plakaten bei Demonstrationen der Helenen bereits Bahn brach; und dass Deutschland wohl seit 1939 gefühlt nicht mehr so kurz vor einem Überfall auf Polen stand wie zu Zeiten der Flüchtlingskrise und Justizreform 2015 – geschenkt.
Aber wahrscheinlich gehe ich viel zu verkopft an die ganze Geschichte heran. Wahrscheinlich haben sich weder Maas noch Steinmeier tiefere Gedanken dazu gemacht, wieso Draghi die Auszeichnung erhalten soll. In Zeiten einer bräsigen Politik der opportunistischen Hohlphrasen, in denen ich Gerhard Schröder vermisse, weil er von Anti-Diskriminierungsgetöse und Gleichstellungsbeauftragten nicht zu beeindrucken ist und sich immer noch gerne scheiden lässt, sollte ich mich doch lieber dem Schöngeistigen widmen. Seit 10 Jahren versuche ich den Zauberberg fertig zu lesen. Es wäre Zeit, ihn mal wieder in die Hand zu nehmen.