Dirk Maxeiner / 19.03.2019 / 12:00 / Foto: Pixabay / 30 / Seite ausdrucken

Verdammt, die Briten halten sich an Regeln!

Es wird landauf, landab über eine alte Parlamentsregel berichtet, die der britische Parlamentspräsident „Ziggy“ John Bercow entdeckt hat – und die offenbar einen dritte Abstimmung über Theresa Mays Brexit-Vereinbarung ausschließt. Es könne nicht mehrmals über dieselbe Vorlage abgestimmt werden, heißt es darin.  

Wohl um die Absurdität des parlamentarischen Einwandes zu demonstrieren, darf in praktisch keinem deutschen Presseerzeugnis der Hinweis fehlen, diese Regel stamme aus dem 17. Jahrhundert. Nun muss eine Regel nicht falsch sein, weil sie schon älter ist. Im Gegenteil. Ich erinnere an das deutsche Reinheitsgebot für Bier, das aus dem Jahre 1516 stammt und nach wie vor hochgehalten wird. Eins und eins waren damals übrigens auch schon zwei, ohne dass dies heute für skurril gehalten würde. Außer vielleicht in der Oberstufe eines Bremer Gymnasiums.

Aber zunächst mal: Der erweckte Eindruck, die Engländer seien von vorgestern, stimmt auch schon rein faktisch nicht. Der Blog ScienceFiles – selbst in Großbritannien angesiedelt, korrigiert die gegenwärtige Medien-Erzählung: 

„Die Regelung aus “dem frühen 17. Jahrhundert” stammt aus dem Jahre 1844 (also dem frühen 19. Jahrhundert). Sie ist allgemein unter dem Stichwort “Erskine Maybekannt.“Der Verfasser, Erskine May lebte von 1815 bis 1886. In seinem Standardwerk sind die Rechte und Pflichten von Abgeordneten sowie die Verfahrensweisen und Möglichkeiten der parlamentarischen Arbeit zusammengestellt. Der Titel lautet: “A treatise on the law, privileges, proceedings and usage of Parliament”.  

Die besagte Regel findet sich auf Seite 397 der 24. Ausgabe. Ihre historischen Wurzeln lassen sich wohl bis ins Jahr 1604 zurückverfolgen, sie sind aber Bestandteil des geltenden „official parliamentary rulebook“. Und das stammt eben aus dem 19. Jahrhundert und ist nicht skurril, sondern aktuell.

ScienceFiles: „Thomas Erskine May, den man heute wohl als Verfassungsrechtler bezeichnen würde, hat diese Regeln 1844 zum ersten Mal aufgestellt. Damals umfasste das Regelwerk 469 Seiten. Seither wurde es fortgeschrieben. Heute sind es über 1000 Seiten, durch die man sich digital ‚page‘” kann, und zwar hier“. Die besagte Regel findet sich auf Seite 397 der 24. Ausgabe. 

Warum der herablassende Ton gegenüber einem Parlament?

Warum also wird landauf, landab über eine alte Parlamentsregel berichtet, die der britische Parlamentspräsident „Ziggy“ John Bercow entdeckt hat – und die offenbar einen dritte Abstimmung über Theresa Mays Brexit-Vereinbarung ausschließt? Warum der herablassende Ton gegenüber einem Parlament, dessen Präsident schlicht darauf achtet, dass die geltenden Regeln eingehalten werden? Speaker John Bercow gilt übrigens als gar nicht so heimlicher Gegner des Brexit. Und dennoch pocht er mit der Autorität seines Amtes auf eine parlamentarische Regel, die seiner politischen Meinung zum Brexit möglicherweise nicht dienlich ist. So geht Parlament, so geht Demokratie. Die deutsche Häme in dieser Sache zeigt lediglich den Unterschied zwischen einer reifen und einer unreifen Demokratie. Und sie bestätigt alle jene Briten, die keine Lust haben, sich von deutschen Demokratie-Simulanten via EU herumkommandieren zu lassen.

„Ziggy“ John Bercow hält dem Großteil des deutschen Parlaments einen Spiegel vor, in dem es gar nicht gut aussieht. Und um sich damit nicht ernsthaft auseinandersetzen zu müssen, macht man arrogante Witze. „Alternativlosigkeit“ geht hierzulande längst vor dem Einhalten fest vereinbarter Regeln und Gesetze. Der Regelbruch ist Deutschland und der EU längst zur Gewohnheit geworden. Dafür nur drei Beispiele: Spätestens seit 2015 sämtliche Einreiseregeln gebrochen wurden, steht das deutsche Grundgesetz nur noch auf dem Papier. Die Dublin-Vereinbarungen der EU wurden genauso gebrochen wie die Bailout-Regeln während der sogenannten Euro-Rettung. Nach dem Motto „Not kennt kein Gebot“ werden Regeln nach Gutdünken außer Kraft gesetzt.

Die Hoffnung, dass das Bundesverfassungsgericht oder der Europäische Gerichtshof ein solches Treiben beendet, ist wohl vergeblich. Die Erwartung gar, dass ein Bundespräsident oder der Präsident des Bundestages auf die Einhaltung der Regeln pocht, hat sich ebenfalls als illusorisch erwiesen. Die Gewaltenteilung funktioniert in diesem Land nicht mehr, und das parlamentarische Schiff fährt längst mit bedrohlicher Schieflage. Besten Dank an die Briten und ihr Parlament, dass sie uns noch einmal vorgeführt haben, dass dies auch anders geht.

Foto: Pixabay

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Leserpost

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Johann-Thomas Trattner / 19.03.2019

Angenehm, erfrischend und spannend sind die Debatten im Unterhaus derzeit anzuhören und anzusehen. Vor einer Abstimmung nicht zu wissen wie sie ausgeht, so geht Parlament. Und jetzt können wir live verfolgen, was den Unterschied zwischen einem Parlament und einer Regierung ausmacht. Man könnte auch sagen, den Unterschied zwischen Hund und seinem Schwanz. Und die deutsche Journaille ist natürlich fassungslos. Herrlich! Die Briten zeigen mal wie parlamentarische Demokratie geht. Chapeau!

Karla Kuhn / 19.03.2019

” Im Deutschland des regierungsamtlichen Regel-Dauerbruchs kommt das gar nicht gut an. ” Ein WUNDERBARER Satz !! Was soll es die Briten scheren, ob etwas in Deutschland gut oder nicht gut ankommt.  In Deutschland wird SCHULESCWÄNZEN von HÖCHSTER Stelle begrüßt, vom BP und die Kanzlerin hat ihren Segen ebenfalls dazugegeben. Die Regierung hat überhaupt keinen Anlass den ersten Stein zu werfen, sie sollte erst mal im eigene Lager Ordnung schaffen. Schade , daß man den HOFFNUNG machenden Artikel “Populistisches Bündnis präsentiert Europa-Wahl Programm” (müßte es nicht heißen “Realistisches Bündnis?” nicht kommentieren kann. Wie heißt es so schön ? Was lange währt, wird GUT. Die Briten können von dem Austritt nur profitieren.

Th.F. Brommelcamp / 19.03.2019

Hitler und die Seinen lachten ebenso herzhaft wie Stalin über die demokratischen Methoden der Engländer und der USA. In guter Tradition stehen da auch unsere Sozialisten.  Nincompoops in ihrer Eitelkeit.

Petra Wilhelmi / 19.03.2019

Parlament? In Deutschland? Ich sehe nur ein paar Leutchen, die sich über sachliche Reden köstlich amüsieren, laut reinquatschen, mit ihren Smartphones spielen, sich untereinander unterhalten, sich über Wahrheiten aufplustern, rot anlaufen, als ob man sie körperlich angegriffen hätte. Parlament in Deutschland? Ich habe eine andere Vorstellung von Bundestagsabgeordneten und von einem Parlament. Die Mehrzahl der Abgeordneten erscheinen mir wie unreife Jüngelchen und Mädelchen, die ohne Hirn dort sitzen und diejenigen als Dumme bezeichnen, die etwas sagen, was denen nicht passt. Eben wie eine Sandkastenverschwörung, wo viele die Sandburg von jemanden einreißen, der sie auf wissenschaftlicher Basis aufgebaut hat. Demokratie geht anders.

Fabian Milunovic / 19.03.2019

Der Vorteil des Westminster-Parlamentarismus scheint es in diesen Zeiten zu sein, dass sich Spannungen im politischen System besser entladen können und einfache Regierungsmehrheiten nicht sorgenfreies Durchregieren ermöglichen. In unserer Konsensusdemokratie ist das Parlament momentan eine Bühne auf der Regierungsbeschlüsse durchgewunken werden. Kein Wunder das der Bundestag zum Synonym für den Reichstag geworden ist. Das Parlament ist nurmehr ein Gebäude, keine bedeutende Institution. Folglich kann das Kabinett auch gefahrlos auf dem Handy daddeln, denn hier wurde schon alles an der Wahlurne in Beton gegossen. Trotz der Ungewissenheiten ist der Zank der letzten Monate nichts weiter als der Puls einer lebendigen Demokratie.

Joachim Neander / 19.03.2019

Was die Deutschen nicht verstehen können: im britischen Parlament gibt es keinen Fraktionszwang. Parlamentarier sind stets direkt gewählt, also nicht nur ihrer Parteiführung, sondern - in erster Linie sogar - ihren Wählern verpflichtet (wenn sie wiedergewählt werden möchten).

Karsten Dörre / 19.03.2019

Wer erinnert sich noch kurz nach dem Referendum, als die Brexit-Gegner auf die Straße gingen und einige Medien feststellten, dass junge Briten nicht abstimmten und viel zu viele ältere Briten für den Brexit stimmten. Fazit der Medien: zweites Referendum, um auch jungen Briten die Chance auf Entscheidung zu geben. War schon die Cameronsche Idee des ersten Referendum eine politische Scharlatanerie, führt das Ergebnis eines zweiten Referendum zur Auflösung Großbritanniens entweder in England (mit Wales), Schottland und einer UN-Schutzzone Nordirland oder mindestens zu früheren, nordirischen Verhältnissen in ganz Großbritannien. Letztlich haben die Briten sich selbst in diese Situation gebracht. Man hätte vor dem Brexit-Referendum die finanziellen Gegebenheiten für ein Brexit-Votum ausrechnen und öffentlich kommunizeiren können. Oder glaubte man an einen freundlichen Abschied von der EU mit vielen Rabattaktionen für ein zukünftiges Nicht-EU-Land?

gabriele bondzio / 19.03.2019

Eins und eins waren damals übrigens auch schon zwei, ohne dass dies heute für skurril gehalten würde. Außer vielleicht in der Oberstufe eines Bremer Gymnasiums.”...gut gewählter Seitenhieb! Ja so ist es , wenn eine Regel alt ist muss sie nicht falsch sein. Nur wenn das Ergebnis nicht in die Denkstruktur der jetzigen Politik passt.

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