Verbuschung und Heimkehr. Erfahrungen eines Entwicklungshelfers

Von Ullrich Drechsel.

„Verbuschung“ ist ein Begriff aus der Entwicklungshilfe. Er bezeichnet den Zustand eines Entwicklungshelfers (EH), der sich zu lange in einem unterentwickelten Einsatzland aufgehalten hat. Dadurch hat er sich in seinen normalen Lebensempfindungen und -gewohnheiten verändert, wobei das nicht heißen muss, dass der EH dies als Nachteil empfindet.

Verbuschung im wörtlichen Sinn kann drohen, wenn der Lebensmittelpunkt für einige Jahre im zentralafrikanischen Busch liegt. Aber auch im Armenviertel einer südamerikanischen Großstadt kann man verbuschen, ebenso in einer albanischen Provinz oder sonstwo in den Schluchten des Balkan. Im Einsatzland selbst ist es schwierig, Verbuschungssymptome zu diagnostizieren. Da logischerweise alle Einheimischen sowieso verbuscht sind, gemeinhin wird das als deren „Kultur“ bezeichnet, kann hier die Verbuschung des EH sogar als Vorteil gelten.

Problematisch wird es erst, wenn der EH nach Deutschland zurückkehrt. Hier nun werden eine Vielzahl von Verbuschungsindikatoren sichtbar. Als eher harmlos gilt, wenn der EH orientierungslos in einem Supermarkt umherirrt, weil ihm die Fähigkeit abhanden gekommen ist, sich für eine von 44 Sorten Joghurt zu entscheiden. 25 Sorten Müsli, eine ...zig Meter lange Käse-, Fisch-, Brot- und Fleischtheke mit überbordendem Angebot überfordern ihn, aber bedrohen ihn nicht existenziell. Eigentlich weiß er nur, dass er all das in den letzten zwölf Jahren nicht gebraucht und sich trotzdem – vielleicht sogar deshalb –  gesund ernährt hat.

Der Umgang mit überflüssigen Nahrungsmitteln ist nicht das einzige Problem für einen verbuschten Menschen. Die nächste Irritation resultiert aus den Themen, die in seiner früheren Heimat aktuell diskutiert werden.

Straßenhunde in Portugal, Frösche in Griechenland

Der EH fühlt sich ausgegrenzt. Was soll er auch dazu sagen, dass Millionen von Wählern an die EU-Wahlurnen strömten, um nachher feststellen zu müssen, dass ihre gewählten Kandidaten bei der Besetzung der für sie vorgesehenen Ämter überhaupt nicht berücksichtigt werden? Also geht’s in der EU wohl genauso so zu wie in einer afrikanischen Autokratie? Der EH ist verwirrt.

Ja, und wer ist Greta? Im Einsatzland ist sie eine völlig unbekannte Person, in der fremd gewordenen Heimat eine neue Heilige, die hysterische Kinder zu freitäglichem Schulschwänzen bewegt. Es ist auch egal, ob man aus dem unveränderten, mediterranen Kontinentalklima Zentralalbaniens nach Deutschland zurückkehrt, oder aus den „self-extending Teak forests“ des Südsudan, wo keinerlei Klimaveränderungen festgestellt werden können: Der gute Deutsche ist dafür zuständig, nicht einfach nur die Welt, sondern das Weltklima zu retten! Am liebsten würde er alle Vulkane verbieten und Kachelöfen sowieso. Jawoll, das Verbieten gehört zu den neuen, leidenschaftlich ausgelebten Hobbys im neuen Deutschland. Der EH beginnt, nur noch mit äußerster Vorsicht zu atmen. Wer weiß, wann das verboten oder zumindest besteuert wird?

Neben der Welt und dem Klima ist man in der ehemaligen alten Heimat ständig damit beschäftigt, irgend jemand und irgend etwas zu retten. Straßenhunde in Portugal, Frösche in Griechenland, Bienen und Eisbären, und natürlich das Klima und noch einmal das Klima. Und am Ende rettet er noch einen ganzen Kontinent mit einem „Marshallplan für Afrika“. Klingt schon etwas großkotzig, oder? Der EH stößt auf völliges Unverständnis, wenn er zu erklären versucht, dass Afrika gar kein Land ist, dass dort weder afrikanisch gesprochen noch gesungen wird, dass dort nicht alle Leute schwarz sind und manche „Afrikaner“ sogar in festen Häusern wohnen.

„Hello Kwacha“, was nichts anderes heißt als „Hallo Weißer“ 

Was den Gebrauch der deutschen Sprache betrifft, so muss der verbuschte EH neuerdings vorsichtig sein. Möglicherweise kommt er aus einem Land zurück, wo man einem weißhäutigen Menschen „Hello Kwacha“ (sprich: Kawatscha) nachruft, was nichts anderes heißt als „Hallo Weißer“! Darf der EH nun zurückrufen: „Hello Blacky“ oder so ähnlich? Wenn er's tut, freuen sich alle. Aber in Deutschland gälte er als Rassist.

In Albanien erlebt der EH, dass der Begriff „Nigger“ eher saloppfreundschaftlich als diskriminierend gemeint ist. Aber wenn ein deutscher Gastwirt noch das „Zigeunerschnitzel“ anbietet, wird er möglicherweise demnächst zu Zwangsarbeit verurteilt, bei gemilderten Umständen in einem Tierheim für Juchtenkäfer. „Zigeuner“ ist dagegen in Albanien immer noch eine ehrenhafte Bezeichnung, da nennt man ihn „Cigan“. Die Begriffe „Roma“ und „Sinti“ darf man ebenfalls ohne Furcht vor Strafverfolgung verwenden, weil sie bei den Skipetaren nicht als diskriminierend gelten.

In dem Land, das früher mal die Heimat des verbuschten EH war, wurden sowohl der Buchdruck mit beweglichen Lettern als auch der Dieselmotor erfunden. Inzwischen erfreut man sich hier an der Erfindung der Unisex-Toilette. Vermutlich können sich inzwischen die meisten Menschen in Deutschland nicht mehr einem spezifischen Geschlecht zuordnen. Die Unisex-Toilette ermöglicht ihnen den Klogang ohne Gewissensbisse – denn es es gibt nur noch EINE Tür ohne genderspezifische Piktogramme.

Die Überlegung, an welches Becken man gehört, wird den orientierungslosen KundInnen nun abgenommen. (Man beachte das große Binnen-„I“, an das sich der EH ebenfalls nur schwer gewöhnen wird.)

Der verstörte EH flüchtet sich schlussendlich in eine psychiatrische Notfallambulanz. Im Wartezimmer liegt neben BILD das Neues Deutschland und ein Flyer, der für die Luftrettung der schon erwähnten portugiesischen Straßenhunde wirbt. Was er vergeblich sucht im bunten Gemisch der unterschiedlichsten Werbeprospekte, ist der Hinweis auf ein Institut zur Betreuung verbuschter Entwicklungshelfer. Da könnten doch die Minister Spahn und Müller endlich mal ein paar wegweisende Gesetze entwerfen lassen, wo doch sonst alle denkbaren Minderheiten unter die besondere Fürsorge des Staates gestellt werden. Sie sollten dabei nicht vergessen, dass selbstverständlich die gesetzlichen Krankenkassen die Therapiemaßnahmen zu bezahlen haben. Na gut, notfalls kann auch die Bundeskasse einspringen. Schließlich verbuschte ja der EH im Dienst für's Vaterland.

 

Ullrich Drechsel, geboren 1950 in Sachsen ist gelernter Mechaniker, arbeitete bis in die Mitte der 1990er Jahre als Diakon für die Evangelisch-Lutherische Landeskirche Sachsens und war danach als Koordinator medizinischer Projekte für Albanien und Kosovo tätig. Als Entwicklungshelfer wurde er von 2008 bis 2013 in den Südsudan und seit 2014 nach Albanien entsandt (bis Ende 2019).

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Stephan Gullo / 12.07.2019

Wer selbst eine lange Zeit im Ausland war, dann wieder zurückkommt, realisiert schnell: mutig ist nicht hier alle Zelte abzureißen und für Entwicklungshilfe in ein fremdes Land (finanziell ist man meist über die Organisation abgesichert), sondern mutig ist sich hier in Deutschland täglich dem Kampf aussetzen. Immer wieder seine Ansichten zu hinterfragen, eine Meinung zu allem möglichen haben zu müssen, mit dem Vorgesetzten über seine Leistung und Gehalt verhandeln, zu kuschen, eine Rolle einzunehmen die man gar nicht sein will....mir Freude denke ich oft an die Zeit, als ich “sorglos“ im Ausland sein konnte.

Ekkehard Boese / 12.07.2019

Genau so und noch krasser ist es! Ich war selber ca. 30 Jahre "im Busch" (Afrika, Südamerika, Südostasien), bin zurückgekehrt und irre nun mit schreckgeweiteten Augen durch das Land der Bekloppten. Was mich tröstet: Fast überall außerhalb Deutschlands sind die Menschen normal und kümmern sich einen Dreck um das Narrenhaus Deutschland, außer um dessen Geldgießkanne natürlich.

WalterWeimar / 12.07.2019

Ein interessanter Einblick für einen Daheimgebliebenen von einem Zurückkehrenden. Stellt doch der Abstand vom heimischen Geschehen die Sache noch trastischer dar. Für ein gros der Bevölkerung ist der Zenit bereits überschritten, solche Texte noch zu verstehen. Auf Dauer hilft dann weder künstliche Intelligenz noch Applikationen oder einfach geschriebenes Deutsch. Unser Land geht vor die Hunde.

Hjalmar Kreutzer / 12.07.2019

Sehr geehrter Herr Drechsel, haben Sie Dank für Ihren „Blick von draußen“. Ja, in den meisten Ländern, durch die es Sie getrieben hat, in der Mehrzahl der Länder dieser Welt, steht wohl der wortwörtlich zu nehmende Kampf um „unser täglich Brot“ immer noch an vorderster Stelle, und im Vergleich dazu geht es uns scheinbar hier zu gut. Andernfalls würde die Öffentlichkeit sich nicht absolut ernsthaft mit den von Ihnen aufgezählten Hirnfürzen beschäftigen. Neulich hat eine „Youtuberin und Influencerin“ ihr benutztes Badewasser in Flaschen abgefüllt und zum Kauf angeboten - und ist es in wenigen Tagen losgeworden! Aber seien Sie versichert, in meiner Umgebung von einfach ihrer Arbeit und ihrem Privatleben nachgehenden Leuten und z.T. Erwerbsunfähigkeits- und Altersrentnern und Transferleistungsempfängern im tiefsten Brandenburg teilt man die „Sorgen“ der veröffentlichten Meinung keinesfalls, sondern steht ebenso konsterniert davor, wie Sie. Ja auch hier gibt es freitäglich für das Klima hüpfende Fruchtzwerge und diese lobende Bürgermeister, Lehrer und Lokalredakteure, aber m.E. stellen diese einfach eine laute Minderheit dar. Daher frage ich mich, ob Ihr Bild des verbuschten Entwicklungshelfers so noch stimmt, oder Sie sich einfach angesichts einer wohlstandsverwahrlosten Gesellschaft den gesunden Menschenverstand bewahrt haben? Freundliche Grüße.

Richard Rosenhain / 12.07.2019

Der verbuschte EH vom Balkan oder aus Afrika hat den Vorteil, dass er die meisten Leute in den Innenstädten und den öffentlichen Verkehrsmitteln schon kennt.Ansonsten ist er der Zeit einfach ein paar Jahre voraus. Nur Geduld, „wir schaffen das“.

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