Am 24. April 1915 beginnt die genozidale Deportation der Armenier aus Konstantinopel. Preussische Offiziere sind nicht nur informiert, sondern helfen auch logistisch. Doch US-Botschafter Henry Morgenthau (1856-1946), aus Mannheim gebürtig und jüdischer Herkunft, lässt durch seine Konsuln die Mordvorbereitungen akribisch registrieren. Was die Deutschen zu verheimlichen trachten, bringt der Amerikaner vor die Weltöffentlichkeit. Bereits am 24. Mai 1915 warnen Frankreich, Großbritannien, Rußland und die Vereinigten Staaten die ottomanische Regierung vor Konsequenzen für die “new crimes of Turkey against humanity and civilization“.
Im Deutschen wird der Terminus “crimes against humanity” auch jetzt wieder (typisch Spiegel online, 01-03-2013) als “Verbrechen gegen die Menschlichkeit” unzutreffend übersetzt. Es muss heißen “Verbrechen gegen die Menschheit”. Der englische Terminus “humanity” kann zwar beides bedeuten, aber der Kontext macht klar, worum es geht. Dennoch wird mit dem Terminus “crimes against mankind“ für die Genozide Hitlerdeutschlands (“Declaration of St. James“ vom 12. Oktober 1942) auch deutschen Ohren unmißverständlich verdeutlich, dass hier – wie zuvor durch türkische Regierungen – Verbrechen gegen die Menschheit begangen werden und zu bestrafen sind.
Obwohl die Türkei – neben China, Deutschland und Russland – zum großen Genozidquartett des 19./20. Jahrhunderts gehört, schafft sie im Januar 1919 in den Istanbuler Prozessen das erste Gericht für die Aburteilung von Verbrechen gegen den armenischen Teil der Menschheit. Am 10. April 1919 wird Mehmet Kemal Bey, Prokurator der Provinz Bogazliyan, als erster Völkermörder für seine Verbrechen auch hingerichtet.
Doch bald werden die Prozesse eingestellt, Täter entlassen und auch zum Schutz nach Deutschland gebracht. Bis heute tut sich die Türkei umgemein schwer, an ihre juristische Pionierleistung von 1919 wieder anzuknüpfen. Stattdessen wird Angriff zur Waffe gegen alle, die an ihre Völkermorde erinnern. Israelis mit der Religion Henry Morgenthaus, auf den Armenier sich berufen, liefern dafür ein ideales Ziel. Kein Teil der Menscheit wird häufiger mit Vernichtung bedroht als die sechs Millionen Juden in Nahost. Nicht immer, aber doch ganz überwiegend kommen solche Bedrohungen aus dem islamischen Teil der Menschheit. Nun scheint es raffiniert, Warnungen vor diesen offen angekündigten Verbrechen gegen die Menscheit als Ilsamophobie zu beklagen, die ihrerseits ein Verbrechen gegen die Menschheit sei. Dass die auszurottenden Juden durch ihr schlichtes Israelischsein ebenfalls ein “Verbrechen gegen die Menscheit” verkörpern sollen, ist dabei an sich nicht mehr neu. Bei fast allen Verfolgungen von Juden werden diese vorab als die schlimmsten Täter überhaupt hingestellt, um sie dann guten Gewissens ausplündern und morden zu können.
Aufschlussreich allerdings wirkt in Deutschland eine Berichterstattung, die israelische und amerikanische Sorgen über Erdogangs Genozidpropaganda meldet, sich selbst aber neutral und unbetroffen zeigt. Man kann genüßlich Zitate über Zionismus als Verbrechen ausbreiten und zugleich ihren Autor als Ministerpräsidenten ehren. Dann kann nicht mehr erstaunen, dass Erdogan als letzter Träger (2010) des Internationalen Gaddafi-Preises für Menschenrechte überall in Europa hofiert wird und sogar auf UNO-Tagungen zum religiösen Dialog sprechen kann. Beruhigend wirkt immerhin, dass Jerusalem den türkisch-kurdischen Konflikt mit doppelt so vielen Todesopfern in 30 Jahren wie zwischen Israel und Palästinensern in 65 Jahren nicht zum Anlass nimmt, es Ankara in gleicher Münze heimzuzahlen. Auch dort könnten ja einmal nachdenklichere Kräfte ins Amt gelangen.