Am vergangenen Sonntag besuchte ich gemeinsam mit meinem Freund die Berliner Erotikmesse „Venus“, die weltweit größte internationale Fachmesse für Internet-, Multimedia- und Adult-Entertainment, wie es bei Wikipedia heißt. Berlinern dürfte die Veranstaltung dadurch bekannt sein, dass sie auf Plakaten jedes Jahr mit Testimonials aus dem Erotikbereich beworben wird, seit Jahren ist Micaela Schäfer eines der „Venus“-Gesichter.
Mein Freund hat beruflich mit erotischer Fotografie und Literatur zu tun, ist sozusagen „vom Fach“ und wollte auf der diesjährigen Messe neue Kontakte zu Fotografen knüpfen. Ich selbst war vorher noch nie auf der „Venus“ und am vergangenen Sonntag mit seinen frühlingshaften Temperaturen eigentlich nicht in Stimmung für stickige Messeluft, auch nicht für erotische. „Ulrike, ich möchte dort höchstens zwei Stunden zubringen und danach wieder verschwinden. Komm doch mit, danach können wir noch spazieren gehen.“ Nach einigem Hin und Her siegte meine Neugier und gemeinsam stapften wir zum Messegelände.
Meine Bedenken, ob es ratsam sei, in professioneller Abarbeitungs-Stimmung auf eine derartige Veranstaltung zu gehen, lösten sich bereits auf, als ich die Toiletten am Eingang aufsuchte. Zwei dralle Damen um die 40, schwarzhaarig in schwarzen Dessous, stark geschminkt und offensichtlich als Hostessen im Einsatz, tauschten sich an den Waschbecken müde über die Abende der letzten Messetage aus und kamen zu dem Schluss, dass man mit Fetisch-Partys doch am wenigsten falsch machen kann, wenn man schon unbedingt feiern gehen muss.
Nichts als Kommerz
„Ein interessantes Motto“, dachte ich mir noch, während ich mit meinem Liebsten den Ausstellungsbereich betrat. Kurz darauf wurde mir klar, dass dies die Losung des Tages zu sein schien. Es war Sonntagnachmittag, der letzte Messetag, es war nicht sehr voll und nicht sehr leer. Die Hallen vor uns waren gefüllt mit verschiedenen Ausstellern: Sextoy-Herstellern, Sexcam-Anbietern (natürlich mit Camgirls in offenherziger Position, sodass man die hochauflösende Qualität der Kamera direkt mit der Wirklichkeit abgleichen konnte), Sexpuppen-Produzenten, abgerundet durch Bühnen mit Strip-Liveshows.
Dazwischen standen halb nackte oder fast nackte Hostessen herum – manche in Dessous, manche oben ohne, manche jünger, manche älter, manche schön, manche weniger schön – und verteilten Flyer oder luden in ein mittendrin aufgestelltes Zelt zu einer Präsentation ein, die versprach, noch etwas „unartiger“ als die Shows auf offener Bühne zu sein. Was genau sie bewarben, konnte ich leider nicht herausfinden: Ich gehörte wohl nicht zur Zielgruppe und auch mein Freund, der mich an der Hand hielt, wurde nicht als passender Kandidat für das Angepriesene eingestuft. Mir versuchte man lediglich ein Wunder-Enthaarungssystem und einen Super-Lockenstab schmackhaft zu machen.
Eines war den Messedamen allen gemein: Sie wirkten größtenteils entsetzlich gelangweilt. Nun studierte ich die Besucher – ungefähr zwei Drittel Männer, ein Drittel Frauen, vordergründig junges und mittelaltes Publikum – und kam zu dem ernüchternden Schluss, dass diese kaum begeisterter wirkten als die professionellen Damen. Natürlich: Vor den Hostessen, die auf der Bühne, als Camgirls oder auf Podesten in Käfigen tiefe Einblicke gewährten, bildeten sich Männertrauben, die mit ihren Smartphones ihren persönlichen Pornofilm aufnahmen. Und als wir an einer „erotischen Tombola“ vorbeikamen, kicherte eine junge Besucherin aufgeregt, als ihr der kauzige Standbetreiber erklärte, dass sie unter anderem einen Dildo gewinnen könne.
Doch ansonsten wirkten die meisten der dort Versammelten so, als würden sie gerade ihre Wochenend-Einkäufe erledigen oder auf der Suche nach der nächsten Currywurst-Bude sein. Kein Hauch von Verheißung, keine Spannung, kein Prickeln – nichts als Kommerz und das nicht mal gut. Teilweise belustigten mich meine Beobachtungen, teilweise nicht: Das gebotene Spektakel war von einer derartigen Banalität überzogen, die zur Schau gestellte Sexualität wurde auf eine fast schon meisterhaft unerotische Weise präsentiert, dass es mich regelrecht beklemmte. Das gepflegte Desinteresse der eingangs beschriebenen Party-Hostessen war hier Programm: Wenn man schon mal da war, wie schlug man am besten die Zeit tot? Ich überlegte, wie schön es jetzt an der frischen Luft wäre.
„Kinky Venus“
„Das ist ja entsetzlich. Hier wird Sexualität lediglich als Ware präsentiert“, sagte ich zu meinem Freund. „Ich habe es Dir doch gleich gesagt", entgegnete er. „Das ganze ist wie ein riesiger Beate-Uhse-Laden. Erotisch völlig uninteressant. Übrigens werde ich irgendwie hungrig. Ich könnte jetzt ein Stück Kuchen essen, Du auch?“ Schmunzelnd betrachtete ich meinen Liebsten von der Seite. Er hatte seinen Ich-habe-eine-Mission-zu-erledigen-Blick aufgesetzt. Entschlossen schaute er geradeaus. Sein Auftrag lautete: Fotografen-Box finden und Kuchenstand finden – am besten aber umgekehrt, denn mit Hunger kann er gar nicht umgehen.
Plötzlich standen wir vor einer Halle namens „Kinky Venus“. Wie der Name schon suggerierte, handelte es sich um den Fetisch-Bereich. Im Gegensatz zum vorherigen Teil, der ziemlich prollig daherkam, wurde es hier wenigstens optisch ansprechender: Es präsentierten sich hochwertigere Labels aus dem BDSM-Bereich, statt China-Ware wurden handgefertigte Schuhe und Latex-Kleidung vorgestellt. Und obwohl Lack und Leder nicht unbedingt meinem persönlichen Geschmack entspricht, war das hier Gezeigte doch bedeutend eleganter als die Bunny-Optik, die uns zuvor umgeben hatte.
Doch auch hier fehlte nicht die unfreiwillige Komik. Wie aus dem Nichts wurde mitten auf dem Boden eine nackte Frau im Bondage-Stil gefesselt. Der Bondage-Meister, der gewissenhaft Seile um sie herum drapierte, konzentrierte sich akribisch auf sein Handwerk. Er tat dies mit derselben ungerührten Gründlichkeit, mit der er wahrscheinlich ein Paket schnüren würde. Die Unsinnlichkeit war fast grotesk („Stell Dir mal vor, Dein Beruf bestünde darin, andere Leute zu fesseln“, fasste mein Freund die Situation zusammen).
Wer lässt sich auf einer Messe tätowieren?
Daneben stellte sich ein Tattoo-Studio vor, das scheinbar auf Verschönerungen der Intimzone spezialisiert war. Eine junge Frau stand vor einem der Tätowierer und präsentierte ihren Schambereich, auf dem jedoch bereits schwarze Schnörkel prangten. Der Tattoo-Künstler blickte ernst auf ihren Venushügel, die Kundin sagte etwas, seine Finger fuhren in der Luft die Muster auf ihrer Haut nach. War das sein frisches Werk und die Dame noch nicht ganz zufrieden? Oder handelte es sich um ein älteres Tattoo, das noch verschönert werden sollte? Und überhaupt: Wer ließ sich auf einer Messe tätowieren?
Schließlich entdeckte ich sehr schöne und außergewöhnliche Schuhe: Rote Leder-Stiefeletten mit Metallabsatz und einer Lilien-Silberschnalle, extravagant und doch tragbar. Auch mein Freund zeigte sich vollkommen von ihnen begeistert: Er vergaß seinen Hunger und beschwor mich, unbedingt den Verkäufer nach meiner Größe zu fragen. Nachdem wir den Standbetreiber ausfindig gemacht hatten, der gerade zwischen zwei Korsagen-Trägerinnen auf einem Wasserbett lag, ergingen wir uns mit ihm in einer halbstündigen Diskussion über gelungene Schuh-Ästhetik, Größen im Wandel der Zeit und nicht zuletzt die Frage, welche Modelle wohl für mich die richtigen seien. Nach gründlicher Anprobe war ich um zwei Paar Schuhe reicher und fühlte mich gleich ein wenig besser.
Nachdem wir uns durch eine weitere Halle gearbeitet hatten, brauchten wir unbedingt eine Stärkung. Kuchen hatten wir immer noch nicht gefunden, dafür aber einen Cocktail-Stand. Während ich an meinem Mai Tai schlürfte, ließ ich das gerade Gesehene Revue passieren:
„Schatz, am Ende ist es doch sehr traurig. Also, wenn das alles sein soll, was es im 21. Jahrhundert auf einer Erotikmesse gibt, dann sieht es übel aus. Ich finde das Angebot wirklich sehr schmalspurig. Als ob den Betreibern die Phantasie fehlt. Dieser Schuhstand war wirklich das einzig Brauchbare, was ich hier finden konnte. Beispielsweise habe ich noch keinerlei hochwertige Dessous entdecken können … “
„Naja, für kleinere Labels ist die ‚Venus‘ zu teuer und gängige Unterwäsche-Marken wollen natürlich nicht mit einer Porno-Messe in Verbindung gebracht werden.“
„Mit der richtigen Person ist doch fast alles erotisch“
„Erotische Kunst konnte ich auch nicht entdecken. Kein Burlesque. Ich habe einen Stand mit erotischen Hörbüchern gesehen, das war‘s“, klagte ich weiter.
„Du siehst ja auch, dass ich dieses Mal keinen einzigen Fotografen angetroffen habe. Als ich vor ein paar Jahren das letzte Mal hier war, gab es noch einige Künstler aus dem Akt-Bereich, die sich hier präsentiert haben. Lohnt sich vielleicht nicht mehr.“
„Aber ist es nicht generell seltsam, wie getrennt hier die Sphären sind? Mir fällt gerade auf, dass der gesamte ‚esoterische‘ Bereich gar nicht vertreten ist. Kein Tantra, keine erotischen Massagen … Es gab dort hinten eine Frau, die erotische Hypnosen angeboten hat, aber sie hatte gerade eine Kundin, als wir vorbeikamen. Ich wäre mir dort aber auch wie auf dem Präsentierteller vorgekommen.“
Nachdenklich kaute ich auf meinem Strohhalm herum. Es war ja im Grunde ein Unding, von „gutem“ und „schlechtem“ Sex zu sprechen. Aber mochten es die meisten Menschen wirklich so plakativ?
„Schatz, ganz ehrlich: Fandest Du diese Veranstaltung hier erotisch?“
Ich kenne meinen Freund sehr gut und wusste im Grunde, was er antworten würde. Trotzdem wollte ich es noch einmal hören.
„Ach, weißt Du, mit der richtigen Person ist doch fast alles erotisch“, sagte er grinsend.
„Weg mit dem Träsh“
Schließlich verließen wir das Messe-Gelände. Wir hatten letztlich doch viel mehr Zeit als gedacht auf der „Venus“ verbracht, mittlerweile war es Abend. Als wir die S-Bahn-Brücke am ICC-Gebiet erreichten, sprach uns ein junger Afro-Deutscher an: „Sagt mal, wo geht es hier zur ‚Venus‘“?
Nachdem wir ihm den Weg beschrieben hatten, erklärte er: „Wisst ihr, ich bin hier wegen eines Kunstprojektes. Ich möchte aus dem vielen leeren Verpackungsmaterial, das bei dieser Veranstaltung anfällt, eine riesige Penis-Skulptur anfertigen und vor der Messe aufstellen. Das Ganze wird heißen: ‚Weg mit dem Trash‘, aber mit ‚Ä‘, das ist ganz wichtig.“
„Perfekt zusammengefasst“, entgegnete ich lachend.
„Ach, Leute, ihr seid cool. Lasst euch drücken!“, sagte der Träsh-Aktivist und zog uns an sich. „Und nicht vergessen: Kein Platz für Ballast!“ Bevor er verschwand, blinzelte er mir noch zu: „Du riechst echt gut!“
Auf der Stirn meines Freundes kräuselten sich missbilligende Eifersuchtsfalten, und entschlossen zog er mich Richtung S-Bahn. Und ich muss zu meiner Schande gestehen: Ein leicht eifersüchtiger Freund wirkt auf eine Frau verdammt sexy.