Amerika spaltet erneut die Abtreibungs-Gesetzgebung. Der Oberste Gerichtshof hat offenbar eine Entscheidung getroffen, die mehrere Bundesstaaten zum Verbot von Abtreibungen nutzen werden. Langfristig wird es aber auf einen gesellschaftlichen Kompromiss hinauslaufen.
Letzten Montagabend amerikanischer Zeit ereignete sich ein unerhörter Vorgang. Das Portal „Politico“ veröffentliche einen Vorentwurf einer Mehrheitsentscheidung des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten, die das vor fünf Jahrzehnten von diesem Gericht geschaffene verfassungsmäßige Recht auf Abtreibung zu Fall bringen und die Entscheidung darüber dem demokratischen Prozess der Bundesstaaten zurückgeben würde. Der reine Umstand, dass der Entwurf durchgestochen wurde, ist einzigartig in der Geschichte dieses Gerichts und wird wohl noch für einiges böses Blut sorgen. Wenn der Entwurf der Entscheidung zum Urteil wird, wird das zwar zunächst für Wut und Entsetzen auf der einen Seite dieser Auseinandersetzung und Jubel auf der anderen sorgen, aber längerfristig sollte es zu einer Entgiftung der politischen Atmosphäre und der Stärkung demokratischer Prozesse beitragen.
Schnell nach Bekanntwerden des Urteils fanden in mehreren Städten und auch vor dem Gerichtsgebäude selber Demonstrationen statt, hauptsächlich von Befürwortern eines Rechts auf Abtreibung und damit Gegnern der in Aussicht stehenden Entscheidung. Es verlief aber alles in geregelten Bahnen und die Größe dieser Demonstrationen blieb weit unter denen, als z.B. mit „P*ssy-Hüten“ verkleidete Demonstranten gegen den Wahlsieg Donald Trumps auf die Straße gingen. Gelegentlich sah man sogar als gutes Zeichen für die amerikanische Debattenfähigkeit Demonstranten mit Schildern für die entgegengesetzten Richtungen friedlich beieinanderstehen. Letztlich gehen diese Demonstrationen aber, wie wir sehen werden, am Gegenstand des Urteilsentwurfs vorbei, der sich gerade nicht damit beschäftigt, ob Abtreibung jetzt eine gute oder schlechte Sache sei.
Am nächsten Morgen bestätigte der Oberste Gerichtshof die Echtheit des Entwurfs, nannte die Durchstecherei „einen einzigartigen und ungeheuerlichen Vertrauensbruch“, und kündigte eine Untersuchung an. Die Quelle ist noch unbekannt, aber es liegt nahe, dass sie innerhalb des Obersten Gerichtshofs verortet ist und öffentlichen Druck aufbauen wollte, vielleicht um einen der Richter der abzusehenden Mehrheit noch umzustimmen, vielleicht aber auch um diese Mehrheit am Umkippen zu hindern. Bisher war der Oberste Gerichtshof ein Gremium, in dem die auf Lebenszeit amtierenden Richter bei allen scharfen Differenzen in der Sache respektvoll miteinander umgingen, bisweilen auch über diese Differenzen hinweg enge persönliche Freundschaften aufbauten. Diese Atmosphäre wird durch massive Vertrauensbrüche vergiftet, und man kann nur hoffen, dass es sich um die Tat eines einzelnen jungen wissenschaftlichen Mitarbeiters handelte.
Der Oberste Gerichtshof hat seine eigene Polizei
Wenn die dem Obersten Gerichtshof unterstellte kleine Polizeieinheit Hilfe anderer der exekutiven Gewalt angehörenden Polizeibehörden bräuchte, dann würden sich auch in mehr als zwei Jahrhunderten nicht relevant gewordene Fragen zur Gewaltenteilung auftun. Es ist noch nicht einmal klar, ob überhaupt eine Straftat vorliegt, aber wenn, was naheliegt, der Informant Jurist ist, dann hätte er mindestens mit erheblichen standesrechtlichen Konsequenzen zu rechnen.
Bevor ich nun zum Inhalt des Urteilsentwurfs selbst komme, muss ich auf seine Voraussetzungen eingehen, einerseits die Rolle des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten und andererseits die Entscheidung Roe v. Wade, welche 1973 ein durch die Bundesverfassung garantiertes Recht auf Abtreibung etabliert hat. Diese Voraussetzungen machen auch den größten Teil des Urteilsentwurfs selbst aus.
Die Vereinigten Staaten waren die erste große Nation, die eine geschriebene Verfassung mit der recht konsequent durchgezogenen Theorie der Gewaltenteilung verbunden hat, und deswegen zuvor ungeklärte Fragen nach dem Verhältnis der drei Gewalten untereinander, der Beziehung der Bundesgewalt zu den Bundesstaaten, und der Beziehung von Recht und Volk zu beantworten hatte. Im Mutterland Großbritannien wurde das Parlament, also seine beiden Häuser im Zusammenwirken mit der Krone, als „omnipotent“ angesehen: seine Entscheidungen konnten vor keinem irdischen Richter angegriffen werden. In Amerika sollten dagegen einerseits das Volk und andererseits das Gesetz selbst souverän sein, moderiert von einer geschriebenen Verfassung mit den drei voneinander unabhängigen und doch verwobenen Gewalten. Wie genau das funktionieren würde, musste man erst noch herausbekommen, und die zur Geburt der Nation geschriebene Verfassung ließ Fragen offen.
Die Frage, ob der Oberste Gerichtshof Gesetze des Kongresses als verfassungswidrig kassieren könne, wurde vom Gerichtshof selbst 1803 in einem seiner berühmtesten Fälle, Marbury v. Madison, beantwortet: „Es ist nachdrücklich der Aufgabenbereich und die Pflicht der Judikative, zu sagen, was Recht ist.“ (Das „v.“ in den Bezeichnungen amerikanischer Gerichtsentscheidungen steht für „versus“ und wird auch so oder einfach als „vee“ gesprochen.) Es handelt sich hierbei aber gerade nicht um eine freie Rechtsetzung, sondern um die Auslegung und Anwendung bestehenden Rechts. Für die Gesetzgebung ist die gesetzgebende Gewalt zuständig. Wenn aber eine Kontroverse an ein Gericht herangetragen wird und dabei verschiedene einschlägige Gesetze kollidieren, dann hat das Gericht diesen Konflikt aufzulösen. Nachdem in den Vereinigten Staaten eine Trennung zwischen höherrangigem Verfassungsrecht und niedrigerrangigen gewöhnlichen Gesetzen existiert, hat das Gericht bei Konflikten zwischen diesen sich an die Verfassung zu halten und das verfassungswidrige Gesetz, jedenfalls in Anwendung auf diesen Fall, für verfassungswidrig und nichtig zu erklären. So machte der Oberste Richter John Marshall seinen Obersten Gerichtshof auch zu einem so in der Verfassung nicht explizit vorgesehenen obersten Verfassungsgericht, eine Rolle, die seitdem allgemeine Anerkennung gefunden hat.
Drei große Spaltpilze: Waffen, Religion, Abtreibung
Während die Entscheidung in Marbury v. Madison jedenfalls in Bezug auf die Feststellung der Kompetenz der Gerichte, verfassungswidrige Gesetze zu kassieren, richtungsweisend war und in zwei Jahrhunderten nicht ernsthaft in Frage gestellt wurde, war bei der Entscheidung Roe v. Wade, die 1973 ein Grundrecht auf Abtreibung festgestellt hat, das Gegenteil der Fall. Diese Entscheidung taucht regelmäßig in Listen der handwerklich schlechtesten Entscheidungen des Gerichtshofs auf, wird in ihrem handwerklichen Aspekt auch von Juristen kritisiert, die das Ergebnis befürworten, polarisierte die Gesellschaft und brachte dauerhaften Unfrieden in jedes Ernennungsverfahren für hohe Bundesrichter.
Unter den drei großen verfassungsrechtlichen Spaltpilzen der Amerikaner, Abtreibung, Trennung von Staat und Religion, und Waffenbesitz, zeichnet sich die Abtreibung dadurch aus, dass sie in der Bundesverfassung, den Verfassungen der älteren Einzelstaaten, den Beratungen zu diesen Verfassungen, mit keinem Wort erwähnt ist. Die Garantie des Waffenbesitzes ist so ausdrücklich, wie eine allgemeine Verfassungsvorschrift es nur sein kann: „Das Recht des Volkes, Waffen zu besitzen und zu tragen, darf nicht verletzt werden.“ Das erfordert eine Interpretation der Begriffe „Volk“, „Waffen“, „tragen“ und „verletzen“, aber den Grundgehalt der Vorschrift kann man eigentlich nur mit bösem Willen oder Scheuklappen verleugnen.
Bei der Trennung von Staat und Religion ist das schon schwieriger. Wohl gibt es verfassungsrechtliche Vorschriften, welche die Schaffung einer Staatskirche verbieten, die freie Religionsausübung garantieren, und dass keine Prüfung der Religion Voraussetzung für öffentliche Ämter sein darf, aber das wurde damals nicht als Verbot von Staatskirchen der Bundesstaaten, sondern eher noch als ein Schutz derselben, verstanden, und noch viel weniger als Verbot jeder Erwähnung des christlichen Glaubens in öffentlichen Schulen oder sonstigen Einrichtungen. Daraus einen strikten Laizismus abzuleiten, erfordert zumindest etwas Abenteuergeist und eine ausgreifende Interpretation des späteren 14. Verfassungszusatzes. Aber immerhin, die Verfassung liefert einen Steinbruch für Argumente zu diesem Thema. Zur Abtreibung oder der Frage, ab welchem Stadium der fötalen Entwicklung menschliches Leben anfängt oder schutzwürdig wird, steht dagegen in der Verfassung so viel wie zu Tierschutz, Kernkraft oder Raumfahrt, nämlich gar nichts.
Eine bezahlte Schauspielerin?
In diese verfassungsrechtliche Leere stieß der Wunsch zweier Anwältinnen, vor dem Obersten Gerichtshof ein verfassungsmäßiges Recht auf Abtreibung zu erstreiten. Sie brauchten dazu eine Musterklägerin und fanden Norma McCorvey, eine bedauernswerte Frau, die schon als Kind mit dem Gesetz in Konflikt kam, mit 16 unglücklich heiratete, trank und Drogen konsumierte, und mit 21 das dritte Mal schwanger war. Von den Anwältinnen zu ihrer Meinung zu Abtreibung befragt, zeigte sich McCorvey unschlüssig und wurde mit den Sätzen „Es ist nur ein Stück Gewebe. Sie haben nur ihre Regel verpasst.“ überzeugt. Dabei war natürlich von Anfang an klar, dass der Prozess niemals bis zum Geburtstermin durch die Instanzen gehen würde. McCorvey bekam ihr Kind, gab es zur Adoption frei und wurde später eine bekannte und engagierte christliche Abtreibungsgegnerin. Gegen Ende ihres Lebens sagte sie dann, dass auch das nur eine Rolle für Geld gewesen sei und sie immer noch für freien Zugang zu Abtreibungen sei. McCorvey, im Prozess pseudonymisiert als Jane Roe, war und blieb ein Spielball fremder Interessen.
Vier Jahre nach McCorveys Schwangerschaft kam dann der Oberste Gerichtshof zu seiner Entscheidung in Roe v. Wade. „Das Recht auf Privatsphäre“, so argumentierte das Gericht, „ist breit genug, um die Entscheidung einer Frau zu beinhalten, ob sie ihre Schwangerschaft beenden will.“ Dabei ließ das Urteil erstaunlicherweise ausdrücklich offen, aus welcher Rechtsquelle dieses verfassungsmäßige Recht sich speise. Einerseits könne es aus dem 14. Verfassungszusatz mit seiner Garantie eines rechtstaatlichen Verfahrens resultieren. Dabei muss man natürlich in Ermangelung weiterer Textgrundlagen den Zirkelschluss vollziehen, dass ein Verbot gewisser Abtreibungen rechtstaatswidrig sei, weil es rechtstaatswidrig sei. Andererseits könne dieses Recht aber auch aus dem neunten Verfassungszusatz fließen, der feststellt, dass die Aufzählung und Garantie gewisser Rechte im Grundrechtskatalog der Verfassung nicht andere bestehende Rechte des Volkes einschränken oder aufheben soll. Daraus allein ein verfassungsmäßiges Recht auf Abtreibung, das weder zur Zeit der Gründerväter noch sonst bis kurz von dem Prozess von irgendjemandem behauptet worden war, zu folgern, ist aber abenteuerlich.
Aus der Zeit gefallen
So schwach die Rechtsgrundlagen, so detailliert war dann die Neuregelung der Abtreibung im Urteil, die mehr an eine Regierungsverordnung erinnert als an die Feststellung von Verfassungsrecht. Der Gerichtshof teilte die Schwangerschaft in drei Drittel ein und schuf verschiedene Regelungen für sie.
Im ersten Drittel habe der Staat nur ein minimales Mitspracherecht, dürfe z.B. vorschreiben, dass Abtreibungen nur von Ärzten vorgenommen werden dürfen. Erstaunlicherweise für ein Urteil, das ein Meilenstein des Feminismus sein soll, sah das Gericht die Entscheidung über die Angemessenheit einer Abtreibung aber nicht unbedingt bei der Frau, sondern „der behandelnde Arzt, in Konsultation mit seiner Patientin, kann frei entscheiden, ohne Regulierung durch den Staat, dass in seinem medizinischen Urteil die Schwangerschaft beendet werden sollte.“ Dieses Rollenverständnis, in dem der wohl selbstverständlich als männlich gedachte Hausarzt oder Gynäkologe darüber zu entscheiden hat, ob in seiner fachmännischen Meinung seine Patientin ein Kind bekommen solle, war schon damals total aus der Zeit gefallen.
Es entspricht auch nicht den sozialen Realitäten von spezialisierten Abtreibungskliniken, die ihre Patientinnen nicht kennen, auch nicht kennen wollen, sondern ihre Dienstleistung am Fließband produzieren. Diese Betonung der Rolle des Arztes entspricht aber der amerikanischen Tradition, dass sich möglicherweise strafbar macht, wer eine Abtreibung vornimmt, die werdende Mutter, die sie vornehmen lässt, aber nicht, sondern eher als Opfer gesehen wird. Im zweiten Schwangerschaftsdrittel könne der Staat weitreichendere Beschränkungen auferlegen, die allerdings dem Schutz der Schwangeren vor den Risiken einer späten Abtreibung dienen sollten, während ein Interesse am Leben des Kindes immer noch ohne Bedeutung bliebe.
Lebensfähig ab dem dritten Drittel
Im dritten Schwangerschaftsdrittel schließlich sei laut der damaligen Gerichtsentscheidung der Fötus „lebensfähig“, und nun habe der Staat ein legitimes Interesse am Schutz dieses ungeborenen Lebens, das Einschränkungen des Rechts auf Abtreibung erlaube. Warum die Schutzwürdigkeit menschliches Lebens mit dem Anfang einer selbstständigen Lebensfähigkeit zusammenfallen soll, und nicht beispielsweise mit der Zeugung, dem Beginn der Schmerzempfindung, der Geburt oder einer sonstigen Entwicklungsstufe, blieb dabei ebenso offen wie die Frage, warum das Gericht eine Vermutung dieser Lebensfähigkeit gerade zu zwei Dritteln der Schwangerschaft festgelegt hat, während die tatsächliche Lebensfähigkeit außerhalb des Mutterleibs offensichtlich von Zufälligkeiten wie der gesunden Entwicklung des Fötus und der Entwicklung von Medizin und Medizintechnik abhängt. Auch die Vorstellung, dass der Wert menschlichen Lebens von seiner wie auch immer definierten selbständigen Lebensfähigkeit, der Unabhängigkeit von der Versorgung durch Dritte, ohne die doch kaum ein Mensch und kein Säugling lange überleben könnte, abhänge, hat etwas offensichtlich Ungutes.
All dies, erinnern wir uns, soll angeblich irgendwie, auf vom Gericht selbst nicht näher ausgeführter Weise, aus dem neunten Verfassungszusatz folgen, oder vielleicht auch aus dem 14.. Das ist absurd, konnte nur die Grundlage für dauerhaften Streit werden, und wurde es auch.
Bill Clinton: Sicher, legal und selten
Die meisten Amerikaner, so wie die meisten Europäer auch, sind in dieser wie in vielen anderen im Prinzip existentiellen Fragen unentschlossen, können beiden Seiten der Debatte etwas abgewinnen, und neigen einem Kompromiss zu, der die Entscheidung der Frage von ihnen forthält. Man möchte robusten Polizeischutz, ist aber entsetzt über Polizeibrutalität; man möchte die robuste Durchsetzung nationaler oder gar humanitärer Interessen und nationale Größe, aber keine Kriegstoten; man möchte billiges Schnitzel, aber keine Misshandlung von Tieren; und so möchte man auch einer verzweifelten Schwangeren ihre Abtreibung nicht verwehren, aber auch keine Spätabtreibungen kurz vor oder gar nach der Geburt und schon gar nicht deren bildliche Vorstellung.
Würden die Amerikaner gezwungen, in einer nationalen Debatte eine für den ganzen Bund geltende gesetzliche Lösung zu finden, dann käme dabei vermutlich irgendeine Art der Fristenregelung, wie man sie auch in Europa kennt, heraus. Bill Clinton hat diese das Problem fortschiebende Einstellung aus gemäßigt linksliberaler Sicht damit beschrieben, dass seiner Meinung nach Abtreibung „sicher, legal und selten“ sein solle.
Da diese Fragen aber ohne die Vorgabe aus Roe v. Wade Sache der Bundesstaaten wären, nicht Gegenstand einer bundesrechtlichen Regelung, würde der demokratische Prozess verschiedene Lösungen in den verschiedenen Bundesstaaten finden müssen. Die wären vermutlich im christlich-konservativen Südosten eher restriktiv, im säkular-linksliberalen Nordosten und an der Westküste eher permissiv, und in den Staaten dazwischen moderat. Weil die werdende Mutter sich zur Reise über Staatsgrenzen entscheiden kann, das ungeborene Kind aber nicht, wäre das auf Bundesebene immer noch ein permissives System.
Ein solcher demokratischer Prozess, der die verschiedenen Seiten der Debatte zwingt, einander zuzuhören und irgendeine mehrheitsfähige und befriedende Lösung zu finden, wurde durch das Fiat von Roe v. Wade aber abgewürgt. Moderate Lösungen haben ohne eine Revision dieses Urteils keine Chance, so dass diejenigen, die Energie auf diese Frage aufwenden, die extremen Meinungen auf beiden Seiten vertreten.
Das heiligste Sakrament
Einerseits gibt es die frommen Christen, Evangelikale wie Katholiken, und Lebensschützer, die jede Abtreibung als Mord an unschuldigem menschlichem Leben ansehen. Die haben ihre Energie einerseits darauf verwendet, durch Gesetze, die vordergründig anderen Zwecken dienen sollen, den Zugang zu Abtreibungen zu erschweren, andererseits auf Demonstrationen vor Abtreibungskliniken, gegen Abtreibung gerichtete Beratungsangebote an Schwangere und ähnliche zivilgesellschaftliche Aktionen. Der Motivationsschub, den diese Gruppen in den 70ern durch die Abtreibungsfrage bekommen hatten, trug auch nicht unerheblich zur eigentlich unwahrscheinlichen Koalition zwischen Frommen, klassisch liberalen Marktwirtschaftlern und Kalten Kriegern bei, die dann Ronald Reagan ins Präsidentenamt tragen sollte.
Andererseits gibt es die radikalen Linksliberalen und Feministen, die sich grundsätzlich gegen jede Einschränkung der Abtreibung stellen. Von denen stammen Begriffe wie „reproduktive Rechte“, „reproduktive Fürsorge“, „essenzielle Heilfürsorge“, die alle meinen, dass Abtreibungen, aus jedem oder auch ohne Grund, in jedem Stadium der Schwangerschaft, nicht nur nicht vom Staat verboten werden dürften, sondern, dass jede Frau, jedes minderjährige Mädchen auch ohne Wissen der Eltern, jederzeit „Zugang“ zu Abtreibungen haben solle, idealerweise direkt vom Staat bezahlt. Daraus wurde eine Grundforderung des Linksliberalismus. Die konservative Krawallkolumnistin Ann Coulter hatte durchaus eine interessante und nicht ganz unzutreffende Erkenntnis, als sie den amerikanischen Linksliberalismus in einem Buch als eine neuartige Religion bezeichnet hat, die Roe v. Wade statt der Bibel zu ihrer heiligen Schrift habe und Abtreibung statt des Abendmahls als ihr heiligstes Sakrament, damit auch als das Blutopfer des Marsches zur Sonne, zur Freiheit, zum Lichte empor.
Wir werden ihn borken!
Aus der Konfrontation dieser beiden unversöhnlichen Seiten konnte kein Kompromiss entstehen, und es konnte auch keine Motivation zu einem solchen bestehen, solange die Rechtslage ohnehin nicht durch demokratische Mehrheiten, sondern durch vollkommen willkürlich anmutende Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs gesetzt würde. Der wiederum wurde mit einer Litanei an Verfahren konfrontiert, durch die er sich durchlavierte, ohne wirklich etwas zu entscheiden. In einem Prozess, Planned Parenthood v. Casey, verwarf er die Trimesterregelung aus Roe als impraktikabel und ersetzte sie durch eine Prüfung, ob ein in Frage stehendes Gesetz eine „unbillige Last“ für Abtreibungswillige darstelle, sowie eine schwammigere Frage, ab welchem Zeitpunkt ein Fötus „lebensfähig“ sei. Aber auch das hat nichts entschieden oder befriedet, auch das ist nicht plausibel aus Quellen des Verfassungsrechts herzuleiten, und es hat den Strom der dem Gerichtshof vorgelegten Klagen diesbezüglich nicht zum Versiegen gebracht.
Jede Berufung eines Richters an ein höheres Bundesgericht und insbesondere jede Berufung an den Obersten Gerichtshof wurde seit Roe v. Wade von der Frage vergiftet, wie dieser Richter wohl über die Frage der Abtreibung denken würde, wie er in entsprechenden Fällen urteilen würde. Die Kandidaten mussten sich in Schweigen üben, während eine Wissenschaft der Kaffeesatzleserei zu ergründen versuchte, ob sie für die jeweilige Seite zuverlässig wären. Wer das Unglück hatte, während einer erfolgversprechenden Richterkarriere mit einem solchen Fall konfrontiert zu werden, für den konnte der Zwang, sich in einem Urteil zu äußern, den weiteren Karriereweg versperren, und wer sich freiwillig in einem akademischen Aufsatz zu diesem Thema äußerte konnte, entsprechende Ambitionen ohnehin begraben.
Diese vergiftete Atmosphäre in jeder Richternominierung trug nicht unwesentlich zu dem Spießrutenlaufen bei, mit dem die Bestätigung Robert Borks verhindert wurde und die Bestätigung Brett Kavanaughs verhindert werden sollte. Bis heute ist „bork“ im Amerikanischen ein im Wörterbuch verzeichnetes Verb für die Verhinderung einer Kandidatur mit schmutzigen Mitteln, Falschbehauptungen, Verteufelung. Beispielsatz der Feministin Florynce Kennedy bezüglich der Nominierung des Richters Clarence Thomas: „Wir werden ihn borken. Wir werden ihn politisch totmachen. Dieser kleine Widerling, wo ist er eigentlich hergekommen?“
Die wohlhabenden Linksliberalen lassen weniger abtreiben
Währenddessen ist die Zahl der Abtreibungen pro Frau nach der Entscheidung in Roe v. Wade 1973 bis 1979 sprunghaft angestiegen, mit einer ganzen Industrie spezialisierter Kliniken, die sich hauptsächlich diesem Geschäftsfeld widmet, um seitdem stetig zu fallen, allerdings immer noch auf höherem Niveau als in den meisten anderen westlichen Staaten, so dass heute die Anzahl der Abtreibungen ein Viertel der Anzahl der Lebendgeburten beträgt. Dabei sind es weniger die gebildeten und wohlhabenden Linksliberalen, die tatsächlich abtreiben lassen und deren Kinder somit abgetrieben werden, sondern die Häufigkeit von Abtreibungen ist bei englischsprachigen Schwarzen dreimal höher als bei Weißen, während die spanischsprachige Minderheit dazwischen liegt.
In einem Klima, in dem eine gewisse politische Seite jede Spätabtreibung als essenzielle Gesundheitsfürsorge ansieht, kam es auch zu Skandalen wie den um den Arzt Kermit Gosnell aus Philadelphia, der tagsüber Betäubungsmittelrezepte an verzweifelte Süchtige ausstellte und nachts Abtreibungen vornahm, auch Spätabtreibungen, bei denen er das lebend geborene Kind mittels einer Schere tötete, bei denen eine Mutter ums Leben kam, bei denen er eine Fünfzehnjährige, die es sich im letzten Moment anders überlegte, fesselte und dann die Abtreibung vornahm. Die Polizei fand in seiner Praxis unzählige Föten, blutverschmierte Möbel, Sammlungen von Babyfüßen in Gläsern, zwischen all dem Katzen. Gosnell sah sich dabei als eine „effektive, positive Kraft für die Minderheitengemeinschaft,“ wurde zum Multimillionär auf Kosten der Ärmsten und dann in einem Handel, in dem die Staatsanwaltschaft auf die Todesstrafe verzichtete, zu lebenslänglich ohne vorzeitige Entlassung verurteilt.
Einerseits war die kriminelle Energie und Brutalität des Dr. Gosnell außergewöhnlich und deutet auf seelische Abnormitäten weit jenseits des Gewinnstrebens hin. Andererseits hat er aber praktisch umgesetzt, was theoretisch von als respektabel geltenden Politikern der Linken noch heute als „essenzielle Gesundheitsfürsorge“ und Beweis für die Hingabe an die feministische Sache gesagt wird. So hat es im Gouverneurswahlkampf in Virginia letztes Jahr eine Rolle gespielt, dass 2019 eine Abgeordnete der Demokratischen Partei in diesem Staat einen Gesetzentwurf eingebracht hat, der Spätabtreibungen auch während des Geburtsvorgangs erlauben sollte, und der damalige Gouverneur hat noch einen draufgesetzt, indem er, selbst Arzt, sogar noch Abtreibungen nach der Geburt für legitim erklärte. Der Wähler hat diese selbsterklärte „Mauer der reproduktiven Rechte“ allerdings nicht honoriert, das war ihm zu viel.
Keine Philosophenkönige
Der diese Woche durchgestochene Urteilsentwurf referiert die juristische Beliebigkeit und Unhaltbarkeit von Roe v. Wade und der diesem Urteil folgenden Entscheidungen auf 98 Seiten weit ausführlicher als ich es hier tun konnte. Urteile des amerikanischen Obersten Gerichtshofs sind aus Gründen, über die ich hier nicht näher spekulieren möchte, ohnehin meistens weit angenehmer lesbar geschrieben als solche des Bundesverfassungsgerichts, und wenn ich Sie für das Thema interessieren konnte, kann ich Ihnen den Entwurf nur zur Lektüre empfehlen. Er ist nicht nur flüssig und luzide geschrieben, sondern auch für ein Urteil, das ein halbes Jahrhundert Verfassungsrecht, oder nach Ansicht des Entwurfs Verfassungsunrecht, aufhebt, ungewöhnlich spritzig und selbstbewusst.
Bei aller Ausführlichkeit, zu der die Revision einer der politisch und juristisch umstrittensten Gerichtsentscheidungen in der Geschichte der Vereinigten Staaten zwingt, ist das Argument des Entwurfs sehr einfach: Eine Grundlage im Verfassungsrecht der Vereinigten Staaten für ein verfassungsrechtlich garantiertes Recht auf Abtreibung existiert nicht. Sowohl das Recht auf Selbstbestimmung wie das Recht auf Leben sind gewichtige moralische Argumente, aber in Ermangelung einer weiteren Rechtsgrundlage keine verfassungsrechtlichen. Damit ist die Regelung dieses Rechtsgegenstands dem demokratischen Prozess der einzelnen Bundesstaaten überlassen, so wie das auch vor Roe v. Wade der Fall war.
Aus deutscher Sicht interessant ist dabei, dass im Gegensatz zur den diesbezüglichen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 39, 1, BVerfGE 88, 203) der Urteilsentwurf gerade nicht die Grenzen der Autonomie der Mutter und des Rechts auf Leben des ungeborenen Kindes aufwiegen und ausbalancieren will, sondern die Rechtsprechung als ungeeignet zur Klärung dieser Frage ansieht und auf den demokratischen Gesetzgebungsprozess der Einzelstaaten verweist. Das entspricht der amerikanischen Ablehnung der Rolle des Richters als des Philosophenkönigs aus Platos Republik. Es ist die Aufgabe des Richters, zu sagen, was Recht ist, nicht, es nach seinem sittlichen Gutdünken, das doch nicht qualifizierter ist als das anderer Bürger, zu machen.
Ohnmächtige Wut und Befriedung
Bis zur Verkündung des Urteils, und wenn das Urteil dem durchgestochenen Entwurf folgen wird, danach noch mehr mindestens bis zu den Zwischenwahlen im November, wird von Seite der Linken ein Heulen und ein Zähneklappern, ein wüstes und wütendes Geschrei kommen, zum Teil ehrlich gemeint, zum Teil zum Zwecke der Wählermobilisierung.
Der kalifornische Gouverneur Gavin Newsom schrieb auf Twitter:
„Unsere Töchter, Schwestern, Mütter und Großmütter werden nicht zum Schweigen gebracht werden. Die Welt steht davor, ihre Wut [fury] zu hören. Kalifornien wird nicht stillsitzen. Wir werden wie die Hölle kämpfen.“
Für einen Gouverneur eines Bundesstaates ist das eigentlich überraschend, denn das Urteil würde die Regelung ja gerade in die Hände der Bundesstaaten zurückgeben, die Kalifornien auch weiterhin so permissiv, wie es dem dortigen Volk und Gesetzgebungsprozess beliebt, gestalten könnte. Die Senatorin Tammy Baldwin schreibt, dass falls der Oberste Gerichtshof „von der Richterbank Gesetze erlassen und die Uhr um 50 Jahre zurückdrehen wird“ der Senat ihr ‚Gesetz zum Schutze der Gesundheit von Frauen‘ (also unbeschränkter Abtreibung) beschließen würde, wofür eine Mehrheit zu finden allerdings schwierig werden könnte und die Zuständigkeit des Bundes fraglich scheint. Mittlerweile verkünden Konzerne, die ihre Wokeness zeigen wollen, dass sie gegebenenfalls ihren Mitarbeitern Reisen für Abtreibungen als betriebliche Sozialleistung finanzieren wollen, was nebenbei auch allemal billiger als Mutterschaftsurlaub ist.
Kurzfristig werden, sollte der Entwurf so zum Urteil werden, Konservative sich freuen und Linke in ohnmächtiger Wut Feuer schnauben. Bei den anstehenden Zwischenwahlen könnte ein solches Urteil einen Mobilisierungseffekt für die Wähler der Demokratischen Partei haben, angefeuert von Rufen vom „Krieg gegen die Frauen“ und „reproduktiver Heilfürsorge“, und so die absehbare Katastrophe dieser Partei im November abmildern. Langfristig dürfte aber ein Rückzug des Obersten Gerichtshofs aus der für ihn doch unentscheidbaren und zu dauerndem Streit führenden Frage des Abtreibungsrechts zu einer Befriedung des öffentlichen Diskurses führen, indem die verschiedenen Positionen auf den Weg des gesetzgeberischen Kompromisses verwiesen werden, der der Natur einer Systems der Regierung durch das Volk und für das Volk entspricht, in dem auch verschiedene Bundesstaaten zu verschiedenen Lösungen gelangen können, die dann miteinander konkurrieren und zu ihrer gegenseitigen Verbesserung beitragen können.
Oliver M. Haynold wuchs im Schwarzwald auf und lebt in Evanston, Illinois. Er studierte Geschichte und Chemie an der University of Pennsylvania und wurde an der Northwestern University mit einer Dissertation über die Verfassungstradition Württembergs promoviert. Er arbeitet seither als Unternehmensberater, in der Finanzbranche und als freier Erfinder.