Die EU-Mitgliedsstaaten verweigern Ursula von der Leyen die Geschlechterparität bei der Nominierung ihrer neuen EU-Kommissare. Alle reden darüber, während niemand wahrnimmt, was die alte Kommission vor ihrem Abtreten noch auf den Weg brachte.
Bis vergangenen Freitag hatten die EU-Mitgliedstaaten Zeit, ihre künftigen EU-Kommissare zu nominieren. Dafür hatte ihnen Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die Auflage erteilt, jeweils eine Frau und einen Mann vorzuschlagen. Doch allein Bulgarien kam von der Leyens Aufforderung nach. Die anderen Länder ignorierten ihre Vorgabe schlichtweg und wählten nur einen einzigen Kandidaten aus, noch dazu überwiegend einen männlichen. Was als vielversprechende Meuterei gegenüber dem Machtanspruch der Präsidentin gedeutet werden kann, könnte allerdings zu erheblichen Verzögerungen führen, denn die neuen EU-Kommissare können nur dann vereidigt werden, wenn das EU-Parlament seine Zustimmung gibt. Und das ist in Hinblick auf die mangelnde Geschlechterparität fraglich. So wird die Kommission möglicherweise erst am 1. Januar 2025 ihre Arbeit aufnehmen können.
Auch wenn es also noch ein bisschen dauern könnte, bis die neue EU-Kommission ihre mehr oder weniger unheilvollen Gesetzesvorschläge vorstellen kann, besteht kein Grund zum Aufatmen. Denn die bisherige Kommission hat einiges auf den Weg gebracht, dessen ganzes Ausmaß sich erst in Zukunft zeigen wird. Beispielsweise müssen Richtlinien anders als Verordnungen, die sofort gelten, von den EU-Mitgliedstaaten erst noch in nationales Recht umgesetzt werden. Und das kann durchaus einige Jahre beanspruchen. Wer ärgert sich zum Beispiel nicht über die störenden festsitzenden Getränkedeckel und reißt sie womöglich ab? Zurückzuführen ist diese nervtötende Neuerung auf die Einweg-Kunststoff-Richtlinie 2019/904 der EU, die vorschreibt, dass PET-Einwegflaschen und Getränkekartons einen festsitzenden Verschluss („Tethered Caps“) haben müssen. Sie wurde schon 2019 verabschiedet, ist aber erst im Juli 2024 in Kraft getreten. Das heißt: Wir haben jetzt plötzlich mit Ärgernissen zu tun, die die EU schon vor fünf Jahren eingetütet hat.
Deswegen lohnt sich eine kleine Rückblende darauf, wie die bisherige Kommission noch vor der Sommerpause die Weichen für die nächsten Jahre gestellt hat. Bereits am 19. Juni hatte die EU-Kommission den Mitgliedstaaten im Rahmen des Frühjahrspakets des „Europäischen Semesters 2024“ nämlich politische Leitlinien zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit und Resilienz der EU und zur Aufrechterhaltung solider öffentlicher Finanzen an die Hand gegeben. Ebenfalls am 19. Juni war der EU-Jahreshaushalt für 2025 von der EU-Kommission vorgeschlagen worden. Und am 28. Juni billigte die EU-Kommission den geänderten Aufbau- und Resilienzplan Deutschlands in Höhe von über 30 Milliarden Euro. Am 2. Juli veröffentlichte die EU-Kommission ihren zweiten Bericht über den Stand der digitalen Dekade, der länderspezifische Empfehlungen enthält, und am 12. Juli wurde der Ukraine-Compact angekündigt.
Auch um Stechmücken kümmerte sich die fürsorgliche EU-Kommission noch vor der Sommerpause und erteilte Ende Juni eine Zulassung für den allerersten Impfstoff gegen das Chikungunya-Virus, eine Infektionskrankheit, die durch infizierte Stechmücken übertragen wird. Außerdem kündigte die EU-Kommission an, 500.000 Euro an Fördermitteln aus dem Programm EU4Health für ein Pilotprojekt zur Tilgung der Stechmücke Aedes aegptiy in Zypern bereitzustellen. Das Chikungunya-Virus sei in der EU zwar nicht endemisch, aber infolge des Klimawandels seien in Europa immer mehr Stechmücken anzutreffen, die schwere Infektionskrankheiten übertragen könnten, heißt es in der Begründung.
"Viele Illusionen zerschlagen"
Gerade trat Ursula von der Leyen allerdings bereits in ihrer jungen zweiten Amtszeit öffentlich auf, nämlich bezeichnenderweise auf der Globsec-Sicherheitskonferenz in Prag am 30. August, wo sie den Czech and Slovak Transatlantic Award verliehen bekam. Hier hielt sie eine Grundsatzrede, in der sie hervorhob, dass im Mittelpunkt der EU-Friedensbemühungen die Integration der Ukraine in die Europäische Union stehe. Außerdem habe Putin zwar den Gashahn abgedreht, um Europa zu erpressen, doch er habe damit im Grunde dafür gesorgt, dass die Energieerzeugung aus erneuerbaren Quellen in Europa angekurbelt worden sei, durch die Europa nun unabhängig werde. Darüber hinaus sei Europa lange Zeit nicht bereit gewesen, ausreichend in seine eigene Verteidigung zu investieren. Das sei jetzt aber überwunden. Die NATO müsse natürlich auch weiterhin im Zentrum der gemeinsamen Verteidigung stehen, doch es bedürfe eines stärkeren europäischen Pfeilers. Wörtlich sagte von der Leyen: „Wir Europäer müssen über die Mittel verfügen, uns selbst zu verteidigen und zu schützen und jeden potenziellen Feind abzuschrecken.“ Das Ziel müsse eine Rüstungsproduktion sein, die der Größe des Kontinents entspreche. Und sie betonte: „Wenn wir wirklichen Frieden wollen, müssen wir die Grundlagen der europäischen Sicherheitsarchitektur komplett überdenken.“
Von der Leyen schloss mit dem Appell: „Zu Beginn dieses Jahrzehnts wurden in Europa viele Illusionen zerschlagen. Die Illusion, dass unser Frieden dauerhaft wäre. Die Illusion, dass Wohlstand für Putin wichtiger sein könnte als seine Großmachtfantasien. Die Illusion, dass Europa genug für seine Sicherheit tue – sei es wirtschaftlich oder militärisch. Heute können wir uns keine weiteren Illusionen mehr leisten. Die zweite Hälfte dieses Jahrzehnts wird von hohen Risiken geprägt sein. Der Ukraine-Krieg und der Konflikt im Nahen Osten haben die geopolitischen Verhältnisse ins Wanken gebracht. Auch im Fernen Osten nehmen die Spannungen immer mehr zu. Wir stehen vor den Herausforderungen des Klimawandels, der beispielsweise ganze Regionen in Wüsten verwandelt. Wir Europäerinnen und Europäer müssen auf der Hut sein. Wir müssen unser Augenmerk bei allem, was wir tun, wieder auf den Sicherheitsaspekt legen. Wir müssen unsere Union im Kern als Sicherheitsprojekt verstehen.“ Dass zum europäischen „Sicherheitsprojekt“ vor allem auch gehören müsste, dass die EU ihre Grenzen gegenüber illegaler und krimineller Migration schützt, thematisierte von der Leyen allerdings nicht.
In ihrer Rede umriss sie vielmehr, worauf sich die EU-Bürger in den kommenden Jahren einzustellen haben: Kriegswirtschaft und Energieknappheit. Oder wie sonst sollte man ihre Ankündigung interpretieren, die gesamte EU-Wirtschaft auf Rüstungsproduktion und den Kampf gegen den Klimawandel auszurichten? Doch von der Leyen weiß sich auf der richtigen Seite. In ihrer Dankesrede zur Verleihung des Czech and Slovak Transatlantic Awards erinnert sie sich daran, „wie mich Joe Biden am Tag des großangelegten russischen Einmarsches in die Ukraine per Videocall in Brüssel anrief. Wir waren uns sofort einig, wie unsere Antwort auf Putins Krieg aussehen musste. Einmal mehr standen Europa und Amerika Seite an Seite und auf der richtigen Seite der Geschichte.“
Auch schon bei der Pressekonferenz im Anschluss an die Tagung des Europäischen Rates vom 27. Juni 2024, bei der die strategische Agenda für 2024 bis 2029 angenommen und damit die politischen Prioritäten der 27 Staats- und Regierungschefs der EU für die nächsten Jahre festlegt wurden, stellte von der Leyen fest: „Die Reaktion auf die vor uns liegenden Herausforderungen ist in der Strategischen Agenda sehr klar definiert: Ausbau der europäischen Verteidigung, von den Ausgaben bis hin zur Interoperabilität, aber auch ein sehr klarer Blick auf die aktuellen Klimabedrohungen, mit dem Ziel, der erste klimaneutrale Kontinent zu werden und gleichzeitig die Wettbewerbsfähigkeit unserer sozialen Marktwirtschaften zu stärken – ein starker Schwerpunkt liegt auf dem Thema Wettbewerbsfähigkeit – und natürlich die Weiterführung unseres grünen und digitalen Wandels und des Ausbaus der europäischen Produktionskapazitäten für saubere Technologien. Daher enthält die Strategische Agenda ein breites Themenspektrum und leistet so einen wichtigen Beitrag zu den politischen Leitlinien für die Kommission.“
"Desinformation und Hetze"
Man kann sich in den kommenden fünf Jahren also auf einiges gefasst machen. Der Text der strategischen Agenda umfasst nur acht Seiten, enthält jedoch durchaus irritierende Aussagen. Zunächst wird in der Agenda auf das gemeinsam Erreichte eingeschworen: „Gemeinsam haben wir zentrale Ziele für die Bekämpfung des Klimawandels festgelegt und einen ehrgeizigen Rahmen für den digitalen Wandel vorgegeben. Gemeinsam haben wir Impfstoffe entwickelt und in ganz Europa und darüber hinaus verteilt und als Reaktion auf eine Pandemie, die unsere Gesellschaften auf unvorhersehbare Weise getroffen hat, einen umfangreichen Aufbaufonds eingerichtet. Gemeinsam haben wir unsere Volkswirtschaften während der Energiekrise geschützt. Und gemeinsam haben wir der Ukraine erhebliche militärische und wirtschaftliche Unterstützung geleistet, damit sie sich gegen Russlands Angriffskrieg verteidigen kann und die europäische Sicherheit geschützt wird. Aber wir werden es nicht dabei belassen. Wir werden dem Aufruf der Gründerväter der Union gerecht werden und dafür sorgen, dass die Kreativität unserer Reaktionen dem Umfang der Herausforderungen entspricht, vor denen wir stehen.“
Doch dann fallen zwei aufschlussreiche Sätze: „Wir werden unsere demokratische Resilienz stärken, unter anderem durch eine verstärkte Bürgerbeteiligung, den Schutz der Freiheit und des Pluralismus der Medien und der Zivilgesellschaft, die Bekämpfung ausländischer Einflussnahme und die Abwehr von Destabilisierungsversuchen, auch durch Desinformation und Hetze. Wir werden den demokratischen Diskurs stärken und dafür sorgen, dass Technologieriesen ihrer Verantwortung für den Schutz des demokratischen Dialogs im Internet gerecht werden.“ Das klingt nach verstärkten Zensur-Bestrebungen etwa durch den Digital Services Act, mit dem die EU direkten Einfluss auf Internet-Plattformen wie Google und Facebook nehmen kann und auf den sich auch EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton unlängst bezog, als er Elon Musk wegen dessen Interview mit Donald Trump Repressalien androhte.
Außerdem wird in der strategischen Agenda der Wille zum Ausbau der europäischen Verteidigungsindustrie und der Interoperabilität zwischen den europäischen Streitkräften bekräftigt, wobei der Zugang zu öffentlichen und privaten Finanzmitteln erleichtert und die Rolle der Europäischen Investitionsbank gestärkt werden müsse. Die EU werde ihre Krisenpräventionskapazitäten „im Rahmen eines alle Gefahren und die gesamte Gesellschaft umfassenden Ansatzes“ verbessern, um die Bürger vor verschiedenen Krisen – einschließlich Naturkatastrophen und gesundheitliche Notlagen – zu schützen. Dazu soll auch die Vollendung der Kapitalmarktunion und der Bankenunion beschleunigt werden, wobei die zentrale Rolle der WTO nachdrücklich gefördert werden soll. In allen „sensiblen Sektoren und Schlüsseltechnologien der Zukunft“ werde die EU eigene Kapazitäten aufbauen, z.B. in den Bereichen Verteidigung, Raumfahrt, künstliche Intelligenz, Quantentechnologien, Halbleiter, 5G/6G, Gesundheit, Biotechnologie, Netto-Null-Technologien, Mobilität, Arzneimittel, Chemikalien und fortgeschrittene Werkstoffe. Es solle eine „echte Energieunion“ realisiert sowie „das ungenutzte Potenzial von Daten“ ausgeschöpft werden.
Salopp ausgedrückt: In der strategischen Agenda der EU für die kommenden fünf Jahre signalisieret der Europäische Rat vor allem, dass er es den Hightech-, Pharma- und Rüstungskonzernen recht machen will. Und im abschließenden Statement zeigt er sich unerschütterlich selbstbewusst: „Unser Schicksal liegt in unseren Händen. Wir haben die Talente, den Mut und die Vision, um unsere Zukunft erfolgreich zu gestalten. Diese Strategische Agenda ist unser gemeinsames Versprechen, uns vorbehaltlos in den Dienst unserer Bürgerinnen und Bürgern zu stellen und unser grundlegendes Ziel, Frieden und Wohlstand zu sichern, zu verwirklichen.“
In seinen Schlussfolgerungen vom 27. Juni bezieht der Rat übrigens noch zu weiteren Themen Stellung, wie etwa zum „Nahen Osten“. Hier hält er unermüdlich an der utopischen Fantasie einer „Zweistaatenlösung“ fest: „Die Europäische Union bekräftigt ihr unerschütterliches Eintreten für einen dauerhaften und tragfähigen Frieden im Einklang mit den einschlägigen Resolutionen des VN-Sicherheitsrates und auf der Grundlage der Zweistaatenlösung, bei der der Staat Israel und ein unabhängiger, demokratischer, zusammenhängender, souveräner und lebensfähiger Staat Palästina in Frieden, Sicherheit und gegenseitiger Anerkennung Seite an Seite leben.“ Und er betont, „dass die Dienste, die das UNRWA im Gazastreifen und in der gesamten Region bereitstellt, unerlässlich sind,“ und verurteilt „jeden Versuch, eine VN Organisation als terroristische Organisation darzustellen“.
Nun können Utopien und Fantasien teuer werden. Am 19. Juni schlug die EU-Kommission daher auch eine „Aufstockung der Mittel für die Prioritäten Europas“ und einen EU-Jahreshaushalt in Höhe von 199,7 Milliarden Euro für 2025 vor. Der Haushalt werde durch Auszahlungen in Höhe von schätzungsweise 72 Milliarden Euro im Rahmen von NextGenerationEU (NGEU), dem Corona-Wiederaufbaufonds, ergänzt. Im Entwurf des Haushaltsplans 2025 sind vor allem die Förderung „des grünen und des digitalen Wandels“ sowie die Schaffung von Arbeitsplätzen bei gleichzeitiger Stärkung der „strategischen Autonomie“ und der „globalen Rolle Europas“ vorgesehen. Syrische Flüchtlinge in der Türkei und in der gesamten Region, die „südliche Nachbarschaft“ und die Länder des Westbalkans sollen auch weiterhin Unterstützung erhalten. Ein besonderes Anliegen sei es, der Ukraine fest einplanbare Unterstützung zu bieten. Außerdem soll ein neuer „Kaskadenmechanismus“ eingerichtet werden, um die zusätzlichen Kosten für die Zinszahlungen im Zusammenhang mit NGEU zu decken, was durch eine Umschichtung von Haushaltsmitteln erreicht werden soll. Der Haushaltsplan für 2025 muss von der Haushaltsbehörde vor Jahresende noch förmlich angenommen werden. Der endgültige Erlass des Jahreshaushaltsplans der Europäischen Union für das Haushaltsjahr 2024 umfasste übrigens 2.087 Seiten.
Ebenfalls am 19. Juni stellte die EU-Kommission das Frühjahrspakets des „Europäischen Semesters 2024“ vor. Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni sprach von einem neuen Zyklus der EU-Wirtschafts- und Haushaltspolitik: „Dies ist keine ‚Rückkehr zur Normalität‘, da wir nicht in normalen Zeiten leben und definitiv keine ‚Rückkehr zur Sparpolitik‘, denn dies wäre ein schrecklicher Fehler. Wir konzentrieren uns heute auf drei Bereiche: Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit, verstärkte Umsetzung der nationalen Aufbau- und Resilienzpläne und erste Schritte bei der Anwendung unserer neuen wirtschaftspolitischen Steuerung.“ Notwendig seien sowohl fiskalische Vorsicht als auch enorme Investitionen. Das „Europäische Semester“ ist der Rahmen für die Koordinierung der Wirtschafts-, Haushalts-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik in der Europäischen Union. Dabei werden auch länderspezifische Empfehlungen gegeben, die auf den Länderberichten der EU-Kommission basieren. Der 81 Seiten umfassende Bericht für Deutschland beginnt mit dem Satz: „Nach einer Rezession im Jahr 2023 bleiben die Wachstumsaussichten in Deutschland schwach.“
"Kapitalmarktunion unbedingt beschleunigen"
Im Jahr 2023 sei das BIP in Deutschland um 0,2 Prozent geschrumpft, und in den Jahren 2024 und 2025 werde für Deutschland das geringste BIP-Wachstum im Euroraum erwartet. In ihrer „Empfehlung für eine Empfehlung des Rates zur Wirtschafts-, Sozial-, Beschäftigungs-, Struktur- und Haushaltspolitik Deutschlands“ rät die EU-Kommission der deutschen Regierung nun besonders dazu, mehr für zusätzliche private und öffentliche Investitionen zu tun. Auch die am 12. Juli veröffentlichten Daten des Statistischen Bundesamts zeigen, dass die Zahl der Unternehmen, die im April und Mai dieses Jahres in Deutschland Insolvenz angemeldet haben, stark angestiegen ist, nämlich um etwa 30 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Im Ranking der globalen Wettbewerbsfähigkeit ist Deutschland auf Platz 24 abgerutscht. Nach dem Treffen der 20 Mitglieder umfassenden Eurogruppe in Brüssel am 15. Juli wiesen jedoch die Finanzminister in einer gemeinsamen Stellungnahme darauf hin, dass die Staaten der Eurozone ihre Netto-Staatsausgaben im kommenden Jahr wahrscheinlich stärker kürzen müssten als bisher angenommen. Paschal Donohoe, Präsident der Euro-Gruppe, bestätigte: „Für die Zukunft braucht es eine schrittweise und nachhaltige Haushaltskonsolidierung im Euro-Währungsgebiet.“ Und er fügte hinzu: „Die Schließung der Finanzierungslücke für den Investitionsbedarf der EU ist eine echte Herausforderung. Wir müssen alle unsere Bemühungen im Hinblick auf die Kapitalmarktunion unbedingt beschleunigen.“
Ebenfalls beschleunigen will die EU ihren digitalen Wandel. In ihrem bislang zweiten „Bericht über den Stand der digitalen Dekade“, den sie am 2. Juli vorlegte, stellt sie u.a. fest, dass es heute erst in 50 Prozent des EU-Gebiets hochwertige 5G-Netze gibt, die für die Einführung modernster Technologien wie etwa des Internets der Dinge (IoT) nötig seien. Das Internet der Dinge beinhaltet jedoch beispielweise auch die biometrische Gesichtserkennung im öffentlichen Raum und die Realisierung sogenannter Smart Cities, wodurch Strukturen für die Etablierung eines Überwachungsstaats geschaffen werden könnten (achgut berichtete). Es geht also nicht nur um die bessere Effizienz von Behörden, für die Digitalisierung tatsächlich sinnvoll ist. Immerhin seien laut Bericht Fortschritte bei der Verwirklichung des Ziels zu verzeichnen, alle wichtigen öffentlichen Dienste und elektronische Patientenakten für Bürger wie auch für Unternehmen online zugänglich zu machen und ihnen einen „sicheren digitalen Identitätsnachweis“ (eID) zu ermöglichen. Die eID stehe derzeit 93 Prozent der EU-Bevölkerung zur Verfügung, und die EUid-Brieftasche dürfte neue Anreize für ihre Nutzung bieten. Die Problematik einer umfassenden digitalen Brieftasche etwa hinsichtlich des Schutzes von sensiblen Daten scheint für die EU-Kommission eher nebensächlich zu sein.
Auch hier hat die EU-Kommission einen Länderbericht für Deutschland erstellt, in dem sie lobend feststellt, dass Deutschland kurz davor stehe, die volle 5G-Abdeckung der Haushalte zu erreichen. Bei den Breitband-Endkundenanschlüsse und der Glasfaser-Versorgung liege Deutschland jedoch deutlich unter dem EU-Durchschnitt. Deutschland müsse auch das Tempo der Digitalisierung öffentlicher Dienstleistungen beschleunigen. 44 Prozent der Deutschen sorgten sich allerdings mittlerweile um die Kontrolle über personenbezogene Daten. Dieses Ergebnis unterstreiche die Notwendigkeit, die digitalen Rechte auf nationaler Ebene zu stärken. 57 Prozent der Deutschen schätzten die Meinungsfreiheit im Internet, was jedoch unter dem EU-Durchschnitt liege. Insgesamt müsse Deutschland seine Leistung im Hinblick auf die Ziele der digitalen Dekade verbessern, um Wettbewerbsfähigkeit, Resilienz, Souveränität und europäische Werte und Klimaschutz zu fördern.
Am 28. Juni hatte die EU-Kommision bereits mitgeteilt, dass sie den geänderten Aufbau- und Resilienzplan Deutschlands in Höhe von über 30 Milliarden Euro billige. Deutschland könne im Rahmen des Plans nun insgesamt über 30,3 Milliarden Euro Finanzhilfen abrufen. 47,5 Prozent der verfügbaren Mittel sind für digitale Maßnahmen vorgesehen, 49,5 Prozent der Mittel sollen für Maßnahmen zur Unterstützung der Klimaziele eingesetzt werden. Im Mittelpunkt der geförderten Maßnahmen stehen die Erhöhung des Anteils erneuerbarer Energien am deutschen Energiemix durch Beschleunigung von Planungsverfahren, die Dekarbonisierung des Straßengüterverkehrs und die Unterstützung energieeffizienter Renovierungen von Wohngebäuden. Auch der Ausbau von Windenergieanlagen soll beschleunigt werden. Allerdings war Deutschland wie fast alle EU-Mitgliedstaaten im Verzug mit der Einreichung seiner nationalen Energie- und Klimapläne bis 2030 (NECPs). Stichtag dafür war der 30. Juni, doch nur die Niederlande, Schweden, Finnland und Dänemark legten fristgerecht ihre Pläne vor.
Schutz für die Dithmarscher Gans
Nicht zuletzt nahm die EU vor der Sommerpause, nämlich am 25. Juni, offiziell die Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine und der Republik Moldau auf und kündigte am 12. Juli den Ukraine-Compact an, in dem sie u.a. zusichert, „die unmittelbaren Verteidigungs- und Sicherheitsbedürfnisse der Ukraine zu unterstützen, auch durch die fortgesetzte Bereitstellung von Sicherheitsunterstützung und -ausbildung, modernes militärisches Gerät und die Unterstützung der Rüstungsindustrie“.
Und sonst noch? Die scheidende rührige EU-Kommission ließ kaum ein Thema aus. Am 21. Juni rief die Kommission eine Europäische Solarakademie ins Leben, deren Ziel es ist, in den nächsten drei Jahren 100.000 Arbeitskräfte in der Photovoltaik-Wertschöpfungskette auszubilden. Am selben Tag genehmigte sie eine mit drei Milliarden Euro ausgestattete deutsche Beihilferegelung für die Errichtung eines Wasserstoff-Kernnetzes. Ende Juni unternahm die EU den letzten Schritt, um aus dem Energiecharta-Vertrag (ECV) auszutreten: Das multilaterale Handels- und Investitionsabkommen für den Energiesektor sei nicht mit den Klima- und Energiezielen der EU im Rahmen des Europäischen Grünen Deals und des Übereinkommens von Paris vereinbar. Am 24. Juni begrüßte die Kommission die Annahme des insgesamt 14. Sanktionspakets gegen Russland.
Auf der Investitionskonferenz EU-Ägypten, die am 29. und 30. Juni von der EU und der ägyptischen Regierung gemeinsam veranstaltet wurde, warben die EU und Ägypten mit vereinten Kräften um mehr Investitionen des Privatsektors in Ägypten. Darüber hinaus unterzeichneten sie eine Vereinbarung über die Auszahlung einer Makrofinanzhilfe von bis zu einer Milliarde Euro an Ägypten. Am 3. Juli begrüßte Ursula von der Leyen zusammen mit Premierminister Trudeau die Assoziierung Kanadas mit „Horizont Europa“, dem Rahmenprogramm der Europäischen Union für Forschung und Innovation. Sie stelle einen wichtigen Meilenstein in der langjährigen strategischen Partnerschaft zwischen der Europäischen Union und Kanada dar.
Am 17. Juli teilte die Kommission mit, dass sie 134 Verkehrsprojekte ausgewählt hat, die EU-Finanzhilfen in Höhe von über sieben Milliarden Euro aus der Fazilität „Connecting Europe“ (CEF), dem EU-Instrument für strategische Investitionen in die Infrastruktur, erhalten. Mit dieser Rekordsumme will sie eine nachhaltige, sichere und intelligente Verkehrsinfrastruktur fördern. Am 19. Juli vereinbarte sie mit der Palästinensischen Behörde eine finanzielle Soforthilfe und Grundsätze für ein Erholungs- und Resilienzprogramm. Und am 26. Juli stellte sie eine erste Übertragung von 1,5 Milliarden Euro an Einnahmen aus immobilisierten russischen Vermögenswerten zur Unterstützung der Ukraine bereit. Am 29. Juli genehmigte die Kommission eine mit 80 Millionen Euro ausgestattete niederländische Beihilfe zur Förderung einer innovativen Technologie zur Erzeugung von erneuerbarem Wasserstoff. Am 31. Juli stimmte sie der Aufnahme der „Dithmarscher Gans“ aus Schleswig-Holstein in das Register der geschützten geografischen Angaben (g.g.A.) zu.
Neue Richtlinie über Industrieemissionen
Am 1. August trat die europäische Verordnung über künstliche Intelligenz (KI-Verordnung) als weltweit erste umfassende Rechtsvorschrift im Bereich der künstlichen Intelligenz in Kraft (achgut berichtete). Ebenfalls am 1. August genehmigtedie Kommission die Übernahme von Juniper Networks, Inc. („Juniper“) durch Hewlett Packard Enterprise Company („HPE“) nach der EU-Fusionskontrollverordnung ohne Auflagen. Nach Prüfung des Vorhabens war sie zu dem Schluss gelangt, dass die Übernahme keine wettbewerbsrechtlichen Bedenken im Europäischen Wirtschaftsraum („EWR“) aufwirft. HPE ist ein Anbieter von IT-Infrastruktur, zugehöriger Software und Cloud-Lösungen. Juniper bietet Netzwerk-, Infrastruktur- und Sicherheitslösungen an. Mehrfach leitete die Kommission Vertragsverletzungsverfahren gegen Mitgliedstaaten ein, die nicht mitgeteilt haben, welche Maßnahmen sie zur Umsetzung von EU-Richtlinien in nationales Recht ergriffen haben, und erstellte auch einen Jahresbericht über die Kontrolle der Anwendung des EU-Rechts.
Am 4. August trat die überarbeitete Richtlinie über Industrieemissionen in Kraft. Die Mitgliedstaaten haben bis zum 1. Juli 2026 Zeit, ihre nationalen Rechtsvorschriften an die überarbeitete Richtlinie anzupassen. Die ersten Daten werden im Jahr 2028 an das neue Portal für Industrieemissionen gemeldet. Davon betroffen sind allerdings nicht nur Industriebetriebe, sondern auch kleinere landwirtschaftliche Betriebe. Am 5. August verkündete die Kommission, dass sich TikTok zur dauerhaften Einstellung des Programms „TikTok Lite Rewards“ in der EU verpflichtet habe, um das Gesetz über digitale Dienste einzuhalten. Am 7. August rief die Vertretung der Europäischen Kommission in Deutschland den Ideenwettbewerb „Europas grüne Zukunft gestalten“ für Schulen aus. Am 13. August genehmigte die EU-Kommission eine staatliche Beihilfe Rumäniens von 99,5 Millionen Euro für eine neue Reifenfabrik ohne CO2-Emissionen.
Am 14. August teilte die Kommission mit, dass sie die Beschaffung und Spende von 215.000 Impfstoffdosen von Bavarian Nordic koordiniert, um das Afrikanische Zentrum für die Kontrolle und Prävention von Krankheiten (Africa CDC) bei der Bekämpfung des Mpox-Ausbruchs in den betroffenen afrikanischen Ländern zu unterstützen. Am 18. August trat das Gesetz zur Wiederherstellung der Natur in Kraft (achgut berichtete). Am 20. August unterrichtete die Kommission interessierte Parteien über die endgültigen Ergebnisse ihrer Antisubventionsuntersuchung zu Einfuhren von Elektroautos aus China. Am selben Tag genehmigte sie eine fünf Milliarden Euro schwere deutsche Maßnahme zur Unterstützung der European Semiconductor Manufacturing Company (ESMC) beim Bau und Betrieb eines Mikrochip-Werks in Dresden nach den EU-Beihilfevorschriften. Und am 26. August hat die EU-Kommission ihren Vorschlag für die Fangmöglichkeiten in der Ostsee für 2025 angenommen. Dieser beruht auf einer wissenschaftlichen Bewertung, derzufolge sich mehrere Fischbestände in einem schlechten Zustand befinden, und regelt die zulässigen Gesamtfangmengen (TACs).
Diese Übersicht erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Letztlich gibt es nichts, um das sich die EU-Kommission nicht kümmert. Doch bevor die Kommission weitermachen kann, muss Ursula zuerst ihr Männerproblem lösen.
Martina Binnig lebt in Köln und arbeitet u.a. als Musikwissenschaftlerin (Historische Musikwissenschaft). Außerdem ist sie als freie Journalistin tätig.